OGH 6Ob122/01m

OGH6Ob122/01m14.3.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Huber, Dr. Prückner, Dr. Schenk und Dr. Schramm als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Peter Franz F*****, vertreten durch DDr. Sven D. Fenz, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei S***** GesmbH, *****, vertreten durch Dr. Herbert Hüttner, Rechtsanwalt in Graz, wegen 1,400.000 S und Feststellung, über die außerordentliche Revision des Klägers gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht vom 18. Jänner 2001, GZ 4 R 218/00m-30, womit das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom 29. August 2000, GZ 20 Cg 242/99v-22, teilweise bestätigt wurde und über die Rekurse der klagenden und beklagten Partei gegen den in das Berufungsurteil aufgenommen Beschluss, womit das genannte Urteil des Erstgerichtes teilweise aufgehoben wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision des Klägers und die Rekurse beider Parteien werden zurückgewiesen.

Beide Parteien haben die Kosten ihrer Rekursbeantwortungen selbst zu tragen.

Text

Begründung

Der Kläger leidet an der seltenen Krankheit Adrenomyeloneuropathie (AMN). Seit 1982 traten bei ihm spastische Erscheinungen an den Beinen und Gesichtsfeldausfälle auf. Er befand sich vom 5. 6. bis 23. 6. 1989 zur Abklärung des Verdachtes auf ein entzündliches Herdgeschehen in der psyichiatrisch-neurologischen Universitätsklinik des Landeskrankenhauses Graz, deren Rechtsträgerin die Beklagte ist. Dort wurde die Erkrankung nicht erkannt. Der Kläger wurde mit dem Befund "Paraspastik der Beine, derzeit ungeklärter Genese" und einer medikamentösen Therapieempfehlung in die Behandlung durch den Hausarzt entlassen. Weitere Kontrolluntersuchungen wurden nicht verlangt. Die anlässlich eines stationären Aufenthalts des Klägers in einem anderen Krankenhaus im Mai 1995 erhobenen Befunde führten schließlich zur richtigen Diagnose. Der Verlauf der Erkrankung entspricht einer langsamen Verschlechterung. Sie ist derzeit nicht behandelbar, und es gibt nichts, was die Erkrankung beeinflussen könnte. Es ist davon auszugehen, dass selbst bei Feststellung der Diagnose AMN im Jahr 1989 beim Kläger keine Besserung und kein Stillstand der Erkrankung erreicht worden wäre.

Der Kläger begehrt die Zahlung von 1,400.000 S und die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle weiteren Schäden, die ihm durch die Nichterkennung seiner Erkrankung anlässlich seines Aufenthaltes im Landeskrankenhaus Graz zugefügt worden seien. Eine sofort einsetzende Behandlung hätte zumindest zu einem Stillstand der Krankheit geführt, die sich 1995 in einem bereits stark fortgeschrittenen Stadium befunden habe. Dem Kläger sei einerseits durch das Fortschreiten der Erkrankung, andererseits dadurch, dass er nicht in der Lage gewesen sei, Pflegegeld "und andere Erleichterungen des sozialen Netzes" in Anspruch zu nehmen, ein enormer Schaden entstanden, den er detaillierter aufschlüsselte und mit insgesamt 1,777.500 S bezifferte, wovon er "aus prozessökonomischen Gründen" 1,400.000 S geltend machte.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Es liege kein Diagnosefehler vor. Die behandelnden Ärzte treffe kein Verschulden an der Nichterkennung der Erkrankung des Klägers. Die Nichterkennung sei im Übrigen für die Ansprüche des Klägers nicht kausal, weil die Krankheit nicht behandelbar sei. Die Beklagte bestritt darüber hinaus auch die einzelnen Positionen des Zahlungsbegehrens und wendete zudem ein Mitverschulden des Klägers ein.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab. Zwar handle es sich bei der Unterlassung einer SLFS (sehr langkettige Fettsäuren) -untersuchung, die zur Diagnose AMN führen hätte können, um einen Unterlassungsfehler. Dieser sei aber den behandelnden Ärzten nicht vorzuwerfen. Zudem sei die Krankheit nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht behandelbar, sodass die Nichterkennung letztlich keinen Schaden beim Kläger herbeigeführt habe.

