Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Der Kläger arbeitete in der Zeit vom 31. 3. 1981 bis 24. 3. 1999 bei einer Spedition als LKW-Fahrer. Das Arbeitsverhältnis endete durch wegen Lohnrückständen erklärten vorzeitigen Austritt des Klägers. Am 26. 3. 1999 machte der Kläger seine offenen Gehaltsansprüche beim Arbeits- und Sozialgericht mit Klage geltend. Über das Vermögen des Speditionsunternehmens wurde am 1. 6. 1999 der Konkurs eröffnet. In diesem meldete der Kläger Forderungen in Höhe von ATS 506.766,93 und ATS 86.070,99 an, welche vom Masseverwalter anerkannt wurden. Das Speditionsunternehmen hatte ca 10 bis 15 Mitarbeiter. Bereits in den frühen Neunzigerjahren kam es bei allen Mitarbeitern zu unregelmäßigen Lohnauszahlungen. Der Kläger hatte mit dem Geschäftsführer eine Vereinbarung getroffen, dass er vorerst mit der Leistung von Akontozahlungen zufrieden sei, das Unternehmen jedoch nach Möglichkeit allfällige Lohnrückstände wieder abbauen werde. Dazu kam es auch im Jahr 1997, in dem Löhne fallweise doppelt ausbezahlt wurden.
Für den Kläger, der keine Sorgepflichten hatte und zum damaligen Zeitpunkt bei seiner Lebensgefährtin wohnte, bedeuteten die unregelmäßigen Zahlungen kein Problem, weil er abgesehen von den Fixkosten für seine eigene Wohnung nur ca ATS 10.000 für den Lebensunterhalt benötigte. Bei unregelmäßigen Lohnzahlungen durch das Speditionsunternehmen war zwischen dem Kläger und seiner Lebensgefährtin, einer Bankangestellten, vereinbart, dass diese Beträge von den Sparbüchern des Klägers auf sein Girokonto einzahlte, um das Auflaufen von Überziehungszinsen zu vermeiden. Wegen der unregelmäßigen Lohnzahlungen kam es zu Auseinandersetzungen mit der Lebensgefährtin, die den Kläger auch aufforderte, die Arbeiterkammer aufzusuchen und seinen vorzeitigen Austritt zu erklären. Auch nachdem der Geschäftsführer ein in seinem Eigentum stehendes Haus im Jahr 1998 um ATS 13 Mio verkauft hatte, kam es nicht zur Befriedigung der offenen Lohnansprüche, wie dies der Kläger erhofft hatte, weil Bankschulden zu tilgen waren. Der Kläger begnügte sich weiterhin mit Akontozahlungen auf den Lohn, weil er auf das Wirksamwerden von Strukturverbesserungsmaßnahmen im Unternehmen hoffte. Der Kläger urgierte durchschnittlich einmal monatlich seine ausständigen Gehälter, wobei der Geschäftsführer die Höhe der Rückstände nicht bestritt. Andere Arbeitnehmer kündigten teilweise selbst, teils wurden sie vom Geschäftsführer gekündigt. Wenn der Kläger seinen vorzeitigen Austritt androhte, erklärte ihm der Geschäftsführer, der Kläger würde seinen eigenen und auch fremde Arbeitsplätze gefährden, weil das Unternehmen möglicherweise in Konkurs gehen werde. Mit seiner am 22. 12. 1999 beim Erstgericht eingelangten Klage begehrte der Kläger das Entgelt für die Zeit vom 1. 12. 1997 bis 24. 3. 1999 zuzüglich Diäten, Sonderzahlungen, Abfertigung und Kündigungsentschädigung sowie Zinsen und Kosten im Gesamtbetrag von zuletzt (nach Einschränkungen infolge zweimaliger Ausschüttung der Ausgleichsquote) ATS 563.301,24 sA. In den Jahren 1995 und 1996 sei es im Unternehmen zu massiven Liquiditätsengpässen gekommen, doch habe sich die Situation im Jahr 1997 so weit verbessert, dass wieder regelmäßig Löhne, fallweise auch doppelt, ausgezahlt wurden. Auf Grund dieser Zahlungen habe der Kläger darauf vertraut, dass sein Dienstgeber aus eigenem in der Lage sei, die Entgeltrückstände in absehbarer Zeit abzubauen.
