OGH 10ObS316/98p

OGH10ObS316/98p13.10.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Schenk und Dr. Erwin Blazek (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Reingard B*****, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, Wiedner Hauptstraße 84-86, 1051 Wien, vertreten durch Dr. Paul Bachmann ua, Rechtsanwälte in Wien, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30. März 1998, GZ 7 Rs 295/97x-50, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 10. Juli 1997, GZ 14 Cgs 45/95z-34, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei eine Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 4. 1994 zu gewähren, abgewiesen wird.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 18. 8. 1939 geborene Klägerin betreibt seit 1985 mit einer Halbtagskraft eine Tabaktrafik. Zeitweise helfen auch ihr Sohn und ihre Tochter in der Trafik aus. Aufgrund ihres vom Erstgericht im einzelnen festgestellten Gesundheitszustandes ist die Klägerin nur mehr für leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen, bis zu einem Drittel der Arbeitszeit auch im Gehen und Stehen, geeignet. Ausgeschlossen sind Arbeiten auf Leitern und Gerüsten.

Mit Bescheid vom 6. 12. 1994 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 30. 3. 1994 auf Zuerkennung einer Erwerbsunfähigkeitspension mit der Begründung ab, daß die Klägerin noch erwerbsfähig sei.

Das Erstgericht verurteilte die Beklagte (im zweiten Rechtsgang) zur Gewährung der Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 4. 1994, weil die rechtlichen Voraussetzungen hiefür gemäß § 133 Abs 2 GSVG erfüllt seien.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten keine Folge. Es traf - nach Durchführung einer umfangreichen Beweisergänzung - zu den berufsspezifischen Aspekten der Tätigkeiten einen Tabaktrafikanten im allgemeinen und der Klägerin im besonderen zusätzliche Feststellungen und kam ebenfalls zum rechtlichen Ergebnis, daß die Klägerin als erwerbsunfähig anzusehen sei, weil die Tabaktrafikantentätigkeit für sie nur mehr kalkülsüberschreitend möglich sei; auch eine wirtschaftlich vertretbare Umstrukturierung der Trafik greife nicht Platz. Da nicht davon ausgegangen werden könne, daß die Trafikantentätigkeit überwiegend sitzend ausgeübt werde, sei die Klägerin gemäß § 133 Abs 2 GSVG erwerbsunfähig.

Gegen dieses Urteil richtet die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der Beklagten mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung im klagsabweisenden Sinne abzuändern.

Die Klägerin hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Die Revisionswerberin argumentiert in ihrer Rechtsrüge insbesondere unter Bezugnahme auf die Entscheidung dieses Senates vom 14. 4. 1998, 10 ObS 135/98w, dahin, daß die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes im Widerspruch dazu stehe, daß es notorisch sei, daß Trafikanten (etwa mit Beinamputationen, Rollstuhlgebundenheit) in Ausübung ihrer Tätigkeit ausschließlich sitzend vielfach und österreichweit angetroffen werden können.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof folgendes erwogen:

Voranzustellen ist, daß in der gegenständlichen Sozialrechtssache nicht ein Fall des § 131c GSVG (vorzeitige Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit), sondern ein solcher im Sinne des § 133 Abs 2 GSVG (Erwerbsunfähigkeitspension) in der Fassung der 19. Novelle BGBl 1993/336 (in Kraft getreten am 1. 7. 1993) zur Beurteilung ansteht. Als erwerbsunfähig gilt demnach ein Versicherter bzw eine Versicherte, der (die) das 50. Lebensjahr vollendet hat (lit a) und dessen (deren) persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war (lit b), wenn er (sie) infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außer Stande ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die der (die) Versicherte zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt hat. Der Gesetzgeber verfolgte - wie den Materialien in RV 933 BlgNr 18. GP, 25 zu entnehmen ist - mit der Novelle dieser Bestimmung die Absicht, daß "ab dem 50. Lebensjahr für Kleingewerbetreibende zur Beurteilung der dauernden Erwerbsunfähigkeit nur mehr eine qualifizierte Verweisung zulässig sein (soll), so wie das auch bei erlernten oder angelernten Berufen unselbständig Erwerbstätiger schon vor dem 50. Lebensjahr der Fall ist. Ein Tätigkeitsschutz soll (hingegen) zwischen dem 50. und dem 55. Lebensjahr weiterhin nicht bestehen". Auf die konkret im Beobachtungszeitraum ausgeübte Tätigkeit oder die bisherige Betriebsstruktur stellt nur § 131c, nicht aber § 133 Abs 2 GSVG ab (10 ObS 28/97h, 10 ObS 73/97a, 10 ObS 149/97b), sodaß die Feststellungen des Berufungsgerichtes etwa über die wirtschaftliche Situation der Trafik der Klägerin schon aus dieser Überlegung letztlich unerheblich sind. Abzustellen ist vorerst vielmehr auf die Situation in Trafiken schlechthin (Berufs- und kein Tätigkeitsschutz). Das Gesetz stellt - wie ausgeführt - bezüglich der Prüfung der Möglichkeit der Weiterführung einer selbständigen Tätigkeit) eben nicht auf die konkret ausgeübten selbständigen und die bisherige Betriebsstruktur ab, sondern nur auf die Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die durch 60 Monate ausgeübte selbständige Tätigkeit erforderlich waren. Dem Versicherten soll bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 133 Abs 2 GSVG nicht zugemutet werden, völlig neue Kenntnisse zu erwerben oder nunmehr einer unselbständigen Tätigkeit nachzugehen (SSV-NF 9/22, 10 ObS 73/97a).