Das Berufungsgericht bestätigte die Abweisung des Feststellungsbegehrens mit Teilurteil und hob das Urteil hinsichtlich der Abweisung des Leistungsbegehrens auf. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, die Rekurse an den Obersten Gerichtshof gegen den aufhebenden Teil der Entscheidung hingegen zulässig seien. Im Gegensatz zur Ansicht des Erstgerichtes sei den behandelnden Ärzten der Universitätsklinik ein vorwerfbarer Diagnosefehler unterlaufen, weil nicht alle unter Berücksichtigung des Standes der medizinischen Wissenschaft zur Verfügung stehenden Kontrollbefunde erhoben worden seien. Da aber selbst bei richtiger Diagnose eine Besserung oder auch nur ein Stillstand der Krankheit mangels Behandelbarkeit nicht erreichbar gewesen wäre, sei der Diagnosefehler für die vom Feststellungsbegehren umfassten Schäden nicht kausal, sodass das Feststellungsbegehren mangels Feststellungsinteresses abzuweisen sei. Die Auffassung des Erstgerichtes über die fehlende Kausalität treffe aber auf andere als Gesundheitsschäden, die der Kläger nach seinen Behauptungen ungeachtet des schicksalhaften Verlaufes der Krankheit durch den Diagnosefehler erlitten habe, nicht zu. Der Kläger werde insoweit zu einem konkreten und schlüssigen Vorbringen hinsichtlich jeder einzelnen Schadenspositionen dahin anzuleiten sein, welcher Schaden nur auf den Diagnosefehler (ungeachtet der behaupteten verspätet einsetzenden Heilbehandlung) zurückzuführen sei. Insoweit fehlten sowohl zum Kausalzusammenhang als auch zu den behaupteten Schadensfolgen entsprechende Feststellungen. Der Rekurs gegen den aufhebenden Teil der Entscheidung sei zulässig, weil die Frage, ob den Ärzten ein vorzuwerfender Diagnosefehler unterlaufen sei, mangels Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu einem vergleichbaren Sachverhalt von erheblicher Bedeutung sei.

Gegen den aufhebenden Teil der Entscheidung erheben beide Parteien Rekurs. Der Kläger bekämpft zudem das abweisende Teilurteil mit außerordentlicher Revision.

Rechtliche Beurteilung

Die Rechtsmittel sind insgesamt mangels erheblicher Rechtsfrage unzulässig.

1. Zur außerordentlichen Revision des Klägers:

Der Kläger begründet die Zulässigkeit der Revision damit, dass das Berufungsgericht die Voraussetzungen des § 363 Abs 2 ZPO für die Bestellung eines weiteren Sachverständigen zu Unrecht für nicht gegeben erachtet habe. Ob ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt werden soll und ob außer den zu einem strittigen Umstand bereits vorliegenden Beweisen noch weitere Beweise aufzunehmen gewesen wären, ist allerdings eine Frage der Beweiswürdigung und daher nicht revisibel (stRsp; RIS-Justiz RS0043320). Auch die Frage, ob ein (hier: medizinisches) Gutachten schlüssig und nachvollziehbar ist, gehört zur Beweiswürdigung und kann im Revisionsverfahren nicht überprüft werden (10 ObS 225/98f). Insoweit in der Revision unterstellt wird, dass die Behandlung mit "Lorenzo`s Öl" bisher zumindest in einigen wenigen oder auch nur in einem Fall zu einem Erfolg geführt habe und die Erwartung berechtigt sei, dass tatsächlich Heilungsaussichten bestünden, geht sie nicht von dem festgestellten Sachverhalt aus. Der Umstand, dass das Berufungsgericht die in der Berufung behaupteten Mängel des Verfahrens erster Instanz verneint hat, führt nicht zu einer Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens selbst. Solche Mängel können in der Revision nicht neuerlich geltend gemacht werden (RIS-Justiz RS0042963).

2. Zum Rekurs des Klägers:

Der gegen das Berufungsgericht erhobene Vorwurf, es hätte anstelle eines Aufhebungsbeschlusses ein Zwischenurteil fällen müssen, ist schon deshalb nicht berechtigt, weil das Gericht gemäß § 393 Abs 1 ZPO unter den dort genannten Voraussetzungen ein Zwischenurteil fällen kann. Die Prozessparteien haben daher keinen Anspruch auf Fällung eines Zwischenurteils. Die Ermessensentscheidung des Gerichtes, ob es ein Zwischenurteil fällen will, ist unanfechtbar (RIS-Justiz RS0040047). Im Übrigen hat das Berufungsgericht eingehend dargelegt, aus welchen Gründen es von der Fällung eines (Teil- und) Zwischenurteils Abstand genommen und auch zum Grund des Zahlungsbegehrens eine Verfahrensergänzung für notwendig erachtet hat. Dass der Auftrag zur Verfahrensergänzung auf einer unrichtigen Rechtsansicht des Berufungsgerichts beruhe, wird vom Kläger nicht aufgezeigt. Dass die Bekämpfung der von den Vorinstanzen übernommenen Ergebnisse des vom Erstgericht eingeholten Sachverständigengutachtens im Revisionsverfahren unzulässig ist, wurde bereits dargelegt.

