Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie lauten:
Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger ab 1. September 1995 die Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu zahlen, wird abgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 25. 8. 1941 geborene Kläger hat eine kaufmännische Lehre mit der Gesellenprüfung abgeschlossen. Zunächst führte er einen Lebensmittelkleinhandel, seit 1970 bis zuletzt einen Getränkegroßhandel mit Transport; in diesem Betrieb beschäftigte er zuletzt sieben Kraftfahrer. Er verfügt über Gewerbescheine für den Getränkegroßhandel, das Transportunternehmen, den Lebensmittelkleinhandel und den Möbelgroßhandel (den er jedoch nie ausübte). Er musste in seinem Betrieb beim Verladen der Getränkekisten mit einem Gewicht von ca 25 kg auf Paletten für den Gabelstapler mithelfen. Auf Grund bestimmter, im Einzelnen näher festgestellter gesundheitlicher Veränderungen des Stützapparates kann er nur mehr leichte und halbzeitig mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen verrichten. Die Arbeiten sind im Freien und in geschlossenen Räumen, aber unter Vermeidung von Feuchtigkeit, Kälte- und Zugluftexpositionen möglich. Ein achtstündiger Arbeitstag mit den üblichen Arbeitsunterbrechungen ist zumutbar. Nach einer durchgehenden Tätigkeit von etwa zwei Stunden sollte der Kläger für etwa 15 bis 20 Minuten eine körperlich leichte, geistig einfache, entspannende Tätigkeit zur psychophysischen Erholung einhalten. Das Anheben und Tragen von Gewichten über 10 kg ist ihm nicht mehr zumutbar. Arbeiten in dauernd vornüber geneigter und überstreckten Haltung der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie Arbeiten in dauernder Zwangshaltung des Achsenskelettes sind ebensowenig zumutbar wie Arbeiten in knieender Stellung, häufiges Abwärtsgehen insbesondere bei gleichzeitiger Gewichtsbelastung und Arbeiten unter ständig erhöhtem Zeitdruck und erhöhtem Erfolgsdruck. Wegen dieser Einschränkungen des medizinischen Leistungskalküls ist es dem Kläger nicht mehr möglich, seinen Betrieb des Getränkegroßhandels in der zuletzt bestehenden Form weiterhin zu führen.
Mit Bescheid vom 8. 1. 1996 lehnte die beklagte Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft den Antrag des Klägers vom 17. 8. 1995 auf Zuerkennung einer Erwerbsunfähigkeitspension ab.
Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren im zweiten Rechtsgang statt und erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab 1. 9. 1995 eine Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren und eine vorläufige Zahlung von monatlich 3.000 S zu erbringen. Es führte in rechtlicher Hinsicht aus, eine wirtschaftlich zumutbare Umorganisation des Betriebes durch Einstellen einer Ersatzkraft sei nicht möglich gewesen. Der Kläger sei außer Stande, seiner zuletzt ausgeübten oder einer anderen selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten erfordere. Er erfülle damit die Voraussetzungen für die begehrte Pension nach § 133 Abs 2 GSVG.
Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichtes und verwies insbesondere darauf, dass nach den unbekämpften Feststellungen eine Verweisung des Klägers in der Großhandelsbranche nicht in Betracht komme.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache. Sie beantragt die Abänderung im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens.
Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Auszugehen ist davon, dass der Kläger im Rahmen des § 133 Abs 2 GSVG - anders als etwa im Fall der vorzeitigen Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 131c GSVG - zwar einen Berufsschutz, jedoch keinen sogenannten Tätigkeitsschutz genießt (SSV-NF 8/114, 10/56, 11/20, 11/25, 12/54; 10 ObS 316/98p; 10 ObS 36/99p). Auf die konkret im Beobachtungszeitraum ausgeübte Tätigkeit oder die bisherige Betriebsstruktur stellt nur § 131c, nicht aber § 133 Abs 2 GSVG ab; hier geht es vorerst vielmehr um die Situation in solchen Betrieben schlechthin. Das Gesetz stellt bezüglich der Prüfung der Möglichkeit der Weiterführung einer selbständigen Tätigkeit eben nicht auf die bisherige Betriebsstruktur ab, sondern nur auf die Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die durch 60 Monate ausgeübte selbständige Tätigkeit erforderlich waren. Dem Versicherten soll bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 133 Abs 2 GSVG nicht zugemutet werden, völlig neue Kenntnisse zu erwerben oder nunmehr einer unselbständigen Tätigkeit nachzugehen (SSV-NF 9/22, 11/25; 10 ObS 316/98p, 10 ObS 36/99p).
