OGH 15Os118/02 (15Os119/02)

OGH15Os118/02 (15Os119/02)10.10.2002

Der Oberste Gerichtshof hat am 10. Oktober 2002 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Markel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Strieder, Dr. Schmucker, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Teffer als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Ilia I***** und weitere Angeklagte wegen der teilweise im Stadium des Versuchs (§ 15 StGB) verbliebenen Verbrechen nach § 28 Abs 2 zweiter, dritter und vierter Fall, Abs 3 erster Fall und Abs 4 Z 3 SMG sowie einer anderen strafbaren Handlung, AZ 8 Hv 1153/01z des Landesgerichtes für Strafsachen Graz, über die vom Generalprokurator gegen die Beschlüsse

1. des Vorsitzenden des Schöffengerichtes vom 4. Juni 2002, GZ 8 Hv 1153/01z-240, und 2. des Oberlandesgerichtes Graz als Beschwerdegericht vom 27. Juni 2002, AZ 11 Bs 258/02 (= ON 245 des Hv-Aktes), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Raunig, und des Angeklagten I*****, jedoch in Abwesenheit seiner Verteidigerin Dr. Lanschützer, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 1. August 2001, GZ 8 Vr 731/00-212, wurde (u.a.) der seit 15. März 2000 in Untersuchungshaft angehaltene Angeklagte Ilia I***** der teilweise im Stadium des Versuchs (§ 15 StGB) verbliebenen Verbrechen nach § 28 Abs 2 zweiter, dritter und vierter Fall, Abs 3 erster Fall und Abs 4 Z 3 SMG schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. In teilweiser Stattgebung seiner dagegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde hob der Oberster Gerichtshof mit Urteil vom 23. Mai 2002, GZ 15 Os 30/02-11 (= ON 252 des Hv-Aktes), das angefochtene Urteil in der rechtlichen Unterstellung der im Schuldspruch festgestellten Tatsachen auch unter die Bestimmung des § 28 Abs 3 erster Fall SMG, demnach auch im Strafausspruch sowie den Beschluss über den Widerruf gemäß § 494 Abs 1 Z 4 StPO auf und verwies die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht, wovon der Vorsitzende des Schöffengerichtes gemäß § 296a StPO noch am selben Tag verständigt wurde (ON 238).

Am 4. Juni 2002 beschloss der Vorsitzende des im ersten Rechtsgang erkennenden Schöffengerichtes - zufolge eines am 7. Mai 2002 eingebrachten Enthaftungsantrages (ON 235) - nach Durchführung einer Haftverhandlung, die über I***** verhängte Untersuchungshaft aus den Gründen des § 180 Abs 2 Z 1 und Z 3 lit b StPO fortzusetzen (ON 240 iVm ON 239). Seiner dagegen erhobenen Beschwerde, in der welcher weder der Tatverdacht bestritten, noch die Entscheidungstätigkeit des (vorbefassten) Vorsitzenden gerügt wurde, gab das Oberlandesgericht Graz mit Beschluss vom 27. Juni 2002, AZ 11 Bs 258/02 (= ON 245 des Hv-Aktes), nicht Folge und ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den Gründen der Flucht - und Tatbegehungsgefahr (§ 180 Abs 2 Z 1 und Z 3 lit a StPO) an.

Gegen die bezeichneten Beschlüsse des Vorsitzenden des Schöffengerichtes des Landesgerichtes für Strafsachen Graz und des Oberlandesgerichtes Graz als Beschwerdegericht erhob der Generalprokurator gemäß § 33 Abs 2 StPO Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes mit der wesentlichen Begründung:

"Muss eine Hauptverhandlung infolge einer (erfolgreichen) Berufung oder Nichtigkeitsbeschwerde wiederholt werden, sind gemäß § 68 Abs 2 StPO von der neuen Hauptverhandlung die Richter ausgeschlossen, die an der ersten Hauptverhandlung teilgenommen haben.

Hinsichtlich der Reichweite dieser Ausgeschlossenheit ist diese Bestimmung über ihren Wortlaut hinaus dahin zu verstehen, dass ein im ersten Rechtsgang tätig gewesener Richter in dem selben Verfahren grundsätzlich (§ 71 Abs 1 StPO) von jeder weiteren richterlichen Tätigkeit schlechthin ausgeschlossen ist. Soll nach der ratio legis doch der nicht nur bei einer abermaligen Mitwirkung an der zu wiederholenden Hauptverhandlung aktuelle Anschein einer Voreingenommenheit eines mit der früheren Entscheidung über die Schuldfrage befasst gewesen ersten Richters vermieden werden. Die Ausgeschlossenheit tritt deshalb bereits mit der keinem Rechtszug mehr unterliegenden Anordnung der Verfahrenserneuerung in erster Instanz durch das Rechtsmittelgericht ein und hat zur Folge, dass bei einer Zurückverweisung einer Sache an dasselbe Gericht die (gerichtsinterne) Zuständigkeit des ersten Richters auf einen anderen, nicht ausgeschlossenen Richter übergehen muss (vgl hiezu EvBl 1989/10).

