European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2002:0070OB00056.02I.0417.000
Spruch:
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
Die bei der beklagten Partei unfallversicherte Klägerin rutschte am 21. 1. 1999 auf dem Glatteis aus und verletzte sich; die Versicherungssumme betrug im Unfallszeitpunkt S 583.000,‑ ‑. Dem Versicherungsvertrag lagen die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUVB 1989/SS300) zugrunde, die ua folgende Bestimmungen enthalten:
Art 14
Fälligkeit der Leistung des Versicherers
1.) Der Versicherer ist verpflichtet, innerhalb eines Monats, bei Ansprüchen auf Leistung für dauernde Invalidität innerhalb dreier Monate, zu erklären, ob und in welcher Höhe er eine Leistungspflicht anerkennt.....
....
Art 15
Verfahren bei Meinungsverschiedenheiten
(Ärztekommission)
1.) Im Fall von Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang der Unfallfolgen oder darüber, in welchem Umfang die eingetretene Beeinträchtigung auf den Versicherungsfall zurückzuführen ist, ferner über die Beeinflussung der Unfallfolgen durch Krankheit oder Gebrechen, sowie im Falle des Art 7, Punkt 7 entscheidet die Ärztekommission.
2.) In den nach Punkt 1 der Ärztekommission zur Entscheidung vorbehaltenen Meinungsverschiedenheiten kann der Versicherungsnehmer innerhalb von sechs Monaten nach Zugang der Erklärung des Versicherers gemäß Art 14 Punkt 1 unter Bekanntgabe seiner Forderung Widerspruch erheben und die Entscheidung der Ärztekommission beantragen.
3.) Das Recht, die Entscheidung der Ärztekommission zu beantragen, steht auch dem Versicherer zu.
....
Die Klägerin machte gegenüber der beklagten Partei geltend, dass sie beim Unfall am 21. 1. 1999 eine Knie‑ und eine Schulterverletzung erlitten habe. Die Beklagte anerkannte lediglich die Knieverletzung als unfallskausal und bezahlte der Klägerin dafür eine Entschädigung von S 40.810,‑ ‑. Nachdem ihr die Klägerin weitere, die Schulterverletzung betreffende Behandlungsunterlagen zur Verfügung gestellt hatte, richtete die Beklagte an die Klägerin ein mit 1. 2. 2001 datiertes Schreiben folgenden Inhaltes:
Sehr geehrte Frau G*****, wir haben von unserer Landesdirektion ***** neuerliche Unterlagen, ihren Unfall vom 21. 1. 1999 betreffend erhalten, dazu teilen wir ihnen folgendes mit:
Auch auf Grund der neuerlichen Unterlagen können wir für die Schulterverletzung keine Entschädigung erbringen. Wir möchten diesbezüglich darauf hinweisen, dass sich die Einschätzung in der privaten Unfallversicherung gegenüber der gesetzlichen Versicherung insoferne unterscheidet, dass in der privaten Unfallversicherung Vorschäden und degenerative Leiden berücksichtigt werden, in der gesetzlichen Versicherung jedoch der Gesamtzustand berücksichtigt wird.
Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass Sie sich von Herrn Univ. Prof. Dr. Walter T***** in S***** untersuchen lassen. Die Kosten für dieses Gutachten müssen Sie jedoch selbst tragen.
Die Klägerin begehrt mit der Klage von der Beklagten (weitere) S 81.620,‑- (sA) als Entschädigung für die Schulterverletzung, die ebenfalls unfallskausal sei und eine dauernde Invalidität bewirkt habe, wobei der Invaliditätsgrad 14 % (1/5 des Armwertes von 70 %) betrage.
Die Beklagte beantragte die Klage abzuweisen. Das Klagebegehren sei nicht fällig, weil Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang der Unfallsfolgen bestünden und in diesem Fall gemäß Art 15 AUVB 1989/SS300 zwingend die (Entscheidung der) Ärztekommission vorgesehen sei. Im Übrigen seien die Schulterbeschwerden nicht dem gegenständlichen Unfallsereignis, sondern einem degenerativen Abnützungsleiden zuzuordnen. Der eingeklagte Betrag sei auch überhöht.
