OGH 1Ob94/00f

OGH1Ob94/00f28.4.2000

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Alexandra G*****, vertreten durch Dr. Michael Graff, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien 1., Singerstraße 17-19, wegen 336.000 S sA infolge ordentlicher Revisionen der klagenden Partei (Revisionsinteresse 291.000 S sA) und der beklagten Partei (Revisionsinteresse 42.000 S sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 8. November 1999, GZ 14 R 154/99s-19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 1. Juni 1999, GZ 32 Cg 22/98k-13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Beide Revisionen werden zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 11.437,50 S bestimmten Kosten deren Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Dagegen fallen der klagenden Partei die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zur Last.

Text

Begründung

Die Klägerin befand sich vom 9. Juni bis 2. Juli 1998 in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 16. Juli 1998 sprach das Oberlandesgericht Wien u. a. aus, dass die der Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft zugrunde liegenden Beschlüsse des Landesgerichts Korneuburg vom 10. und 15. Juni 1998 "nicht dem Gesetz" entsprechen. Mit Beschluss vom 6. November 1998 wurde das Strafverfahren gegen die Klägerin eingestellt.

Die Klägerin begehrte den Zuspruch von 336.000 S sA als immateriellen Schadenersatz gemäß Art 5 Abs 5 EMRK aufgrund der erlittenen gesetzwidrigen Untersuchungshaft.

Die beklagte Partei anerkannte - angesichts der verspäteten Durchführung einer Weisung der Oberstaatsanwaltschaft Wien an die Staatsanwaltschaft Korneuburg, sofort die Enthaftung der Klägerin zu beantragen - 3.000 S als angemessene Entschädigung für den Haftzeitraum vom 30. Juni bis 2. Juli 1998 und wendete im übrigen ein, die Verhängung und die Fortsetzung der Untersuchungshaft beruhe auf einer vertretbaren Auslegung gesetzlicher Bestimmungen. Entgegen der im Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 16. Juli 1998 vertretenen Ansicht sei die Klägerin "hinreichend" einer strafbaren Handlung verdächtig gewesen. Die Klägerin sei daher bis zum 29. Juni 1998 nicht konventionswidrig in Haft gewesen. Insofern bestehe daher kein Anspruch nach Art 5 Abs 5 EMRK. Der Klägerin stünde im Übrigen für den gesamten Haftzeitraum vom 9. Juni bis 2. Juli 1998 auch nur ein Ersatzanspruch von höchstens 25.000 S zu.

Das Erstgericht sprach der Klägerin 30.000 S sA zu und wies das Mehrbegehren ab.

Das Berufungsgericht erhöhte den Zuspruch auf 45.000 S sA und bestätigte die Abweisung des darüber hinausgehenden Mehrbegehrens. Es sprach ferner aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, und erwog in rechtlicher Hinsicht, die Untersuchungshaft könne in Österreich "rechtmäßig" und "auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise" nach Art 5 Abs 1 EMRK nur bei dringendem Tatverdacht verhängt werden. Ein solcher habe gegen die Klägerin aber nicht bestanden, sodass eine Verletzung des Art 5 EMRK durch die Verhängung und die Fortsetzung der Untersuchungshaft "nicht weg zu diskutieren" sei. Konventionswidriger Freiheitsentzug verursache stets einen immateriellen Schaden, der im Prozess weder substantiiert noch nachgewiesen werden müsse. Die für dessen Bemessung nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs maßgebenden Kriterien seien in den Entscheidungen 1 Ob 32/87 (= JBl 1988, 46), 1 Ob 43/89 (= SZ 62/176 = JBl 1990, 456) und 1 Ob 27/90 (= SZ 63/223 = JBl 1992, 49) erläutert. Vor deren Hintergrund und unter Berücksichtigung "der Tatsache, dass der Oberste Gerichtshof bisher nicht Beträge zugesprochen" habe, "die der Schmerzengeldbemessung für die Abgeltung mittelschwerer Schmerzen körperlicher Natur" entsprächen und seelisches Ungemach mitunter weniger leicht als geringere körperliche Schmerzen zu ertragen sei, sei im Anlassfall ein Zuspruch von 45.000 S "auch im Hinblick auf die Geldwertverdünnung und die zeitliche Entwicklung seit der Vorjudikatur" angemessen. Die ordentliche Revision sei zulässig, "weil das Berufungsgericht über den bisher für derartige Fälle gesteckten Schmerzengeldrahmen, wenn auch bedeutend maßvoller als von der Berufungswerberin gewollt, hinausgegangen" sei.

