OGH 10ObS80/01i

OGH10ObS80/01i24.4.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Hans Herold (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rudolf T*****, Pensionist, *****, vertreten durch Mag. Claudia Steegmüller, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. November 2000, GZ 7 Rs 309/00p-33, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 4. April 2000, GZ 10 Cgs 188/99f-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 31. 12. 1941 geborene Kläger bewohnt ein zentral beheiztes Einfamilienhaus, in das man über einen Treppenabsatz gelangt.

Der Kläger hat mehrere Schlaganfälle (Cerebral-Paresen) erlitten, nämlich 1993 ein linkes Hemisyndrom und 1996 einen Pons-Infarkt. Wegen dieser Cerebral-Paresen bedarf er eines Rollstuhls. Ein Transfer aus dem Bett in den Rollstuhl und umgekehrt kann nur mit fremder Unterstützung vorgenommen werden. Vom Rollstuhl aus kann er auch nicht die Zentralheizung bedienen.

Der Kläger ist stuhl- und harninkontinent; er trägt eine Windelhose. Mit der Stuhl- und Harninkontinenz ist ein erhöhter Reinigungsbedarf verbunden.

Die Kraft des linken Arms ist reduziert. Es ist dem Kläger möglich, mit der rechten Hand zu essen, wobei er zerkleinerte Mahlzeiten essen und trinken kann. Ausgeschlossen sind das An- und Auskleiden, die tägliche Körperpflege, die Zubereitung von Mahlzeiten, das Waschen der Leib- und Bettwäsche, das Tätigen von Einkäufen einschließlich der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln sowie die Wohnungsreinigung. Der Kläger bedarf einer Mobilitätshilfe im Bereich der Wohnung und auf der Straße.

Medikamenteneinnahme ist in vorgerichteter Form möglich. Der Kläger ist nicht in der Lage, sich selbst allein mit der rechten Hand den Insulin-Pen (wegen insulinpflichtigem Diabetes mellitus) zu spritzen, weil er nicht gleichzeitig mit der linken Hand die Haut quetschen und sich den PEN-Inhalt injizieren kann.

Psychopathologisch ist der Kläger zeitlich, örtlich und situativ voll orientiert. Er ist in der Lage, Erklärungen einzusehen und demgemäß zu handeln.

Seit 1. 7. 1998 bezieht der Kläger Pflegegeld der Stufe 5. Mit Bescheid vom 22. 9. 1999 hat die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 3. 5. 1999 auf Erhöhung des Pflegegelds abgelehnt.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Rechtlich beurteilte es den eingangs dargestellten Sachverhalt dahin, dass der durchschnittliche Pflegebedarf des Klägers nicht einmal 180 Stunden monatlich betrage: Außerdem sei beim Kläger zwar eine koordinierte Pflege nötig, aber es seien weder zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen noch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es sah die behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens nicht als gegeben an und übernahm die Feststellungen des Erstgerichts als Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung. Auf Grund der Rechtsrüge gelangte das Berufungsgericht zur Ansicht, dass zwar von einem monatlichen Pflegeaufwand von 198 Stunden auszugehen sei, jedoch weder das Erfordernis von unkoordinierbaren Pflegemaßnahmen noch einer dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson gegeben sei. Für das vom Kläger behauptete Risiko eines Schlaganfalls lägen keinerlei Beweisgrundlagen vor.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer gänzlichen Klagsstattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Im Revisionsverfahren ist strittig, ob der Kläger auf Grund Eigengefährdung (Schlaganfallgefahr) einer dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht bedarf.

Bei den nach dem BPGG relevanten Verrichtungen muss es sich "um zumindest im weitesten Sinn lebenswichtige Verrichtungen nicht medizinischer Art handeln" (SSV-NF 11/11 mit Hinweis auf Pfeil, Pflegevorsorge [1994], 107 f und Pfeil, BPGG, 80). Für die Gewährung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 6 ist - neben einem Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich - die Notwendigkeit zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen, die regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 BPGG), oder der dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht wegen der Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung vorausgesetzt (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 2 BPGG).

Bereits dem Ausschussbericht zum BPGG (AB 908 BlgNR 18. GP 4) ist zu entnehmen, dass die Einordnung in Stufe 6 nicht nur Pflegebedürftigen mit geistiger oder psychischer Behinderung offen stehen sollte; vielmehr sollte - durch Aufnahme der Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden.

Während die Z 1 in § 4 Abs 2 Stufe 6 BPGG in der seit 1. 1. 1999 geltenden Fassung eine Ausweitung gegenüber der früheren Rechtslage darstellt, entspricht die Z 2 ("dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht ...., weil die Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist") trotz anderer Wortwahl dem Fall der "dauernden Beaufsichtigung oder einem gleichzuachtenden Pflegeaufwand" nach der früheren Rechtslage (10 ObS 405/98a).