Demnach war im vorliegenden Fall der Vorsitzende des Schöffensenats im ersten Rechtsgang nicht mehr der gemäß § 181 Abs 3 StPO zur Entscheidung über die Haftfrage zuständige "Vorsitzende", sondern vielmehr auch von der Mitwirkung am Haftprüfungsverfahren ausgeschlossen.

Das Oberlandesgericht Graz hätte die Ausgeschlossenheit des seinerzeitigen Vorsitzenden ungeachtet unterbliebener Bemängelung durch den Beschwerdeführer bei umfassender Überprüfung des angefochtenen Beschlusses (§ 114 Abs 4 StPO) wahrzunehmen gehabt. Die Beschwerde nach der Strafprozessordnung ist nämlich ein formloses Rechtsmittel. Sie muss keine Begründung und keine Anträge enthalten. Sie muss nur erkennen lassen, gegen welche Entscheidung oder Unterlassung (vgl § 113 StPO) sie sich richtet. Weil eben die Beschwerde keine Begründung und keine Anträge enthalten muss, überprüft die Rechtsmittelinstanz die angefochtene Entscheidung in jede Richtung und ohne Beschränkung auf allfällige Anträge, freilich unter Wahrung des Verschlechterungsverbotes (Venier, AnwBl 2001, 524, Bertel/Venier, Strafprozessrecht6 Rz 995 ff). Somit wäre das Beschwerdegericht zur umfassenden amtswegigen Überprüfung des angefochtenen Beschlusses, allenfalls nach Einholung von Aufklärungen und Anordnungen ergänzender Erhebungen, verpflichtet gewesen (LSK 1996/277).

Da die Haftfrage im Beschwerdeverfahren einer eingehenden Überprüfung unterzogen worden und der Beschwerdeführer überdies jederzeit zur Erneuerung seines Enthaftungsbegehrens berechtigt ist, erscheint einer Erneuerung des über seinen gegenständlichen Enthaftungsantrag abgeführten Verfahrens (§ 292 StPO) nicht geboten, sondern kann es mit der Feststellung der gegenständlichen Gesetzesverletzungen sein Bewenden haben."

Rechtliche Beurteilung

Dazu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

§§ 67 und 68 StPO enthalten nach ständiger Rechtsprechung taxativ aufgezählte, keine erweiternde Interpretation zulassende Ausschließungsgründe eines Richters (vgl Mayerhofer StPO4 § 68 E 1 und die bis zu EvBl 1989/10 einhellige Judikatur, zuletzt auch EvBl 2000/145). Während die §§ 67 und 68 Abs 1 StPO den Richter unter den dort genannten Voraussetzungen von der Vornahme gerichtlicher Handlungen und von der Wirksamkeit als Richter überhaupt ausschließen, statuiert § 68 Abs 2 StPO Ausschließungsgründe eines in verschiedenen Verfahrensstadien vorbefassten Richters von der Mitwirkung und Entscheidung in der Hauptverhandlung. Abs 3 bis 5 leg. cit beziehen sich ebenso wie § 69 StPO wieder auf andere Verfahrensstadien.

Auf den hier zu beurteilenden Fall angewendet, normiert § 68 Abs 2 Satz zwei StPO: Muss eine Hauptverhandlung (ua) infolge einer Nichtigkeitsbeschwerde wiederholt werden, so sind von der neuen Hauptverhandlung (und Entscheidung) - nach ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung also nur von dieser - jene Richter ausgeschlossen, welche an der ersten teilgenommen haben. Die in Abkehrung von der bis dahin bestehenden Rechtsprechung (bloß in einer Zusammensetzung gemäß § 6 Abs 1 OGHG und nicht nach § 8 Abs 1 OGHG) gefällte Entscheidung EvBl 1989/10, auf welche sich die Beschwerde beruft, führt zur Begründung einer - trotz ausdrücklich anderslautender gesetzlicher Anordnung - angenommenen erweiterten Geltung dieser Gesetzesstelle an, dass nach dem Sinn des Gesetzes der "gewiss nicht nur bei abermaliger Mitwirkung und Entscheidung an der zu wiederholenden Hauptverhandlung aktuelle Anschein einer Voreingenommenheit des vom Rechtsmittelgericht in der Schuldfrage des desavouierten ersten Richters vermieden werden soll". Eine weitere dogmatische Begründung findet sich dazu nicht. Die daran anschließende Argumentation, dass eine Ausschließung des Richters bereits mit der Anordnung der Verfahrenserneuerung eintritt, übersieht nicht nur die durch §§ 70 und 74 StPO, § 22 GOG angeordnete gerichtliche Entscheidung zur Feststellung der Ausschließung, sondern vor allem die vom Gesetz ausdrücklich normierte Einschränkung des Ausschlusses eines Richters in solchen Fällen nur auf die Teilnahme an der Hauptverhandlung und neuerlichen Entscheidung. Diese Ausführungen beziehen sich in Wahrheit insoweit auf einen allfälligen Übergang der Zuständigkeit auf einen anderen Richter im Falle der Urteilskassierung (nochmals EvBl 2000/145).

