OGH 10ObS376/97k

OGH10ObS376/97k25.11.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Steinbauer als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Edith Matejka (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Pieb (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj.Sandra L*****, vertreten durch die Mutter Monika L*****, diese vertreten durch Dr.Kurt Dellisch, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wider die beklagte Partei Land Kärnten, Amt der Kärntner Landesregierung, Arnulfplatz 2, 9020 Klagenfurt, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23.Juli 1997, GZ 8 Rs 146/97w-13, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 10.Dezember 1996, GZ 30 Cgs 170/96h-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Bei der am 15.9.1987 geborenen Klägerin liegt eine angeborene hochgradige, an Taubheit grenzende sensoneurale Schwerhörigkeit beiderseits vor. Nach Hörgeräteversorgung beiderseits ohne nennenswerte Sprachperzeption erfolgte im April 1993 eine Cochlearimplantation rechts. Ein Cochlearimplantat vermittelt elektrische Reizimpulse, die verwertet werden müssen. Hiezu ist ein intensives Training notwendig, welches bewirkt, daß das Kind auch sprechen lernt. Bei der Klägerin ist ein Sprachtraining von zwei Stunden täglich unbedingt erforderlich, um den gewünschten Erfolg der Cochlearimplantation zu erzielen. Es finden sich Hinweise auf Verhaltensauffälligkeiten, die sich im Zusammenhang mit der angeborenen Taubheit durch die beeinträchtigte Kommunikationsfähigkeit entwickelt haben. Aufgrund der Taubheit ist es insgesamt zu einer deutlichen Entwicklungsverzögerung gekommen. Insbesondere die deutlich eingeschränkte Kontaktfähigkeit zur Umwelt, wodurch Informationen an die Klägerin nur in einem äußerst geringen Maß weitergebbar sind, das deutlich verspätete Erlernen von sprachlichen und akustischen Fähigkeiten, die Unmöglichkeit, das Kind sich in jenem Ausmaß selbständig zu überlassen wie bei gleichaltrigen Kindern und das verringerte Gefahrenbewußtsein bedingen einen überdurchschnittlichen Aufwand. Dieser Gesamtmehraufwand ist in einer Größenordnung von etwa zwei Stunden täglich gegenüber einem Aufwand anzusehen, der einem normal entwickelten Kind dieser Altersstufe zuzuordnen wäre. Eine eindeutige Trennung zwischen Pflege- und therapeutischen Maßnahmen ist nicht möglich, da fehlende therapeutische Maßnahmen eine Zunahme der pflegerischen Maßnahmen zwangsläufig nach sich ziehen würden.

Die Klägerin begehrt Pflegegeld der Stufe 4 in analoger Anwendung der Bestimmungen des § 7 der Kärntner Einstufungsverordnung (für Blinde).

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und führte aus, daß erst das Vorhandensein einer zur Taubheit zusätzlich vorliegenden Behinderung einen Betreuungs- und Hilfsbedarf rechtfertigen könnten.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin Pflegegeld der Pflegestufe 1 im gesetzlichen Ausmaß ab 1.November 1995 zu bezahlen und wies das Mehrbegehren auf Bezahlung eines weiteren Pflegegeldes der Stufe 4 ab.

Es vertrat die Rechtsansicht, daß das täglich erforderliche zweistündige Sprachtraining eine therapeutische Maßnahme sei und kein Pflegebedarf. Der Betreuungsmehraufwand von zwei Stunden täglich begründe einen monatlichen Betreuungsaufwand von 60 Stunden, der den Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 1 rechtfertige. Eine analoge Anwendung der auf Blinde diagnosebezogenen Mindesteinstufung sei für Taube nicht vorgesehen.

Das Gericht der zweiten Instanz gab der Berufung der Klägerin nicht Folge.