Beide Revisionen sind, wie nachfolgend zu begründen sein wird, unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

I. Zur Revision der beklagten Partei:

1. Der erkennende Senat sprach zuletzt in der Entscheidung 1 Ob 26/95 (= RZ 1996/51) unter Berufung auf Vorjudikatur aus, dass "ein konventionsgemäßer Freiheitsentzug ... die Erfüllung der dafür nach innerstaatlichem Recht angeordneten und im einzelnen zu beachtenden Bedingungen" voraussetzt. Danach erfordert die Verhängung und die Fortsetzung der Untersuchungshaft gemäß § 180 Abs 1 StPO u. a., dass "der Beschuldigte einer bestimmten Tat dringend verdächtig ist".

Dementgegen hält die beklagte Partei der Sache nach ihre Ansicht aufrecht, eine Untersuchungshaft sei nach Art 5 Abs 1 lit c EMRK schon dann konventionsgemäß, wenn sie auf einem "hinreichenden" Tatverdacht beruhe. Weil ein solcher bestanden habe, stehe der Klägerin für den Zeitraum vom 9. bis 29. Juni 1998 in Ermangelung einer konventionswidrigen Haft kein immaterieller Schadenersatz nach Art 5 Abs 5 EMRK zu.

Nach der voranstehend referierten Rechtslage wäre die Untersuchungshaft der Klägerin jedoch nicht schon bei "hinreichendem", sondern nur aufgrund eines "dringenden" Tatverdachts gerechtfertigt gewesen. Einen solchen Tatverdacht verneinte das Oberlandesgericht Wien im Beschluss vom 16. Juli 1998, weshalb es darin auch aussprach, dass die Verhängung und die Fortsetzung der Untersuchungshaft "nicht dem Gesetz" entsprächen. Dass die Klägerin entweder im Zeitpunkt der Haftverhängung oder später mit einem "dringenden" Tatverdacht belastet gewesen wäre, wird von der beklagten Partei nicht behauptet. In der Revision wird vielmehr der - nach den maßgebenden Feststellungen - unzutreffende Standpunkt vertreten, das Oberlandesgericht Wien habe im Beschluss vom 16. Juli 1998 einen "hinreichenden" Tatverdacht verneint, woran das Amtshaftungsgericht aber nicht gebunden sei.

Die Revisionsausführungen werfen daher an sich gar nicht mehr die Frage nach einer Bindung des Amtshaftungsgerichts an den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 16. Juli 1998 auf, weil die beklagte Partei den Mangel eines "dringenden" Tatverdachts gar nicht in Abrede stellt, obgleich die Verhängung und die Fortsetzung der Untersuchungshaft ohne Verwirklichung (auch) dieses Tatbestandsmerkmals konventionswidrig ist. Es sei jedoch angemerkt, dass die vom Amtshaftungsgericht bei Beurteilung des Klageanspruchs zu lösende Vorfrage, ob die Klägerin einem nach der innerstaatlichen Rechtsordnung rechtswidrigen Freiheitsentzug unterworfen war, schon durch den rechtskräftigen Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 16. Juli 1998, in dem über die Rechtmäßigkeit der Haft abgesprochen wurde, bindend geklärt ist. Damit ist aber - nach den einleitenden Erwägungen - auch schon die weitere Frage nach der Konventionswidrigkeit einer solchen Haft beantwortet. Die beklagte Partei bestreitet zwar die Bindungswirkung, bleibt dafür jedoch jedwede Begründung schuldig.

2. Die beklagte Partei wendet ferner noch ein, das Berufungsgericht hätte "das der Höhe nach vom Erstgericht zutreffend ausgemessene Schmerzengeld nicht erhöhen dürfen", weil das haftbedingte psychische Ungemach der Klägerin durch eine Ersatzbemessung nach dem für mittelstarke körperliche Schmerzen üblichen Tagessatz überbewertet wäre.