Dieser Kompetenzübergang ist jedoch von der Frage der Ausschließung zu trennen und vermag dogmatisch die angenommene Erweiterung der Ausschließungsgründe nicht zu tragen. Insofern ist für den Beschwerdestandpunkt auch aus § 71 Abs 1 StPO nichts zu gewinnen, wonach sich jede Gerichtsperson von dem Zeitpunkt, in dem ihr ein Ausschließungsgrund bekanntgeworden ist, bei sonstiger Nichtigkeit dieser Akte aller gerichtlichen Handlungen zu enthalten hat. Bezieht sich doch vorliegend die Ausschließung explizit auf ihren vom Gesetz begrenzten Umfang, der sich im konkreten Fall eben nur auf die Hauptverhandlung und Entscheidung im erneuerten Verfahren erstreckt (§ 68 Abs 2 Satz zwei StPO).

Mangelnde Unparteilichkeit des Vorsitzenden des Schöffengerichtes in der Bedeutung einer Befangenheit bei seiner Entscheidung über die Untersuchungshaft, also im Sinne des Anscheins des Abgehens seiner vollen Unbefangenheit, wurde zur Haftbeschwerde des Angeklagten nicht geltend gemacht. Auf die erst in einer gemäß § 35 Abs 2 StPO zur Wahrungsbeschwerde erstatteten Äußerung hiezu vorgebrachten Einwände kann daher keine Rücksicht genommen werden. Die Prüfung der bloßen Verdachtslage als (neben dem Vorliegen von Haftgründen) lediglich prozessrechtliche Voraussetzung zur Beurteilung der Anhaltung in Untersuchungshaft nach Mitwirkung an einer vorangegangenen, vom Rechtsmittelgericht jedoch beseitigten Schuldentscheidung vermag vor allem angesichts des Umstandes, dass die Haftbeschwerde weder den Tatverdacht relevierte noch dass sich der Richter bei seiner Entscheidung darüber mit diesem befasste, bei gebotener verfassungsorientierter Auslegung auch im Lichte des Art 6 Abs 1 EMRK eine Erweiterung der Ausschließungsgründe über die vom Gesetz taxativ normierten nicht zu tragen. Denn es lag in der Hand der Verfahrensparteien, allfällige subjektive Momente zur Annahme einer Unparteilichkeit des Entscheidungsorgans geltend zu machen (vgl insgesamt wiederum EvBl 2000/145 und die dort zu diesem Problem herangezogene Judikatur und Literatur).

Wie bereits dargestellt, ist nach den Umständen des gegebenen Falles zwischen Vorliegen von Ausschlussgründen und von mangelnder Zuständigkeit des Vorsitzenden nach Kompetenzübergang infolge Urteilskassierung (je nach der Regelung der Geschäftsverteilung des Erstgerichtes etwa auf dessen Vertreter oder möglicherweise auch im Sinne einer Behandlung der Strafsache wie eine neu angefallene unter Übergehen des von der Ausschließung Betroffenen; vgl § 70 Abs 1 StPO) zu unterscheiden. Aber auch ein allenfalls durch die Geschäftsverteilung angeordneter gerichtsinterner Kompetenzübergang für den Fall der Ausschließung des bisher zuständig gewesenen Richters kann nur für jene Verfahrensstadien eintreten, für welche dieser kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung ausgeschlossen ist.

Da somit die Entscheidung in der Haftfrage nach Kassierung eines Urteils vor der Durchführung einer neuen Hauptverhandlung nicht von den im Gesetz erschöpfend definierten Ausschließungsgründen erfasst wird, ist eine Verletzung gesetzlicher Bestimmungen, wie sie vom Generalprokurator in seiner Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes geltend gemacht werden, nicht eingetreten, weshalb die Beschwerde zu verwerfen war.

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