Rechtlich führte es aus, daß weder dem Kärntner Landespflegegeldgesetz wie auch dem Bundespflegegeldgesetz eine abschließende Regelung aller Betreuungsfälle entnehmbar sei. Nur die gängigsten häufigsten Fälle des Betreuungsaufwandes sollten einer Pauschalierung unterworfen werden. Ob auch andere als in § 7 der Einstufungsverordnung genannte Personengruppen einer Mindesteinstufung unterzogen werden sollten, sei verworfen worden, weil die Beurteilung des Pflegebedarfes grundsätzlich nicht diagnosesondern funktionsbezogen erfolgen sollte. Es sei nicht davon auszugehen, daß Personen mit einer betimmten Behinderung jeweils einen weitgehend gleichartigen Pflegebedarf benötigen, weil gerade Faktoren, wie Früherkennung von bestimmten Behinderungen und daraufhin eingeleitete und konsequent durchgeführte Maßnahmen zu erheblichen Differenzen im Pflegebedarf führen können. Die unterschiedliche Regelung unterschiedlicher Sachverhalte vermöge eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes nicht zu begründen. Die Voraussetzung analoger Anwendung der Einstufungsverordnung auf gehörbehinderte Personen verbiete sich, weil eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes nicht vorliege. Im übrigen sei eine Therapie nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofes nicht unter den Begriff der Betreuung im Sinne des § 1 Abs 1 der Kärntner Einstufungsverordnung einzuordnen.

Die gegen diese Entscheidung aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gerichtete Revision der Klägerin mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen im Sinne einer vollen Klagestattgebung abzuändern oder aufzuheben, ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Obwohl der neuropsychiatrische Sachverständige neben dem vom Sachverständigen für HNO festgestellten Gehör- und Sprachtraining von zwei Stunden täglich letztlich den Zeitwert für einen darüber hinausgehenden Mehraufwand im Zusammenhang mit der Mobilitätseinschränkung nicht einschätzen konnte, ist das Erstgericht unbekämpft von einem Pflegeaufwand von zwei Stunden täglich ausgegangen, was auch zur rechtskräftigen Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 1 führte. Es bleibt daher, weil ein anderer Pflegebedarf von den Sachverständigen nicht festgestellt werden konnte, nur zu beurteilen, ob das Sprach- und Gehörtraining von zwei Stunden täglich einen weiteren Pflegebedarf begründe.

Entgegen der Meinung der Revisionswerberin ist das Angewiesensein auf einen Rollstuhl zur Fortbewegung nicht dem Angewiesensein der Klägerin auf das angebrachte Implantat vergleichbar, so daß die von ihr begehrte Analogie zu § 8 EinstV zum KtnPGG (EinstV) nicht in Frage kommen kann. Der Verordnungsgeber ist im Sinne des § 4 Abs 5 Z 4 KtnPGG davon ausgegangen, daß bei Personen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, körperliche Ausfälle bestehen, die, je nach Intensität der Ausfälle (§ 8 Z 1 - 3 EinstV), was die notwendige Hilfe und Betreuung betrifft, einen weitgehend gleichartigen Bedarf bedingen. Während in Fällen, in denen eine Pauschalierung im Sinne des § 4 Abs 5 Z 4 EinstV nicht vorgenommen wurde, der notwendige Hilfs- und Betreuungsbedarf funktionsbezogen zu ermitteln und im Einzelfall zu erheben ist, in welchem Umfang Hilfe und Betreuung erforderlich ist, geht der Verordnungsgeber davon aus, daß bei Personen, die auf die Benützung eines Rollstuhls angewiesen sind, ein solcher Bedarf in dem in § 8 EinstV bezeichneten Umfang besteht. Der dort genannte Stundenaufwand versteht sich als Pauschalierung der in den vorhergehenden Bestimmungen für die einzelnen Verrichtungen genannten Werte für die einzelnen Betreuungs- und Hilfsverrichtungen. Die von der Klägerin gewünschte Analogie scheitert schon daran, daß hier nicht ein Betreuungs- oder Hilfsaufwand im Sinne der §§ 1 ff KtnPGG in Frage steht, sondern eine therapeutische Maßnahme, die diesem Aufwand nicht zugerechnet werden kann.

