OGH 10ObS35/99s

OGH10ObS35/99s30.3.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Fellinger als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Johann Meisterhofer und Dr. Elmar A. Peterlunger (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Sophie P*****, Landwirtin, ***** vertreten durch Dr. Franz Insam, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Versehrtenrente und Aufrechnung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. Oktober 1998, GZ 7 Rs 194/98y-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 29. April 1998, GZ 31 Cgs 332/97y-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin erlitt am 6. 7. 1996 bei einem Arbeitsunfall einen Riß des inneren Seitenbandes und des vorderen Kreuzbandes am linken Kniegelenk. Die unfallskausale Minderung der Erwerbsfähigkeit betrug vom 6. September 1996 bis 31. Dezember 1997 20 vH und seit 1. Jänner 1998 10 vH.

Mit Bescheid vom 29. August 1994 wurde die Klägerin von der Beklagten ab 1. Jänner 1989 in die Pensionsversicherung nach dem BSVG einbezogen. Ihrem dagegen erhobenen Einspruch wurde vom Landeshauptmann für Steiermark keine Folge gegeben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gab der Berufung der Klägerin gegen diesen Bescheid nicht Folge. Gegen die Entscheidung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 3. Jänner 1997 erhob die Klägerin Bescheidbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, der ihrem gleichzeitig erhobenen Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung mit Beschluß vom 7. Mai 1997 nicht stattgab. Die Beitragsrückstände der Klägerin übersteigen jedenfalls S 5.650.

Mit Bescheid vom 26. November 1997 gewährte die Beklagte der Klägerin für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 6. Juli 1996 eine Gesamtvergütung von S 11.300 entsprechend einer vorläufigen Versehrtenrente von 20 vH im Betrag von monatlich S 600,--, - für den Zeitraum vom 6. September 1996 bis 31. Dezember 1997. Weiters sprach die beklagte Partei aus, daß auf diesen Anspruch aushaftende Beitragsrückstände der Klägerin in Höhe von S 167.361,30 im monatlichen Betrag von S 300,-- - , insgesamt also S 5.650, aufgerechnet werden.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Klage mit dem Begehren auf Gewährung der Versehrtenrente auch ab 1. Jänner 1998 und Auszahlung der vorläufigen Versehrtenrente in voller Höhe, also unter Abstandnahme von der Aufrechnung. Die Klägerin brachte vor, daß auch ab 1. 1. 1998 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenbegründenden Ausmaß vorliege. Die Aufrechnung sei nicht zulässig, weil die ihr von der Beklagten vorgeschriebenen Beiträge infolge ihrer Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof hinsichtlich des Vorliegens einer Pflichtversicherung noch nicht fällig seien.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete im wesentlichen ein, die Aufrechnung sei zulässig, weil die Klägerin den ordentlichen Rechtszug ausgeschöpft habe und der Verwaltungsgerichtshof der Beschwerde der Klägerin keine aufschiebende Wirkung zuerkannt habe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und erkannte die Beklagte - in Wiederholung des durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheides - schuldig, der Klägerin vom 6. September 1996 bis 31. Dezember 1997 eine Gesamtvergütung von S 11.300 abzüglich eines gemäß § 103 ASVG anzurechnenden Betrages von S 5.650 für aushaftende Beitragsrückstände zu zahlen.

Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen wesentlichen Sachverhalt rechtlich dahin, daß die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin nur im Gesamtvergütungszeitraum das rentenbegründende Ausmaß von 20 vH erreiche und die Aufrechnung nach § 103 ASVG zulässig sei, weil die Klägerin der Beklagten seit 1. Jänner 1989 (Pensionsversicherungs-)Beiträge schulde und sich bis zur letzten Instanz erfolglos gegen die Einbeziehung in die Pensionsversicherung nach dem BSVG gewehrt habe. Die Bescheidbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof hindere die Fälligkeit der geschuldeten Beiträge nicht, zumal der Beschwerde der Klägerin eine aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt worden sei.

Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Es trat der Rechtsansicht des Erstgerichtes bei und führte zur Frage der Zulässigkeit der Aufrechnung aus, daß gemäß § 33 Abs 1 BSVG die Beiträge der gemäß § 2 Abs 1 Z 1 und § 3 Abs 1 Z 1 Pflichtversicherten vierteljährlich im Nachhinein vorzuschreiben seien und mit dem Ablauf des Monates, der dem Ende des Vorschreibezeitraumes folge, fällig seien. Dem Einspruch an den Landeshauptmann in Verwaltungssachen komme im Gegensatz zu den nach dem AVG erhobenen Berufungen ex lege keine aufschiebende Wirkung zu, während der Berufung an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales grundsätzlich aufschiebende Wirkung zukomme (§ 64 Abs 1 AVG), sofern diese vom Landeshauptmann aus den im § 64 Abs 2 AVG genannten Gründen nicht ausdrücklich ausgeschlossen werde. Der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof komme nach § 30 Abs 1 VwGG keine aufschiebende Wirkung zu; diese könne aber durch einen Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes unter bestimmten Voraussetzungen zuerkannt werden.

Da somit zum Zeitpunkt der Erlassung des bekämpften Bescheides das ordentliche Verwaltungsverfahren schon abgeschlossen gewesen sei und Beitragsrückstände der Klägerin zumindest im Ausmaß der halben Gesamtvergütung (§ 103 Abs 2 ASVG) fällig gewesen seien, sei die Aufrechnung zulässig. Dies gelte auch für den Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Streitverhandlung (29. April 1998), zumal der Verwaltungsgerichtshof dem ersten Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nicht stattgegeben habe.

Auf den Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 5. Juni 1998, mit dem dem neuerlichen Antrag der Klägerin ihrer Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, stattgegeben worden sei, komme es nicht an, weil in Sozialrechtssachen ausnahmslos das Neuerungsverbot gelte. Darüber hinaus beziehe sich der Aufschub nur auf noch bevorstehende Vollzugshandlungen und nicht auf die bereits gesetzten Vollstreckungshandlungen - wie die hier erfolgte Aufrechnung mit dem Rentenanspruch.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der Klägerin mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern, hilfsweise aufzuheben.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der - wenngleich unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung - geltend gemachte Verfahrensmangel liegt nicht vor. Diesen Verfahrensmangel erblickt die Klägerin darin, daß der bestellte medizinische Sachverständige eine ergänzende Befundaufnahme durch eine röntgenologische Untersuchung für nicht erforderlich hielt. Die Frage, ob ein bereits vorliegendes (medizinisches) Sachverständigengutachten zu ergänzen gewesen wäre, gehört zur Beweiswürdigung und kann im Revisionsverfahren nicht überprüft werden (SSV-NF 7/12 mwN). Das Berufungsgericht hat sich mit der diesbezüglichen Mängelrüge der Klägerin auseinandergesetzt, sodaß auch insoweit kein Mangel des Berufungsverfahrens gegeben ist (SSV-NF 7/74 mwN ua).

Die im angefochtenen Urteil enthaltene rechtliche Beurteilung der Sache ist zutreffend, sodaß grundsätzlich auf deren Richtigkeit verwiesen werden kann (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Den Revisionsausführungen ist ergänzend noch folgendes entgegenzuhalten:

Über die Aufrechnung von geschuldeten Beiträgen auf die vom Versicherungsträger zu erbringenden Leistungen gemäß § 103 Abs 1 Z 1 ASVG bzw der gleichlautenden Bestimmung des § 67 Abs 1 Z 1 BSVG kann vom Arbeits- und Sozialgericht nur entschieden werden, wenn die Beitragsschuld entweder unbestritten ist oder schon rechtskräftig festgestellt ist (vgl Teschner/Widlar, ASVG 66. Erg.-Lfg Anm 2 zu § 103 mwN).