Die Beklagte wendete ein, dass es im Unternehmen seit ca sieben Jahren zu unregelmäßigen Lohnauszahlungen gekommen sei. Ein Fremdvergleich zeige, dass normalerweise ein Arbeitnehmer nicht über einen Zeitraum von sieben Jahren nur Teilzahlungen auf seine offenen Gehaltsforderungen akzeptiere und das Arbeitsverhältnis bei Lohnrückständen von mehr als 15 Monaten nicht weiter aufrecht erhalten hätte.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf die eingangs wiedergegebenen Feststellungen und führte zur rechtlichen Beurteilung aus, dass das Verhalten des Klägers einem Fremdvergleich nicht standhalte. Zwar seien die Gehaltsansprüche des Klägers nicht verfallen, weil sie der Dienstgeber nie bestritten habe, doch liege ein atypisch gestaltetes Arbeitsverhältnis vor, das insgesamt aus dem Schutzbereich des IESG falle.
Das Gericht zweiter Instanz bestätigte dieses Urteil und sprach aus, dass die Revision zulässig sei. Wie das Erstgericht zutreffend erkannt habe, handle es sich gegenständlich um ein atypisches Arbeitsverhältnis, weil ein Fremdvergleich ergebe, dass ein durchschnittlicher unbeteiligter Arbeitnehmer, der auf sein Entgelt angewiesen sei, es unter den gegebenen Voraussetzungen nicht geduldet hätte, über mehrere Jahre hindurch keinen bzw nicht den gesamten Lohn zu erhalten.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen erhobene Revision des Klägers ist berechtigt.
Der erkennende Senat hat sich in seiner Entscheidung 8 ObS 206/00b =
wbl 2001, 129 = ZIK 2001, 66 = RZ 2001, 123 = RdW 2001, 410 = DRdA
2001, 366 = ArbSlg 12.054 ausführlich mit der auch vom
Revisionswerber ins Treffen geführten Kritik von Ristic (ASoK 2000, 118) und Anzenberger (RdW 2000, 161) auseinandergesetzt und seine Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen ausdrücklich aufrecht erhalten, wonach von einer unzulässigen Überwälzung des Finanzierungsrisikos der Arbeitslöhne auf den Insolvenz-Ausfallgeld-Fonds auszugehen ist, wenn dem Arbeitnehmer bewusst sein muss, dass er die Gegenleistung für seine Arbeit nicht vom Arbeitgeber, sondern vom Fonds bekommen könnte. Diese Rechtsansicht wurde auch in dem denselben Arbeitgeber wie im hier zu entscheidenden Fall betreffenden Beschluss 8 ObS 39/01w fortgeschrieben.