Darauf ist zu erwidern, dass den aus der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Ersatzbemessung bei konventionswidrigem Freiheitsentzug ableitbaren Grundsätzen (siehe SZ 63/223; SZ 62/176; JBl 1988, 46 [grundlegend]) weder ein Tagessatzsystem noch eine allgemeine Aussage darüber zu entnehmen ist, welcher Intensität körperlicher Schmerzen das durch eine konventionswidrige Haft bewirkte seelische Ungemach gleichzuhalten ist. Die vom Obersten Gerichtshof erläuterten Bemessungskriterien sind vielmehr als bewegliches System zu verstehen, innerhalb dessen Grenzen ein weiter Spielraum für die den Erfordernissen des Einzelfalls jeweils gerecht werdende Ermessensübung besteht.

Vom Berufungsgericht wurde diese Rechtslage nicht verkannt. Es überschritt auch nicht die von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Ermessensübung gezogenen Grenzen. Eine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO wäre als Voraussetzung für die Zulässigkeit einer ordentlichen Revision aber nur dann zu lösen, wenn das Berufungsgericht den vorgegebenen Ermessensrahmen grob missachtet hätte (Kodek in Rechberger, Kommentar zur ZPO2 Rz 3 zu § 502 mN aus der Rsp).

II. Zur Revision der Klägerin:

Die Klägerin ist der Ansicht, das Berufungsgericht habe bei seiner Entscheidung die außergewöhnlichen Begleitumstände ihrer konventionswidrigen Haft vernachlässigt und deshalb einen viel zu geringen Betrag an immateriellem Schadenersatz nach Art 5 Abs 5 EMRK zuerkannt.

Die in der Revision aufgelisteten "Unbilden" und "Unlustgefühle", die die Klägerin während ihrer Haft zu erdulden hatte, beleuchten einerseits nur das mit jedem Freiheitsentzug verbundene - und daher typische - seelische Leid des jeweils Betroffenen, andererseits war die Klägerin - nach den Feststellungen - auch nicht Haftbedingungen ausgesetzt, die in ungewöhnlicher Weise von den üblichen Haftumständen abwichen und deshalb ganz besonders schwer zu ertragen waren.

Hätten die Vorinstanzen dem Begehren der Klägerin vollinhaltlich entsprochen, so wäre darin eine erhebliche Überschreitung des schon unter I. 2. erörterten Spielraums für die Ausmessung immateriellen Schadenersatzes zu erblicken. Dagegen überschreitet der vom Gericht zweiter Instanz zuerkannte Ersatzbetrag, wie gleichfalls schon erläutert wurde, den für die Ermessensübung nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs gezogenen Rahmen nicht. Im Lichte der weiteren Ausführungen unter I. 2. ist eine erhebliche Rechtsfrage gemäß § 502 Abs 1 ZPO nicht schon dann zu bejahen, wenn das Berufungsgericht - ohne grobe Verletzung von Bemessungsgrundsätzen - allenfalls auch einen höheren Betrag als 45.000 S hätte zusprechen können.

III. Gemäß § 508a Abs 1 ZPO ist der Oberste Gerichtshof bei der Prüfung der Zulässigkeit der Revision an einen Ausspruch des Berufungsgerichts nach § 500 Abs 2 Z 3 ZPO nicht gebunden. Wie den voranstehenden Erwägungen zu entnehmen ist, hängt aber die Entscheidung im Anlassfall nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage nach § 502 Abs 1 ZPO ab. Die unzulässigen Revisionen der Streitteile sind daher zurückzuweisen, wobei sich der Oberste Gerichtshof nach § 510 Abs 3 ZPO auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken kann.

IV. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens stützt sich auf §§ 40, 41 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Danach sind der beklagten Partei die Kosten deren Revisionsbeantwortung zu ersetzen, weil dieser Schriftsatz wegen des in ihm enthaltenen Hinweises auf die Unzulässigkeit der Revision der Klägerin der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung diente. Dagegen hat die Klägerin die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen. Dieser Schriftsatz war einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung in Ermangelung eines Hinweises auf die Unzulässigkeit der Revision der beklagten Partei nicht dienlich.

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