OGH 10ObS272/98t

OGH10ObS272/98t10.11.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Hübner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Johann Holper (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Elfriede K*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Mag. Walter Choc, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeiststraße 1, 1021 Wien, im Rekursverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 7. Mai 1998, GZ 8 Rs 87/98w-14, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 27. November 1997, GZ 24 Cgs 23/97f-9, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben und in der Sache selbst das Urteil des Gerichtes erster Instanz wiederhergestellt.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 4.058,88 (darin enthalten S 676,48 USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit S 4.058,88 (darin enthalten S 676,48 USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 27. 8. 1925 geborene Klägerin bedarf aufgrund verschiedener gesundheitlicher Leiden (insbesondere allgemeiner Arterienverkalkung, Hirn- und Herzkranzgefäßdurchblutungsstörungen, Herzrhythmusstörungen, Abnützung der Wirbelsäule und verschiedener Gelenke, Schultergelenksarthrose rechts, sodaß der rechte Arm nicht über die Horizontale gehoben werden kann, etc) der ständigen Betreuung beim Baden und Duschen, bei der Haarwäsche, beim Frisieren und beim Überkopfziehen von Kleidungsstücken sowie der Hilfe bei der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, der Pflege der Leib- und Bettwäsche und der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn.

Mit Bescheid vom 6. 6. 1997 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 8. 4. 1997 auf Zuerkennung eines Pflegegeldes mit der Begründung ab, der Pflegebedarf der Klägerin betrage nicht mehr als 50 Stunden monatlich.

Mit der dagegen gerichteten Klage begehrt die Klägerin erkennbar ein Pflegegeld der Stufe 1 und schlüsselt im Detail auf, daß ihr monatlicher Pflegebedarf 63 Stunden betrage, sohin 50 Stunden übersteige.

Die Beklagte bestritt das Klagevorbringen und beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin ab 1. 5. 1997 ein Pflegegeld der Stufe 1 von S 2.000 (monatlich) zu gewähren. Ausgehend von den einleitend wiedergegebenen wesentlichen Feststellungen gelangte es in rechtlicher Hinsicht zu einem monatlichen Pflegebedarf der Klägerin von 51,5 Stunden. Dabei legte es für Fremdhilfe beim Baden und Duschen inkl. Haarwäsche 4 Stunden monatlich, beim Frisieren 2,5 Stunden monatlich (10 ObS 2318/96x), beim Überkopfziehen von Kleidungsstücken 5 Stunden monatlich (10 ObS 105/94) sowie bei den vier genannten Hilfsverrichtungen je 10 Stunden monatlich (§ 2 Abs 3 EinstV) zugrunde. Aufgrund des monatlichen Pflegebedarfes der Klägerin von durchschnittlich mehr als 50 Stunden gebühre ihr ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 1.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten dagegen aus dem Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobenen Berufung Folge, hob das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache zur Verhandlung und neuerlichen Urteilsfällung an das Erstgericht zurück. Die Beklagte anerkannte in der Berufung einen monatlichen Pflegebedarf der Klägerin von 49 Stunden, bestritt jedoch die Berücksichtigung eines weiteren Aufwandes von 2,5 Stunden für das Frisieren. Das Berufungsgericht sah sich außerstande, diese Frage abschließend zu beurteilen, weil aus dem Ersturteil nicht hervorgehe, inwieweit der Klägerin nicht auch ein Frisieren mit der linken Hand möglich sei. Selbst wenn die Klägerin langes Haar habe und das am Hinterkopf zu einem Knopf zusammengebunden sei, stelle sich die Frage, inwieweit der Klägerin nicht unter dem Gesichtspunkt einer möglichst geringen Belastung der Versichertengemeinschaft zumutbar sei, eine zeitgemäße Kurzhaarfrisur zu tragen, die auch mit der linken Hand frisiert werden könne. Der Versicherte habe zwar Anspruch, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen, dürfe aber nicht eine solche Frisur wählen, die einen die Gewährung des Pflegegeldes rechtfertigenden Betreuungsaufwand erfordere. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil zur Frage, inwieweit dem Versicherten im Rahmen einer selbstbestimmten bedürfnisorientierten Lebensführung im Sinne des § 1 BPGG auch die Entscheidung hinsichtlich eines pflegebegründenden äußeren Erscheinungsbildes zustehe, eine gesicherte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehle.