Wenn ein Arbeitnehmer trotz längeren Vorenthaltens des Lohns im Unternehmen tätig bleibt und nicht versucht, sein Entgelt ernstlich einbringlich zu machen, so indiziert dies in der Regel, dass er zumindest in Kauf nimmt, in der Folge seine offenen Lohnansprüche gegen den Fonds geltend zu machen. Dieses Verhalten stellt eine unzulässige Verlagerung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds dar. Bei "durchschnittlichen Arbeitnehmern", die in keiner besonderen Nahebeziehung zum Arbeitgeber stehen, wird dieser Schluss üblicherweise nur aus deutlich über sechs Monaten liegenden Engeltrückständen gezogen werden können (8 ObS 206/00b). Dieser Betrachtungsweise steht - wie der erkennende Senat ebenfalls in seiner Entscheidung 8 ObS 206/00b ausführlich dargelegt hat - auch die Richtlinie 80/987/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht entgegen. Art 10 der Richtlinie hält den Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Vermeidung von Missbräuchen offen. Art 10 der Richtlinie erfasst auch ausdrücklich die Möglichkeit der Einschränkung der Zahlungspflicht für Fälle, in denen wegen des Bestehens einer besonderen Bindung zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer und gemeinsamer Interessen, die sich in einer Kollusion zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber ausdrücken, die Leistungen nicht gerechtfertigt sind. Das gemeinsame Interesse des Arbeitgebers - den nach § 69 KO im Falle seiner Zahlungsunfähigkeit bzw Überschuldung auch die Verpflichtung, einen Konkursantrag zu stellen, trifft - und des Arbeitnehmers an dem Fortbetrieb des Unternehmens trotz Zahlungsunfähigkeit ist schon darin zu sehen, dass dieses die Einkunftsquelle für beide darstellt. Die "Kollusion" liegt darin, dass der Arbeitnehmer wegen der Absicherung seiner Entgeltansprüche durch den Insolvenz-Ausfallgeld-Fonds den Arbeitgeber nicht durch die Geltendmachung seiner Ansprüche zu einer wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechenden Vorgangsweise verhält, sondern durch die Übertragung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds den Fortbetrieb und die Erhöhung der ungedeckten Entgeltansprüche ermöglicht. Für die Fälle der Übertragung des Finanzierungsrisikos im Sinne der bisherigen Judikatur ist daher eine Deckung in Art 10 der Richtlinie anzunehmen, weshalb sich der erkennende Senat auch im hier zu entscheidenden Fall - entgegen der Anregung des Revisionswerbers - nicht veranlasst sieht, eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen.
Der Revisionswerber vermag auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 3a Abs 1 IESG aufzuzeigen, wenn er ausführt, dass eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes darin zu sehen sei, dass schlecht informierte Dienstnehmer ihr Entgelt nicht zeitgerecht vor dem Insolvenzstichtag gerichtlich einfordern, weil der Kläger unbestrittenermaßen seine Ansprüche rechtzeitig im Sinn des § 3a Abs 1 IESG vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen seines Arbeitgebers gerichtlich geltend gemacht hat. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass infolge Eröffnung des Insolvenzverfahrens vor dem 1. 1. 2001 die Novelle des § 3a IESG durch BGBl I 142/2000 hier noch nicht anzuwenden ist (§ 17a Abs 23 IESG). Es kann daher dahingestellt bleiben, ob die hier für die Annahme eines Missbrauchs der Sicherungseinrichtung noch beachtliche zeitliche Komponente infolge der als abschließend anzusehenden Regelung dieser Novelle weiterhin zum Ausschluss des Sicherungsanspruchs führen kann (8 ObS 205/01g).
Im konkreten Fall wurde dem Kläger nach den Feststellungen auf Grund seiner Urgenzen vage ein Abbau des Gehaltsrückstands bei Verbesserung der Geschäftslage in Aussicht gestellt. Trotz des Verkaufs des Privathauses des Geschäftsführers kam es nicht zur Abdeckung der offenen Gehaltsforderungen des Klägers. Allerdings wurden nach dem Vorbringen des Klägers auch immer wieder Zahlungen geleistet, wobei fallweise die Löhne auch doppelt ausgezahlt wurden. Insgesamt sammelte sich dennoch ein Gehaltsrückstand in der Höhe von 15 Monatsentgelten an.