Die BPGG-Novelle 1998 war vom ausdrücklichen Bestreben getragen, insbesondere Unklarheiten beim Begriff der "dauernden Beaufsichtigung" zu beseitigen und die Abgrenzungskriterien - in Anlehnung an die bisher dazu ergangene Judikatur des Obersten Gerichtshofes - zur Klarstellung und aus Gründen der Rechtssicherheit deutlicher zu definieren. Bei der dauernden Beaufsichtigung handelt es sich nach den Gesetzesmaterialien "auch um einen umgangssprachlichen Begriff, der in vielen Fällen von den pflegenden Angehörigen anders als vom Gesetzgeber beabsichtigt interpretiert wird. Diese fühlen sich verständlicherweise verpflichtet, einen Pflegebedürftigen nicht alleine zu lassen, auch wenn ihm de facto keine unmittelbare Gefahr droht, das heißt keine Notwendigkeit der dauernden Beaufsichtigung im Sinne des Gesetzes vorliegt. Die Pflegepersonen können daher die Einstufung in eine niedrigere Pflegegeldstufe oftmals nicht akzeptieren...... Für die Zuordnung in die Stufe 6 sollen neben dem zeitlichen Ausmaß von mehr als durchschnittlich 180 Stunden pro Monat entweder zusätzliche unkoordinierbare Pflegemaßnahmen oder die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson wegen Eigen- oder Fremdgefährdung notwendig sein. Zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen liegen dann vor, wenn ein im Vorhinein festgelegter Pflegeplan nicht eingehalten werden kann und auch regelmäßig während der Nachtstunden, d. h. nahezu jede Nacht, tatsächlich (unkoordinierbare) Betreuungsmaßnahmen erbracht werden müssen. Zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen sind etwa dann zu erbringen, wenn wegen einer Schlucklähmung regelmäßiges Absaugen oder Aufsetzen des Pflegebedürftigen erforderlich ist. Auch das Beruhigen oder Zurückbringen bei nächtlicher Verwirrtheit und Umtriebigkeit wird - im Sinne der Mobilitätshilfe im engeren Sinn - darunter zu verstehen sein. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson im unmittelbaren Wohnbereich kann bei Menschen mit geistiger Behinderung oder einer psychischen Erkrankung dann notwendig sein, wenn die Gesundheit des Pflegebedürftigen selbst oder einer anderen Person gefährdet ist. Wenn jemand beispielsweise auf Grund der geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung zu tätlichen Angriffen gegenüber Dritten neigt, ist eine Pflegeperson zur Verhinderung dieser aggressiven Handlungen erforderlich; verbale Attacken sind darunter nicht zu verstehen. Beispiel für eine Eigengefährdung wäre etwa, wenn der geistig Behinderte oder psychisch Erkrankte wiederholt mit dem Kopf gegen die Wand schlägt und durch die Pflegeperson daran gehindert werden muss. Eine dauernde Anwesenheit ist nur dann notwendig, wenn eine solche Gefahr wahrscheinlich ist. Die alleinige Möglichkeit einer derartigen Situation reicht nicht aus." (RV 1186 BlgNR 20. GP 11; Fürstl-Grasser/Pallinger, SozSi 1999, 282 [287]; vgl auch §§ 15, 16 Z 3 der - die Gerichte nicht bindenden [§ 2] - Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, SozSi 1999, 360 - Amtl. Verlautbarung 41/1999; Rudda/Türk, SozSi 1999, 271 ff).

Das Erfordernis der ständigen Beaufsichtigung, kann also nicht darauf aufgebaut werden, dass nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass etwas passiert, gemeint dass etwas nur möglich ist - etwa dass beim Kläger wiederum ein Schlaganfall eintritt (vgl 10 ObS 218/99b). Nicht einmal akute, aber nur seltene auftretende Anfälle, Psychosen etc reichen aus, um einen - ständigen - Bedarf an Betreuung und Hilfe zu rechtfertigen (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich [1994] 191).

Es wird nicht verkannt, dass eine absolut sichere Aussage über künftige Umstände medizinisch oft nicht möglich sein wird und daher auch nicht verlangt werden kann; jedenfalls aber müssen diese Umstände wahrscheinlich und nicht bloß möglich sein, wie dies jetzt ausdrücklich von § 4 Abs 2 Stufe 6 Z 2 BPGG idF BGBl I 1998/111 gefordert wird.

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen ist eine koordinierte Pflege nötig, nicht aber eine ständige Bereitschaft einer Pflegeperson. Diese aufgrund des ärztlichen Sachverständigengutachtens getroffene Feststellung wurde im Verfahren überprüft; sie kann im Revisionsverfahren nicht mehr bekämpft werden. Im Übrigen hat das Berufungsgericht den gerügten Verfahrensmangel der unterlassenen Manuduktion des Klägers verneint. Die Frage, ob noch weitere Beweise zu führen gewesen wären, betrifft ebenfalls die in dritter Instanz nicht mehr bekämpfbare Beweiswürdigung.

Da die Vorinstanzen zu Recht die Voraussetzungen für die Erlangung von Pflegegeld der Stufe 6 verneint haben, ist der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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