Gegen diesen Beschluß richtet sich der Rekurs der Klägerin - erkennbar aus dem Grunde der unrichtigen rechtlichen Beurteilung - mit dem Antrag, in der Sache zu erkennen und der Klägerin ein Pflegegeld der Stufe 1 zuzuerkennen; hilfsweise wird beantragt, die Entscheidung des Berufungsgerichtes aufzuheben und dem Berufungsgericht eine neue Entscheidung aufzutragen.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig, weil es sich um ein Verfahren über wiederkehrende Leistungen in Sozialrechtssachen im Sinne des § 46 Abs 3 Z 3 ASGG handelt (§ 519 Abs 1 Z 2 ZPO iVm §§ 45 Abs 3, 47 Abs 2 ASGG); er ist auch berechtigt. Es kann sogleich durch Urteil in der Sache erkannt werden, weil die Streitsache zur Entscheidung reif ist (§ 519 Abs 2 ZPO; Fasching, Lehrbuch2 Rz 1823).

Nicht strittig ist, daß die Klägerin für Betreuung und Hilfe einen monatlichen Pflegebedarf von mindestens 49 Stunden hat. Gegenstand des bekämpften Aufhebungsbeschlusses und des vorliegenden Rekursverfahrens ist ausschließlich die Frage, ob die Klägerin einen für den Pflegegeldanspruch relevanten Betreuungsbedarf beim täglichen Frisieren hat. Daß das Frisieren als Teil der täglichen Körperpflege anzusehen ist, sohin den persönlichen Lebensbereich betrifft und eine Verrichtung ist, ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre (§ 1 Abs 1 und 4 EinstV), ist als selbstverständlich zugrundezulegen und wird auch von der Beklagten nicht angezweifelt (vgl SSV-NF 10/128 zum täglichen Rasieren).

Für die nähere Beurteilung des Frisierens der Klägerin ist vor allem wesentlich, daß die Beklagte in ihrer seinerzeitigen Berufung nur eine Rechtsrüge erhob und die Feststellungen des Erstgerichtes, insbesondere auch jene, daß die Klägerin zufolge Schultergelenksarthrose rechts den rechten Arm nicht mehr über die Horizontale heben kann und daß sie ständiger Betreuung beim Frisieren bedarf, unbekämpft ließ. Diese Feststellungen beruhen auf dem Gutachten des vom Erstgericht bestellten medizinischen Sachverständigen, wonach die Klägerin zufolge ihrer Bewegungseinschränkungen als Rechtshänderin mit der rechten Hand den Kopf zum Frisieren nicht erreicht, während sie zwar mit der linken Hand den Kopf erreicht, sich aber nicht ordentlich frisieren kann und überdies die zweite Hand zumindest begleitend erforderlich wäre (ON 8). Das Berufungsgericht hatte diese Feststellungen mangels Beweis- und Tatsachenrüge der Beklagten in der Berufung gemäß § 498 Abs 1 ZPO seiner Entscheidung zugrundezulegen. Für die vom Berufungsgericht dennoch angestellten Zweifel in tatsächlicher Hinsicht bestand demnach keine rechtliche Grundlage.

Mit den bindenden Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes ist davon auszugehen, daß die Klägerin aufgrund ihres gesundheitlich eingeschränkten physischen Zustandes - ohne Hilfsmittel und ohne Änderung ihrer Frisur - nicht mehr in der Lage ist, sich selbständig zu frisieren. Zu der im Berufungsverfahren aufgeworfenen Frage, ob das Frisieren von der Klägerin ohne Änderung ihrer aktuellen Frisur durch Verwendung eines Hilfsmittels selbständig vorgenommen werden kann oder ob die Klägerin verpflichtet ist, ihre Frisur (laut Berufungsbeantwortung trägt die Klägerin die Haare lang mit einem Knoten am Hinterkopf) so zu "reduzieren", daß ihr ein Frisieren auch nur mit einer, und zwar mit der linken Hand bzw mit der rechten Hand unter Verwendung eines Hilfsmittels möglich ist, ist folgendes zu erwägen:

Richtig ist, daß ein Pflegebedarf nicht anzunehmen ist, als die notwendigen Verrichtungen vom Anspruchswerber durch die Verwendung einfacher Hilfsmittel selbständig vorgenommen werden können (§ 3 Abs 1 EinstV). Als derartiges einfaches Hilfsmittel wird in ständiger Rechtsprechung auch die "Stielbürste" angesehen; dies jedoch nicht zum Frisieren, sondern zur Reinigung des Körpers im allgemeinen (SSV-NF 2/86) bzw im besonderen des Rückens (SSV-NF 4/12), der rechten Körperhälfte mit der rechten Hand (SVSlg 25.439), der unteren Körperpartien (SSV 17/99), unterhalb des Knies (SVSlg 28.813) bzw der Füße (SSV-NF 2/12, 3/72, 9/84; infas 1988, S 68). Auch die seinerzeitigen Richtlinien des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger für die Koordinierung der Beurteilung der Hilflosigkeit durch die Träger der Pensionsversicherung gemäß § 31 Abs 3 Z 20 ASVG sahen in Punkt 7.2 die Stielbürste als relevantes Hilfsmittel nur im Zusammenhang mit der Körperreinigung vor (ARD-HB 1984, 158). Es kann als allgemein bekannt angesehen werden, daß ein Frisieren mit einer an einem langen Stiel befestigten Bürste (oder Kamm) weder in einer sinnvollen Weise möglich noch zumutbar ist, ohne daß hiezu besondere Analysen über Frisuren, Kopfformen und Hebelgesetze angestellt werden müssen.