Das Erstgericht wies die Klage ab, weil das Klagebegehren noch nicht fällig sei. Das dem Versicherer zustehende Recht, die Ärztekommission anzurufen, erlaube ihm den Einwand der mangelnden Fälligkeit, wenn der Versicherungsnehmer ohne Anrufung der Ärztekommission den Gerichtsweg beschritten habe. Nur dann, wenn die Versicherung den Anspruch ausdrücklich oder schlüssig vorbehaltslos abgelehnt habe, sei ein solcher Einwand unzulässig. Das Schreiben vom 1. 2. 2001 habe zwar eine Ablehnung enthalten, doch müsse der darin auch enthaltene Hinweis auf die Möglichkeit einer Untersuchung bei Prof. Dr. Walter T***** so verstanden werden, dass sich die Beklagte allenfalls einem Gutachten des Genannten unterwerfe, wenn es Ansprüche der Klägerin rechtfertige. Damit habe die Beklagte aber die Ansprüche der Klägerin nicht vorbehaltlos abgelehnt.
Das Berufungsgericht hob die erstinstanzliche Entscheidung auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück, wobei es aussprach, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei. Aus dem Wortlaut des Art 15 Punkt 2. und 3. AUVB 1989/SS300 (".... kann der Versicherungsnehmer ..."; "... das Recht steht auch dem Versicherer zu....") ergebe sich, dass es sich um ein fakultatives Schiedsverfahren handle und die Einberufung der Ärztekommission nicht zwingend sei. Auch wenn es Zweck des Schiedsverfahrens sei, bei Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang von Unfallsfolgen möglichst rasch und sparsam den alleine entscheidungswesentlichen medizinischen Sachverhalt zu erfassen, so solle der Versicherungsnehmer doch nicht dazu verpflichtet werden, dieses Verfahren selbst einzuleiten. Vor allem in jenen Fällen, in denen der Versicherer eine endgültige Entscheidung hinauszuzögern versuche, sei es auch nicht einzusehen, warum sich der Versicherungsnehmer vor Klagseinbringung dieses - auch zeitaufwändigen - Instrumentes bedienen müsse. Der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 7 Ob 18/93, VersE 1994/337, in der die Anrufung der Ärztekommission als zwingend angesehen worden sei, seien die AUVB 1982 zugrundegelegen, deren Art 14 Punkt 2. folgenden Inhalt habe: "In den nach Punkt 1. der Ärztekommission vorbehaltenen Streitfällen hat der Versicherungsnehmer innerhalb von sechs Monaten, nachdem ihm die Erklärung des Versicherers gemäß Art 11 Z 1 zugegangen ist, unter Bekanntgabe seiner Forderung Widerspruch zu erheben und die Entscheidung der Ärztekommission zu beantragen; andernfalls sind weitergehende Ansprüche als sie vom Versicherer anerkannt sind, ausgeschlossen. Auf diese Rechtsfolge hat der Versicherer in seiner Erklärung hinzuweisen. Das Recht, die Entscheidung der Ärztekommission zu beantragen, steht auch dem Versicherer zu." Bereits die andere Formulierung "... hat der Versicherungsnehmer ....", aber insbesondere die angedrohte Sanktion für den Fall, dass der Versicherungsnehmer keinen Widerspruch erhebt und die Ärztekommission nicht beantragt, auf welche der Versicherer hinzuweisen hat, zeigten die unterschiedliche Intention der beiden Bestimmungen. Nach den AUVB 1982 habe der Versicherungsnehmer seine weitergehenden Ansprüche im Falle der Nichtbeantragung der Ärztekommission verwirkt, wenn