Bei Entscheidungen der Verwaltungsbehörden tritt die Rechtswirkung mit der Unanfechtbarkeit der Entscheidung ein. Der administrative Instanzenzug findet in der Regel mit der Entscheidung des Bundesministeriums sein Ende. Die Verwaltungsgerichtshofbeschwerde ist nur ein außerordentliches Rechtsmittel (vgl RIS-Justiz RS0010241). Wenn daher - wie im vorliegenden Fall - bereits ein rechtskräftiger Verwaltungsbescheid vorliegt, besteht die Bindung des Gerichtes daran auch dann, wenn eine Verfassungsgerichtshof- oder eine Verwaltungsgerichtshofbeschwerde erhoben wurde (vgl SSV-NF 10/121 mwN). Zutreffend hat daher das Berufungsgericht darauf hingewiesen, daß zum Zeitpunkt der Erlassung des bekämpften Bescheides im Hinblick auf die in der strittigen Frage des Vorliegens einer Pflichtversicherung ergangene Entscheidung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 3. 1. 1997 das ordentliche Verwaltungsverfahren schon abgeschlossen war und damit die Versicherungs- und Beitragspflicht (vgl ZfVB 1996/4/1613; 1993/6/1740 mwN) formell rechtskräftig entschieden war. Bei der von der Klägerin erhobenen Bescheidbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof handelt es sich um ein außerordentliches Rechtsmittel, durch das die bereits eingetretene Rechtskraft des Bescheides nicht berührt wird (vgl 1 Ob 1/90 mwN). Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof kommt gemäß § 30 Abs 1 erster Satz VwGG eine aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes nicht zu. Nach § 30 Abs 2 VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof auf Antrag des Beschwerdeführers die aufschiebende Wirkung mit Beschluß zuzuerkennen, insoweit dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung aller berührten Interessen mit dem Vollzug oder mit der Ausübung der mit Bescheid eingeräumten Berechtigung durch einen Dritten für den Beschwerdeführer ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre. Die Frage, ob durch einen Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung (§ 30 Abs 2 VwGG) die rechtsgestaltende Wirkung des formell rechtskräftigen Verwaltungsbescheides aufgehoben wird (RZ 1986/1 mwN), braucht hier nicht untersucht zu werden,weil, wie bereits das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluß vom 7. 5. 1997 dem ersten Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nicht stattgab. Auf den Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 5. 6. 1998, mit dem dem neuerlichen Antrag der Klägerin, ihrer Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, stattgegeben wurde, kommt es nach ebenfalls zutreffender Ansicht des Berufungsgerichtes nicht an, weil auf nach Schluß der Verhandlung in erster Instanz (29. April 1998) eingetretene Änderungen der Sach- oder Rechtslage aufgrund des in Sozialrechtssachen ausnahmslos geltenden Neuerungsverbotes nicht mehr Bedacht genommen werden kann (vgl SSV-NF 10/113 mwN; 4/24; 3/134 uva).

Die Feststellung der Versicherungspflicht, der Versicherungsberechtigung sowie des Beginnes und Endes der Versicherung gehört ebenso wie die Angelegenheiten der Beiträge der Versicherten und ihrer Dienstgeber zu den Verwaltungssachen im Sinne des § 355 ASVG. Den von der Klägerin gegen die Behandlung dieser Angelegenheiten im Verwaltungsweg unter Hinweis auf Art 6 MRK vorgebrachten Bedenken kommt ebenfalls keine Berechtigung zu. Zunächst ist bereits die Frage strittig, ob sozialversicherungsrechtliche Leistungsansprüche überhaupt als "civil rights" im Sinne des Art 6 MRK zu qualifizieren sind (vgl dazu Fink,

Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen 63 ff mwN). Diese Frage stellt sich vor allem aber auch für die im öffentlichen Recht begründete Versicherungspflicht und die damit verbundene Pflicht zur Leistung von Beiträgen zur Sozialversicherung. So hat der Verfassungsgerichtshof in der Vergangenheit bereits die Ansicht vertreten, daß die Verpflichtung zur Leistung von Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung keine zivilrechtliche Verpflichtung im Sinn des Art 6 MRK darstellt (vgl ZfVB 1988/2/693). Selbst wenn man im Sinne der jüngeren Rechtsprechung des EGMR (vgl ÖJZ 1995, 395) davon ausgeht, daß Art 6 Abs 1 MRK auch auf eine Streitigkeit betreffend die Verpflichtung zur Leistung eines Sozialversicherungsbeitrags anwendbar ist, kann im Sinne der Rechtsprechung des EGMR nicht zweifelhaft sein, daß entgegen der Ansicht der Klägerin die Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof in diesen Fällen die Voraussetzungen des Art 6 Abs 1 MRK erfüllt (vgl ÖJZ 1995, 225 und 633; ÖJZ 1993, 782 ua). Zu diesem Ergebnis gelangt man auch unter Berücksichtigung der jüngeren Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach nur über "civil rights" im engeren Sinn (Kernbereich) aufgrund der Anordnungen des Art 6 Abs 1 MRK "Tribunale" unmittelbar in der Sache selbst entscheiden müssen und eine nachprüfende Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts insoweit nicht ausreicht (vgl SZ 66/12 mwN), weil Streitigkeiten über die Versicherungspflicht bzw über die Verpflichtung zur Entrichtung von Beiträgen an die gesetzliche Sozialversicherung keineswegs zum sogenannten "Kernbereich", der sich im wesentlichen mit dem "traditionellen Zivilrecht" deckt (vgl Fink aaO 72 mwN), gehören.

Aufgrund dieser Erwägungen war der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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