Bei Pflege und Hilfe, welche Begriffe im Gesetz nicht definiert sind, handelt es sich zumindest im weiteren Sinn um lebenswichtige Verrichtungen nichtmedizinischer Art. Betreuung sind alle in relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen anderer Personen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Hilfe sind aufschiebbare Verrichtungen anderer Personen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich sind (10 ObS 2460/96d). Das intensive Sprach- und Gehörtraining dient dazu, die Reizimpulse des Implantats dazu zu verwerten, daß das Kind auch sprechen lernt und seine Kommunikationsfähigkeit verbessert. Das Sprach- und Gehörtraining ist aber wie eine Therapie eine Maßnahme, um fehlende oder eingeschränkte Sinnesempfindungen wie hier die Kommunikationsfähigkeit zu ermöglichen, zu verbessern oder zu entwickeln (vgl 10 ObS 2393/96a).

Der Oberste Gerichtshof hat schon wiederholt ausgesprochen, daß eine solche Therapie, die der Heilung und Behandlung von körperlichen Beeinträchtigungen dient, weder der Betreuung noch der Hilfe zuzurechnen ist (10 ObS 2393/96a, 10 ObS 2460/96d, 10 ObS 187/97s). Das Sprach- und Gehörtraining gehört nicht zu den den persönlichen Lebensbereich betreffenden in § 1 der Kärntner Einstufungsverordnung genannten, zur Sicherung der Existenz erforderlichen Verrichtungen wie An- und Auskleiden, Aufstehen, Körperpflege, Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, Verrichtung der Notdurft, Einnahme von Medikamenten und Mobilitätshilfe im engeren Sinn wie Aufstehen, Zubettgehen, Umlegen etc oder sonstige auf den häuslichen Bereich ausgerichteten Maßnahmen. Auch den taxativ in § 2 Abs 2 Kärntner Einstufungsverordnung aufgezählten Hilfsverrichtungen kann das Sprach- und Gehörtraining nicht zugezählt werden (Pfeil BPflGG, 91; 10 ObS 2452/96b).

Bei hochgradig Sehbehinderten, Blinden, Taubblinden, aber auch Rollstuhlfahrern ist es einsichtig, daß ein Pflegebedarf besteht, der bei diesen Gruppen weitgehend gleichartig ist. Das Sprach- und Gehörtraining ist weder Pflege noch Hilfeverrichtung, sondern eine auf den Einzelfall zugeschnittene Therapie, so daß hier ungeachtet einer Verordnungsermächtigung oder Verordnungsverpflichtung die Voraussetzung für eine Mindesteinstufung im Sinne einer Pauschalierung fehlt. Aus dem Wort "insbesondere" in § 4 Abs 5 Kärntner Einstufungsverordnung ist auch abzuleiten, daß nicht sämtliche denkbaren Verrichtungen von der Verordnungsregelung erfaßt sein müssen, daß diese sohin die einzige Grundlage für die Beurteilung des Pflegeaufwandes bildet. Nur die gängigen und häufigsten Fälle des Betreuungsaufwandes sollen der Pauschalierung unterworfen werden (SSV-NF 9/75).

Die verfassungsmäßigen Bedenken, daß der Gleichheitssatz dadurch verletzt wäre, daß nicht für Taube mit einem Cochlearimplantat und dem erforderlichen Sprach- und Gehörtraining Mindesteinstufungen wie für Sehbehinderte und Gelähmte (Rollstuhlfahrer) vorgenommen worden sind, können nicht geteilt werden. § 4 Abs 5 Kärntner Pflegegeldgesetz und §§ 7 und 8 Kärntner Einstufungsverordnung kommen nicht zur Anwendung, weil das Sprach- und Gehörtraining nicht dem Pflegebedarf zuzurechnen ist. Daß Hilfe und Betreuung im persönlichen Lebensbereich erforderlich wäre, die - im Verhältnis zu einem nichtbehinderten Kind - einen 60 Stunden übersteigenden Mehraufwand bedingen würde, kam nicht hervor (SSV-NF 9/97).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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