Aus der Höhe dieser Rückstände allein kann jedoch nicht auf eine zweckwidrige Verlagerung des Insolvenzrisikos geschlossen werden, weil für einen Entfall des Schutzes nach dem IESG bedingter Vorsatz hinsichtlich der Verlagerung des Finanzierungsrisikos erforderlich ist. Zur Beurteilung, ob durch das lange Stehenlassen der Entgelte der zumindest bedingte Vorsatz indiziert ist, zieht der Oberste Gerichtshof einen "Fremdvergleich" heran und stellt dabei darauf ab, bis zu welchem Zeitpunkt auch ein "unbeteiligter" Arbeitnehmer im Unternehmen verblieben wäre. In Fortführung dieser Rechtsprechung hat der erkennende Senat wiederholt ausgesprochen, dass "völlig atypisch gestaltete" Arbeitsverhältnisse, die nicht auf die Erzielung von Entgelt für die Bestreitung des Lebensunterhalts gerichtet sind, nach den Bestimmungen des IESG nicht gesichert sind. Zumindest für die Zeit bis zum Wirksamwerden der Novelle BGBl I 142/2000 ist weiters darauf zu verweisen, dass bereits mehrfach klargestellt wurde, aus § 3a IESG dürfe nicht der Umkehrschluss gezogen werden, ein Lohnrückstand von sechs Monaten für die Zeit vor Konkurseröffnung oder einem nach § 1 Abs 1 IESG gleichgestellten Sachverhalt sei jedenfalls gesichert (RIS-Justiz RS0112283).
Das "verfahrenstechnische" Mittel des Fremdvergleichs und die darauf aufbauende Beurteilung des "atypischen Arbeitsverhältnisses" darf aber nicht mit dem eigentlichen Ausschlussgrund der Übertragung des Finanzierungsrisikos verwechselt werden. Die Beurteilung als "atypisches Arbeitsverhältnis", bei dem es dem Arbeitnehmer - anders als vom IESG zu Grunde gelegt - nicht auf die Erzielung von Entgelt zur Bestreitung seines Lebensunterhalts ankommt, ist nur der Ausdruck für das Ergebnis des Fremdvergleichs, der wieder nur zur Beurteilung dient, ob ein bestimmtes Verhalten, nämlich das Stehenlassen des Entgelts, den zumindest bedingten Vorsatz des Arbeitnehmers hinsichtlich der Verlagerung des Finanzierungsrisikos indiziert. Der Fremdvergleich hat sämtliche objektiven Anhaltspunkte heranzuziehen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß und wann Entgeltrückstände entstanden sind und in welchem Ausmaß in diesem Zeitraum vom Arbeitgeber Nachzahlungen auf den Rückstand geleistet wurden. Werden regelmäßig, wenn auch verspätet, Zahlungen geleistet, muss beobachtet werden, wie sich das Aufbauen von Rückständen einerseits und Zahlungen auf Rückstände andererseits im Verhältnis zueinander entwickelt haben. Ist der Rückstand etwa erst in den letzten Monaten vor dem Austritt besonders angewachsen, könnte das Arbeitsverhältnis - unter der Prämisse eines rechtzeitigen Austritts - noch als auf die Erzielung von Entgelt für die Bestreitung des Lebensunterhalts gerichtet angesehen werden. Wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung 8 ObS 305/01p ausgeführt hat, können auch nicht unerhebliche Nachzahlungen trotz in der Vergangenheit entstandener Entgeltrückstände die Annahme bedingten Vorsatzes der Überwälzung des Finanzierungsrisikos ausschließen. Bei dieser im fortgesetzten Verfahren vorzunehmenden Beurteilung ist auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen. Je länger ein Arbeitnehmer bereits im Betrieb tätig war und zumindest im Wesentlichen regelmäßig sein Entgelt erhalten hat, desto weniger schnell verliert er seinen Anspruch auf Insolvenz-Ausfallgeld, weil auch ein typischer Arbeitnehmer in für ihn vertretbarem Ausmaß Betriebstreue gezeigt hätte (8 ObS 153/01k).
In diesem Sinne werden im fortgesetzten Verfahren genaue Feststellungen darüber zu treffen sein, wann im Einzelnen welche Zahlungen durch den Arbeitgeber auf welchen ausständigen Lohn erfolgten und in welcher Höhe sich zum jeweiligen Zeitpunkt der Zahlung der Rückstand bewegte, um beurteilen zu können, ob das gesamte Arbeitsverhältnis noch in den Schutzbereich des IESG fällt. Der Revision ist Folge zu geben und die Rechtssache wegen der Notwendigkeit ergänzender Feststellungen an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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