Alle diese Erwägungen betreffen allerdings die erst in zweiter Linie zu beantwortende Frage der Verweisbarkeit eines selbständig Erwerbstätigen, nicht jedoch die primäre Frage, ob seine persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war (§ 133 Abs 2 lit b GSVG). Da das Gesetz von der Notwendigkeit der persönlichen Arbeitsleistung und nicht etwa von ihrer tatsächlichen Erbringung spricht, muss rückschauend geprüft werden, ob diese objektiv im Hinblick auf den betreffenden Betrieb auch erforderlich war (SSV-NF 5/114, 8/114, 11/45; 10 ObS 107/98b, 10 ObS 36/99p). Insoweit kommt es also auf den konkreten Betrieb des Klägers und nicht etwa auf einen idealtypischen (durchschnittlichen) Betrieb eines Getränkegroßhändlers schlechthin an.
Im vorliegenden Fall ist nicht mehr strittig, dass die persönliche Mitarbeit des Klägers zur Aufrechterhaltung seines konkreten Betriebes auch im Rahmen einer wirtschaftlich vertretbaren Betriebsführung notwendig war. Damit ist eine der - neben dem Anfallsalter - wesentlichen Voraussetzungen für die begehrte Pension erfüllt.
Nunmehr stellt sich jedoch die weitere Frage, ob der Kläger außerstande ist, einer (nicht jener) selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die er zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt hat.
Der Novellierung der Bestimmung des § 133 Abs 2 durch die 19. GSVGNov lag die Absicht zugrunde, dass ab dem 50. Lebensjahr für Kleingewerbetreibende zur Beurteilung der dauernden Erwerbsunfähigkeit nur mehr eine qualifizierte Verweisung zulässig sein soll, sowie das auch bei erlernten oder angelernten Berufen unselbständig Erwerbstätiger schon vor dem 50. Lebensjahr der Fall ist. Die neue Regelung lehnt sich daher an die Bestimmungen des ASVG über den Berufsschutz an, wobei die Gesetzesmaterialien, wie sich aus dem Hinweis auf "angelernte und erlernte Berufe" ergibt, offenbar handwerkliche Tätigkeiten und damit die Bestimmung des § 255 ASVG vor Augen hatten. Aus dem Gesetzestext ergibt sich aber keine Einschränkung in dieser Richtung. Die Neuregelung ist daher auch auf selbständige Erwerbstätige anzuwenden, deren Gewerbe nicht eine handwerkliche Tätigkeit zum Gegenstand hat, sondern etwa ein Handelsgewerbe. Im Hinblick auf die inhaltliche Nähe der Regelung des § 133 Abs 2 GSVG zu den Bestimmungen über den Berufsschutz nach dem ASVG, kann für die Prüfung der Voraussetzungen des § 133 Abs 2 GSVG auf die entsprechenden Bestimmungen des ASVG zurückgegriffen werden (SSV-NF 9/22).
Gemäß § 133 Abs 2 GSVG wird das Verweisungsfeld durch die selbständigen Erwerbstätigkeiten gebildet, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten erfordern, wie die vom Versicherten zuletzt durch mindestens 60 Monate ausgeübten. Die Verweisungstätigkeit muss keineswegs der bisher ausgeübten Tätigkeit in allen Punkten entsprechen und es ist wie im Fall des § 255 Abs 1 ASVG auch die Verweisung auf eine selbständige Erwerbstätigkeit, die nur Teilbereiche der bisher ausgeübten umfassen, zulässig, wenn nur für diesen Teilbereich die Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich waren, die der Versicherte bisher benötigte. Dabei kommt der Frage, welche wirtschaftliche Bedeutung ein bestimmter Tätigkeitszweig für den Versicherten im Rahmen des von ihm bisher geführten Betriebes hatte, keine entscheidende Bedeutung zu. Das Gesetz stellt nicht auf die konkret ausgeübten selbständigen Tätigkeiten und die bisherige Betriebsstruktur ab (dies sind Umstände, die im Falle des § 131c GSVG von Bedeutung wären), sondern nur auf die Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die durch 60 Monate ausgeübte selbständige Tätigkeit erforderlich waren. Dem Versicherten soll bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 133 Abs 2 GSVG nicht zugemutet werden, sich völlig neue Kenntnisse zu erwerben oder nunmehr einer unselbständigen Tätigkeit nachzugehen (SSV-NF 9/22, 10/56 ua).