Bei der erstmals im Berufungsverfahren thematisierten Frage der Änderung der Frisur der Klägerin in eine mit einer Hand beherrschbaren Kurzhaarfrisur handelt es sich im weiteren Sinn um einen Aspekt der Mitwirkungspflichten, die den Versicherten nach ständiger Rechtsprechung im Interesse der Versichertengemeinschaft treffen (SSV-NF 4/23, 5/29, 5/42 uva). Hauptanwendungsfall dieser Mitwirkungspflichten ist die Frage der zumutbaren Behandlung des Versicherten. Den Versicherungsträger trifft dabei aber nicht nur die Beweislast (SSV-NF 5/17), sondern auch die Behauptungslast dafür, daß die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Leistung nicht gegeben sind, wenn (sobald) sich der Versicherte einer ihm zumutbaren Behandlung unterzieht. Die sich aus § 87 Abs 1 ASGG ergebende Verpflichtung des Gerichtes, alle notwendigen Beweise von Amts wegen aufzunehmen, kann sich nur innerhalb der - wenngleich weit zu steckenden - Grenzen des Parteivorbringens bewegen. § 87 Abs 1 ASGG wird daher im Sinne eines umfassenden Rechtsschutzbedürfnisses durch die sich aus § 39 Abs 2 Z 1 ASGG, allenfalls auch § 82 Abs 2 Z 1 und 4 ASGG ergebende Anleitungspflicht ergänzt (vgl Kuderna, ASGG2, 528). Der die Bestimmtheit des Klagebegehrens betreffende § 82 ASGG kann hier außer Betracht bleiben. § 39 Abs 2 Z 1 ASGG normiert die Anleitungspflicht gegenüber Parteien, die nicht Versicherungsträger sind und auch nicht durch eine qualifizierte Person vertreten werden. Für sie gelten die Bestimmungen der §§ 432, 435 ZPO, wobei der Vorsitzende die Parteien über die bei derartigen Arbeits- und Sozialrechtssachen in Betracht kommenden besonderen Vorbringen und Beweisanbietungen, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung (Rechtsverteidigung) dienen können, zu belehren und sie zur Vornahme der sich anbietenden derartigen Prozeßhandlungen anzuleiten hat. Gegenüber der Beklagten als Versicherungsträger bestand jedoch die erweiterte Anleitungspflicht des § 39 Abs 2 Z 1 ASGG nicht. Die amtswegige Beweisaufnahme gemäß § 87 Abs 1 ASGG hatte sich daher innerhalb des Vorbringens der Beklagten zu bewegen (vgl 8 ObS 156/97t; 10 ObS 131/98g; 10 ObS 173/98h). Diesem kann aber selbst bei weitherziger Auslegung nicht entnommen werden, daß der Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld durch eine ihr zumutbare Änderung ihrer Frisur wegfallen würde. Daher brauchte auch das Berufungsgericht nicht darauf eingehen.

Ob das Erstgericht verpflichtet gewesen wäre, die Beklagte gemäß § 182 ZPO zu weiterem Vorbringen anzuleiten, muß nicht geprüft werden, weil eine Verletzung der materielen Prozeßleitungspflicht des Erstgerichtes nicht gerügt wurde.

Nach Ansicht des Senates ging das Erstgericht zutreffend von einem der Höhe nach nicht strittigen Frisieraufwand der Klägerin von 2,5 Stunden monatlich aus (vgl Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich 187 und Bundespflegegeldgesetz 86; SSV-NF 9/84), insgesamt sohin von einem Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 50 Stunden monatlich, der einen Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld der Stufe 1 begründet (§ 4 Abs 2 BPGG).

Die Streitsache ist schon ohne die vom Berufungsgericht gewünschten Ergänzungen zur Entscheidung reif. In Stattgebung des Rekurses der Klägerin war der Aufhebungsbeschluß des Berufungsgerichts aufzuheben und in der Sache selbst das klagestattgebende erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen (§ 519 Abs 2 letzter Satz ZPO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG, wobei die Bemessungsgrundlage gemäß § 77 Abs 2 ASGG S 50.000 beträgt.

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