3. Zum Rekurs der Beklagten:

Die Beklagte lässt die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, den behandelnden Ärzten sei ein Diagnosefehler vorzuwerfen, unbekämpft, sodass auf die vom Berufungsgericht als maßgeblich bezeichnete Rechtsfrage nicht weiter einzugehen ist. Die Beklagte meint aber, dass die Kausalität des Diagnosefehlers nicht nur für mögliche künftige, sondern zwingend auch für vergangene und gegenwärtige Schäden des Klägers fehle. Sie lässt hiebei die bisher ungeprüften Prozessbehauptungen des Klägers außer Acht, dass der Kläger - unabhängig von den von ihm behaupteten verspäteten Einsatz der Heilbehandlung und der dadurch hervorgerufenen körperlichen Beeinträchtigungen - seine Zahlungsansprüche auch darauf gründet, dass er bei Vorweisung der richtigen Diagnose schon seit 1989 oder 1990 verschiedene Sozialleistungen und Hilfestellungen in Anspruch nehmen hätte können, deren Erlangung ihm mangels Diagnose verwehrt gewesen sei. Zudem behauptete er, dass er allein auf Grund der Ungewissheit der Ursache seiner Gebrechen gravierende psychische Leidenszustände, die in weiteren Beschwerden ihren Niederschlag gefunden hätten, erdulden habe müssen.

Die Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, dass ein Pflegegeldanspruch (auch nach Landesrecht) von hier nicht behaupteten Ausnahmen abgesehen grundsätzlich vom Konzept der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes ausgeht, das heißt von der individuell erforderlichen Betreuung und Hilfe, und von einer bestimmten Diagnose unabhängig ist (vgl RIS-Justiz RS00106384). Der Hilflosenzuschuss nach § 105a ASVG aF war ebenso wie das Pflegegeld nach dem BPGG vom Bezug einer Grundleistung (Pension) abhängig. Davon zu unterscheiden ist jedoch die dem Tatsachenbereich zuzuordnende Frage, ob es dem Kläger auch ohne die Diagnose der Erkrankung AFM tatsächlich gelungen wäre, verschiedene Sozialleistungen, deren Entgang er als Schaden geltend macht, zu erlangen. Soweit sich daher die Ansprüche des Klägers allein auf die Tatsache gründen, dass ihm jahrelang eine Diagnose seines tatsächlichen Leidens nicht zur Verfügung stand und nicht auch darauf, dass eine wirksame Behandlung zunächst gar nicht und dann zu spät eingesetzt habe, kann nicht vornherein von einer generellen Unschlüssigkeit des bislang weitgehend ungeprüften Zahlungsbegehrens hinsichtlich jedes einzelnen Punktes ausgegangen werden. Der Rekurs der Beklagten vermag daher jedenfalls keine zu korrigierende Fehlbeurteilung des Berufungsgerichtes aufzuzeigen. Wenn die dem Aufhebungsbeschluss zugrundeliegende Rechtsansicht richtig ist, kann aber der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, nicht überprüfen, ob die Verfahrensergänzung tatsächlich notwendig ist (RIS-Justiz RS0042179). Soweit die Beklagte in ihrem Rekurs neuerlich davon ausgeht, der Kläger sei "trotz ususgemäßer Empfehlung" im LKH Graz nicht mehr vorstellig geworden, geht sie nicht von den vom Berufungsgericht trotz diesbezüglicher Beweisrüge in der Berufungsbeantwortung der Beklagten ausdrücklich übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes aus. Inwieweit der Kläger allenfalls ein Mitverschulden zu verantworten hat, wird im fortgesetzten Verfahren zu klären sein.

Ein Abweichen der Entscheidung des Berufungsgerichtes von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu Fragen der Arzthaftung, die von ihm ausführlich dargestellt worden ist, ist insgesamt nicht erkennbar. Die Rechtsmittel beider Parteien waren daher mangels Vorliegen seiner erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO (§ 519 Abs 2 ZPO) zurückzuweisen.

Da die Parteien in ihren jeweiligen Rekursbeantwortungen auf diesen Zurückweisungsgrund nicht hingewiesen haben und diese Schriftsätze daher nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung bzw. Rechtsverteidigung notwendig waren, haben sie deren Kosten gemäß den §§ 41 und 50 ZPO jeweils selbst zu tragen.

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