der Versicherer auf diese Rechtsfolge in seiner Erklärung hingewiesen habe. Diese Rechtsfolge finde sich in der entsprechenden Bestimmung der AUVB 1989/SS300 gerade nicht mehr. Ein Zwang zur Anrufung einer Ärztekommission bestehe daher im vorliegenden Fall nicht. Bei der Anrufung einer Ärztekommission handle es sich um ein bloß fakultatives Verfahren, wobei gemäß Art 15 Punkt 3. AUVB 1989/SS300 das Recht, die Ärztekommission anzurufen, auch dem Versicherer zugestehe. Auch für diesen gelte jedoch die sechsmonatige Frist des Punktes 2. innerhalb welcher er von seinen Rechten Gebrauch machen könne. In ihrer Wirkung handle es sich dabei also um eine Sperrfrist, bis zu deren Ablauf die Forderung des Versicherungsnehmers nicht fällig sei. Diese Sperrfrist als Begründung der mangelnden Fälligkeit sei vom Gericht jedoch nur auf Einwand der Beklagten wahrzunehmen. Diese habe jedoch kein Vorbringen dazu erstattet, dass ihr das Recht, die Ärztekommission anzurufen, (noch) zustehe, mit welchem Tag die Sperrfrist begonnen habe bzw wann diese ablaufen werde. Die Beklagte habe auch nicht vorgebracht, dass sie überhaupt beabsichtige, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Ob der Beklagten daher tatsächlich noch das Recht zustehe, die Ärztekommission anzurufen, sei mangels entsprechender Behauptungen nicht zu prüfen, da die Beklagte ihren Einwand der mangelnden Fälligkeit ausschließlich auf die rechtlich verfehlte Behauptung gestützt habe, die Einschaltung der Ärztekammer sei zwingend. Da somit die Frage, ob die Beklagte überhaupt noch die Ärztekommission anrufen könnte (falls die Sechsmonatsfrist noch nicht abgelaufen wäre), unbeantwortet bleiben könne, erübrige sich auch die Beurteilung der Frage, ob sich die Beklagte dieses allenfalls bestehenden Rechtes durch ausdrückliche vorbehaltslose Ablehnung des Anspruches der Klägerin begeben habe bzw ob im Schreiben der Beklagten vom 1. 2. 2000 (soll heißen 2001) eine derartige Ablehnung zu sehen sei.
Die Aufhebung des Urteiles und Zurückverweisung an das Erstgericht im Sinne des § 496 Abs 1 Z 3 ZPO sei erforderlich, weil das Erstgericht auf Grund unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Frage der Fälligkeit des Anspruches der Klägerin keine weiteren Tatsachenfeststellungen getroffen habe und deshalb umfangreiche Verfahrensergänzungen zur Beurteilung des Bestehens des Klagebegehrens dem Grunde und der Höhe nach noch erforderlich seien.
Da die vorhandene Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage der zwingenden Notwendigkeit einer Ärztekommission zu den AUVB 1982 ergangen sei, deren Wortlaut eindeutig gewesen sei und es noch keine diesbezügliche oberstgerichtliche Rechtsprechung auf Grundlage der AUVB 1989/SS300 gebe, sei der Rekurs nach §§ 519 Abs 2, 502 Abs 1 ZPO zuzulassen gewesen.
Der von der Beklagten erhobene Rekurs ist aus diesem, vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.
Die Beklagte hält weiter an ihrem Standpunkt fest, Art 15 AUVB 1989/SS300 sehe im Fall der dort erläuterten Meinungsverschiedenheiten (wozu die hier strittige Frage der Unfallskausalität der Schulterverletzung der Klägerin unstrittig zählt) die Entscheidung der Ärztekommission zwingend vor.