Mit Angehörigen der Berufsgruppe selbständiger Tabaktrafikanten hatte sich der Oberste Gerichtshof in den letzten Jahren bereits mehrfach zu befassen (SSV-NF 2/70, 9/43, 10/5, 10/56, weiters 10 ObS 2300/96z, 10 ObS 256/97p, 10 ObS 135/98w), wobei ausgesprochen wurde, daß bei der Beurteilung der Organisationsmöglichkeiten eines Trafikanten eher ein strenger Maßstab anzulegen ist, was umsomehr gilt, wenn weiteres Personal vorhanden ist (nach den Festellungen des Erstgerichtes stand der Klägerin neben ihren beiden Kindern eine Halbtagskraft zur Verfügung). Nach der Auffassung der Vorinstanzen steht der weiteren Tätigkeit der Klägerin als Trafikantin der Umstand entgegen, daß die Klägerin leichte Arbeiten überwiegend nur im Sitzen, bis zu einem Drittel der Arbeitszeit auch im Gehen und Stehen, verrichten kann.

Was die beim Tabaktrafikanten zum Teil anfallenden Hebe- und Trageleistungen über 10 kg angeht, so hat der Oberste Gerichtshof bereits wiederholt, etwa in den Entscheidungen SSV-NF 2/70, 9/43, 10/5 und 10/56, ausgesprochen, daß es einem Tabaktrafikanten durchaus zumutbar sei, das Heben und Tragen von für ihn zu schweren Lasten (zum Beispiel von Zeitungspaketen) durch einfache Organisationsmaßnahmen, etwa die Teilung solcher Pakete, zu vermeiden.

Generell ist bei Tabaktrafikanten zu beachten, daß durch § 25 Tabakmonopolgesetz 1968 - TabMG 1968, BGBl 1968/38, idF der Novelle BGBl 1979/62, der an dem für die Klägerin maßgeblichen Stichtag (1. 4. 1994) in Geltung stand, gerade bestimmte Personengruppen aus dem Behinderten- und Schwerbeschädigtenkreis bei der Vergabe von Tabaktrafiken bevorzugt werden sollen. Auf diese Vorzugsrechte griff der Gesetzgeber auch im nunmehrigen § 29 Tabakmonopolgesetz 1996 - TabMG 1996, BGBl 1995/830 - zurück (Bericht des Budgetausschusses 390 BlgNr 19. GP, 6) und normierte im wesentlichen gleiche Vorzugsrechte für Bewerber um eine Tabaktrafik. Tatsächlich werden auch weiterhin speziell bestimmte Personengruppen aus dem Behinderten- und Schwerbeschädigtenkreis mit Erwerbsunfähigkeiten ab zumindest 50 vH als bevorzugte Bewerber erwähnt, sodaß es ein Wertungswiderspruch wäre, solche Personen gleichzeitig dennoch als erwerbsunfähig im Sinne der Sozialversicherungsgesetze einzustufen. Dabei kann es weiterhin als notorisch (§ 269 ZPO) gelten, daß neben den den Vorinstanzen vorschwebenden, nicht augenfällig behinderten Trafikanten auch Trafikanten etwa mit Beinamputationen, Rollstuhlgebundenheit und somit ausschließlich sitzend vielfach und österreichweit anzutreffen sind (10 ObS 135/98w). Daß aber gerade behinderte Personen durch das TabMG 1968 (und auch das TabMG 1996) bevorzugt werden sollen, spricht dagegen, daß solche Tätigkeiten bei Vorliegen von bestimmten gesundheitlichen Einschränkungen nicht verrichtet werden können, und bestätigt damit den in den vorstehend genannten Entscheidungen geforderten strengen Maßstab.

Werden aber Tabaktrafiken notorisch auch von ausschließlich im Sitzen tätigen Trafikanten geführt, dann kann umsoweniger die Notwendigkeit eines "nur" überwiegenden Sitzens (ein Drittel der Arbeitszeit kann bei der Klägerin nach der vom Berufungsgericht übernommen Feststellung des Erstgerichtes auch im Gehen und Stehen verrichtet werden) in der vorliegenden Sozialrechtssache Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 133 Abs 2 GSVG begründen. Kann die Klägerin aber den Beruf einer Trafikantin weiter ausüben, dann stellt sich die Frage der Verweisung auf eine andere Tätigkeit (etwa Trafik ohne Zeitungsverkauf oder Lottokollektur) nicht. Dahingestellt bleiben kann damit auch der weitere Einwand der Revisionswerberin, die persönliche Arbeitsleistung der Klägerin wäre zur Aufrechterhaltung des Betriebes gar nicht notwendig gewesen.

Der Revision der Beklagten war somit mangels Erwerbsunfähigkeit der Klägerin Folge zu geben und spruchgemäß zu entscheiden.

Eine Prüfung der Voraussetzungen des § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG konnte entfallen, weil sich die Klägerin am Revisionsverfahren nicht beteiligt hat.

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