Der Kläger verfügte neben der Gewerbeberechtigung für den Getränkegroßhandel auch über eine solche für ein Transportunternehmen und für den Lebensmittelkleinhandel; daraus ist zu folgern, dass er über die für die Verrichtung der damit zusammenhängenden Arbeiten erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt. Das Vorliegen der Gewerbeberechtigung sagt zwar nichts darüber aus, ob er alle diese Tätigkeiten auch ausgeübt hat. Im Hinblick auf den letzten Satzteil des § 133 Abs 2 ASVG können aber bei Prüfung der Verweisungsmöglichkeit nur Tätigkeiten einbezogen werden, die zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt wurden. Tätigkeiten, für die zwar eine Gewerbeberechtigung vorlag, die aber tatsächlich nicht Gegenstand der selbständigen Tätigkeit waren, sind daher außer Betracht zu lassen. Bildeten sie aber tatsächlich, wenn auch nur in geringerem Umfang, einen Betriebsgegenstand, so ist die Verweisung auf eine selbständige Tätigkeit in diesem Teilbereich zulässig, sofern die Leistungsfähigkeit des Versicherten hiefür ausreicht und im Hinblick auf die Situation des Marktes ein Unternehmen dieser Art im Bundesgebiet erfolgreich geführt werden kann.
Da der Kläger nach dem festgestellten medizinischen Leistungskalkül noch leichte und halbzeitig mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen mit weiteren, oben im Einzelnen genannten Einschränkungen, insbesondere der hier wesentlichen Einschränkung in Hinblick auf das Heben und Tragen von Lasten über 10 kg, verrichten kann, ist er - sieht man vom Heben und Tragen der genannten Lasten ab - entgegen der Annahme der Vorinstanzen von den Tätigkeiten eines Getränkegroßhändlers nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Der Revisionswerber lässt außer Acht, dass es bei Beurteilung dieser Frage nicht auf die Organisation und die wirtschaftliche Situation des vom Kläger geführten konkreten Betriebs ankommt, sondern abstrakt auf den typischen Betrieb eines Getränkegroßhändlers. Die Annahme, ein solcher Großhändler sei schlechthin verpflichtet, über halbzeitig mittelschwere Arbeiten hinausgehende Tätigkeiten zu verrichten und etwa persönlich beim Verladen von Getränkekisten mitzuarbeiten, widerspricht der allgemeinen Lebenserfahrung und ist geradezu weltfremd. Genau so gut könnte man verlangen, dass er Warenlieferungen mit einem Lastkraftwagen persönlich vornimmmt, obwohl er eine nicht unerhebliche Anzahl von Kraftfahrern beschäftigt. Es ist nicht einsichtig, warum ein Getränkegroßhändler mit einem Betrieb ähnlich dem des Klägers beispielsweise sieben Kraftfahrer, nicht aber einen Hilfsarbeiter beschäftigen kann, der die Verladearbeiten für den Geschäftsherrn durchführt. Dass es im Fall des klägerischen Betriebes anders gehandhabt wurde, ist aus den oben genannten Gründen nicht ausschlaggebend. Die Annahme des Erstgerichts, dass Getränkegroßhändler in mittleren und kleineren Betrieben, bei denen es sich um sogenannte Familienbetriebe handle, auch mittelschwere Arbeiten zu leisten hätten, wie beim Be- und Entladen der Fahrzeuge, ist nicht überzeugend. Wenn das Berufungsgericht dazu meint, nach den Feststellungen des Erstgerichtes komme eine Verweisung des Klägers in der Großhandelsbranche nicht in Betracht, so handelt es sich dabei nicht um eine Tatsachenfeststellung, sondern um rechtliche Beurteilung, die vom Obersten Gerichtshof aber nicht geteilt wird.
Selbst wenn man aber davon ausginge, dass der Getränkegroßhandel typischerweise mit den genannten körperlichen Belastungen verbunden und daher dem Kläger auch bei abstrakter Betrachtung nicht mehr zumutbar wäre, müsste er sich aber, wie die Revisionswerberin zutreffend darlegt, auch auf einen anderen Unternehmensgegenstand, etwa auf den Getränkekleinhandel verweisen lassen, bei dem die körperlichen Anforderungen mit seinem Leistungskalkül offenkundig vereinbar wären. Auch die oben im Einzelnen wieder gegebenen Einschränkungen des medizinischen Leistungskalküls stehen dieser Verweisbarkeit nicht entgegen.
Infolge Verweisbarkeit des Klägers auf entsprechende selbständige Erwerbstätigkeiten liegen die Voraussetzungen für die Erwerbsunfähigkeitspension nach § 133 Abs 2 GSVG nicht vor.
Abschließend sei angemerkt, dass die Erwerbsunfähigkeit des Klägers nach § 131c GSVG und die Voraussetzungen für die Erlangung einer vorzeitigen Alterspension aus diesem Grund (etwa mit Vollendung des 57. Lebensjahres am 25. 8. 1998) nicht Gegenstand dieses Verfahrens sind.
Der Revision ist daher Folge zu geben; die Urteile der Vorinstanzen sind im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht dargetan und sind nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.
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