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat dazu erwogen:
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach nunmehr ständiger Rechtsprechung nach Vertragsauslegungsgrundsätzen (§§ 914 ff ABGB) auszulegen. Die Auslegung hat sich daher am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren (VR 1992/277; VR 1992/284; RIS‑Justiz RS0050063 mit zahlreichen Entscheidungsnachweisen, zuletzt etwa 7 Ob 168/01h). Die einzelnen Klauseln der Versicherungsbedingungen sind, wenn sie ‑ wie hier - nicht auch Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf ihren Wortlaut auszulegen (RIS‑Justiz RS0008901). In allen Fällen ist der einem objektiven Beobachter erkennbare Zweck einer Bestimmung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu berücksichtigen (VR 1990, 57 = RdW 1989, 329 [Schauer]; VR 1990, 315; VR 1992, 88; ecolex 1994, 610; 7 Ob 234/00p uva). Unklarheiten gehen im Sinne des § 915 ABGB in aller Regel zu Lasten des Versicherers (JBl 1990, 316 = EvBl 1990/28 = VR 1990/122 = VersR 1990, 445 uva). Besondere Bedingungen haben Vorrang vor den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (7 Ob 93/00b unter Hinweis auf Heiß/Lorenz VersVG2 § 1 Anm 60; 7 Ob 69/02z).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Auslegung des Art 15 AUVB 1989/SS300 (der wortwörtlich den österreichischen Musterbedingungen bzw den AUVB 1988 entspricht) durch das Berufungsgericht zu billigen; es kann nach dem gegenüber den AUVB 1982 geänderten Wortlaut ("kann" statt "hat") kein Zweifel daran bestehen, dass die Parteien die Entscheidung der Ärztekommission fakultativ beantragen können, wobei nach Punkt 2. des Art 15 für die Anrufung der Ärztekommission eine Sechsmonatsfrist eingeräumt wird, die mit Zugang der Erklärung des Versicherers nach Art 14 Z 1 AUVB 1989/SS300 beginnt (vgl Garger, Das Sachverständigenverfahren im Versicherungsvertragsrecht, 214). Da auf das beiderseitige Recht wirksam verzichtet werden kann (Garger aaO), ist eine Klage des Versicherungsnehmers vor Ablauf dieser Frist möglich, es sei denn, der Versicherer würde innerhalb der Frist auf seinem Recht der Anrufung der Ärztekommission bestehen. Die Ärztekommission ist also fakultativ zu Gunsten beider Parteien eingerichtet. Dies entspricht auch ihrem Zweck, für den Versicherungsnehmer eine rasche und kostengünstige Entscheidung über die Höhe des Invaliditätsgrades herbeizuführen (vgl Garger aaO).
Entgegen der Regelung der AUVB 1982 musste sich die Klägerin daher nicht mehr zwingend der Ärztekommission unterwerfen, sondern konnte auf Leistung klagen, zumal auch von der Beklagten innerhalb der sechsmonatigen Frist keine Anrufung der Ärztekommission erfolgte. Der Einwand der Beklagten, die Klage sei noch vor Ablauf der Sechsmonatefrist und damit verfrüht erhoben worden, ist ‑ wie schon das Berufungsgericht erkannt hat - nicht stichhältig, da die Beklagte gar nicht vorgebracht hat, ihrerseits die Entscheidung der Ärztekommission beantragen zu wollen, geschweige denn behauptet hat, ihrerseits die Ärztekommission fristgerecht tatsächlich beantragt zu haben. In diesem Zusammenhang ist nochmals zu betonen, dass die Einrichtung der Ärztekommission ja die rasche Beilegung von Meinungsverschiedenheiten bezweckt. Von einem Versicherer, der noch vor Ablauf der Sechsmonatsfrist des Art 15 Punkt 2. vom Versicherungsnehmer klagsweise in Anspruch genommen wird, kann daher zur Vermeidung von Verzögerungen wohl verlangt werden, dass er den Einwand, seinerseits die Ärztekommission anrufen zu wollen, ungesäumt erhebt. Dies ist im vorliegenden Fall nicht geschehen, weshalb das Berufungsgericht zu Recht einen Verzicht der Beklagten, ihrerseits die Ärztekommission zu beantragen, angenommen hat.
Erwähnt sei noch, dass in Deutschland § 12 AUB 1961 bereits ausdrücklich ein Wahlrecht zwischen Gerichts‑ und Ärzteausschussverfahren vorsah. Dieses fakultative Ärzteausschlussverfahren wurde allerdings in den deutschen AUB 1988 ersatzlos gestrichen, weil damit der Zweck, Meinungsverschiedenheiten schnell und verbindlich beizulegen, nicht erreicht werden konnte (Konen, Allgemeine Unfallversicherungs‑Bedingungen (AUB 88), 57; vgl auch Garger aaO 219). Im Hinblick auf die in Deutschland gewonnen Erfahrungen und den von Garger aaO 219 f betonten Aspekt, dass das Verfahren vor der Ärztekommission langwierig und kostspielig sein kann (vgl auch Grimm, Unfallversicherung2 Rz 35 zu § 11 AUB 61), erscheint die Maßnahme, das Sachverständigenverfahren nicht mehr obligatorisch zu machen, nur sachdienlich und folgerichtig.
Der Rekurs muss daher erfolglos bleiben.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.
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