OGH 8ObA251/97p

OGH8ObA251/97p18.9.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Petrag als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rohrer und Dr. Spenling sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Waltraud Bauer und Mag. Karl Dirschmied als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Alois F*****, Angestellter, ***** vertreten durch Dr. Charlotte Böhm ua, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei J***** AG, ***** vertreten durch Dr. Alfred Strommer ua, Rechtsanwälte in Wien, wegen Anfechtung einer Entlassung (Streitwert S 770.910 brutto sA) infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 6. November 1995, GZ 7 Ra 105/96d-32, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien, vom 27. April 1995, GZ 24 Cga 13/94w-27, bestätigt wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Arbeitsrechtssache wird an das Prozeßgericht erster Instanz zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Urteilsfällung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der seit 5. 9. 1973 - zuletzt als Koch - bei der Beklagten angestellte Kläger wurde am 17. 1. 1994 entlassen, weil bei ihm bei einer am 15. 1. 1994 bei Dienstschluß durchgeführten Taschenkontrolle nicht bezahlte Waren im Wert von S 251,20 - darunter aus der Originalverpackung in ein Papiersäckchen umgefüllte Teigwaren - gefunden worden waren. Der Betriebsrat erhob mit Schreiben vom 17. 1. 1994 Widerspruch gegen die Entlassung, kam aber dem Verlangen des Klägers um deren gerichtliche Anfechtung nicht nach.

Der Kläger begehrt, die Entlassung für rechtsunwirksam zu erklären. Er habe keinen Entlassungsgrund gesetzt. Die bei ihm gefundenen unbezahlten Waren habe er zu zahlen vergessen. Zu diesem Versehen sei es gekommen, weil er an multipler Sklerose mit reaktiven Depressionen und einem daraus folgenden Psychosyndrom mit einer Herabsetzung des Neuzeitgedächtnisses, der Konzentration und der Merkfähigkeit leide. Überdies habe er damals wegen einer Grippeerkrankung neben den von ihm ohnedies einzunehmenden schweren Medikamenten ein Grippemittel eingenommen, das Benommenheit hervorrufen könne. Er habe jedenfalls nicht mit dem Vorsatz gehandelt, die Waren nicht zu bezahlen. Es liege der Anfechtungsgrund des § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG vor, weil der Verlust des Arbeitsplatzes für den Kläger angesichts der von ihm bewiesenen Betriebstreue, seines fortgeschrittenen Alters, seines schlechten Gesundheitszustandes, der gespannten Arbeitsmarktlage, seiner familiären Situation und der dadurch bedingten Zahlungsverpflichtungen eine besondere soziale Härte bedeuten würde.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Der Kläger sei berechtigt entlassen worden. Er habe den ihm vorgeworfenen Diebstahl gestanden und überdies drei weitere von ihm verübte Diebstähle zugegeben. Überdies sei die Entlassung nicht sozialwidrig. Es liege jedenfalls ein in der Person gelegener Kündigungsgrund vor, der die betrieblichen Interessen nachteilig berühre. Eine Weiterbeschäftigung des Klägers sei ihr nicht zumutbar.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Es stellte ua fest, daß der Kläger zuletzt monatlich brutto S 16.855.- zuzüglich einer Verkaufsprämie von S 1.500 brutto (jeweils 14 mal) verdient habe und wegen seiner beruflichen Qualifikation trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen, trotz seines Alters und trotz des Umstandes, daß er entlassen worden sei, innerhalb von vier bis fünf Monaten ab der Entlassung eine adäquate Beschäftigung als Koch erlangen könne, wobei er auf jeden Fall das Mindestgehalt nach dem Kollektivvertrag der Handelsangestellten in der Verwendungsgruppe 3 von S 18.260,- brutto monatlich zuzüglich einer Verkaufsprämie von S 1.500,- verdienen könne. Auf dieser Grundlage verneinte es eine Beeinträchtigung wesentlicher Interessen des Klägers, weil dieser innerhalb der vom Entlassungstag berechneten Kündigungsfrist eine neue Stelle erlangen hätte können, ohne Gehaltseinbußen hinnehmen zu müssen. Da somit die Entlassung nicht erfolgreich angefochten werden könne, seien Beweisaufnahmen und Feststellungen zur Frage, ob der Kläger überhaupt einen Entlassungsgrund gesetzt habe, entbehrlich.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen, vertrat aber die Rechtsauffassung, daß im Anfechtungsverfahren nach § 106 ArbVG zunächst zu prüfen sei, ob ein Entlassungsgrund gegeben sei. Dies sei zu bejahen, weil sich der Beklagte durch die unstrittige Entnahme von Lebensmitteln für private Zwecke einer Handlung schuldig gemacht habe, die ihn des Vertrauens seines Dienstgebers unwürdig iS des § 27 Z 1 AngG gemacht habe. Die Entlassung sei daher berechtigt gewesen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung iS der Stattgebung der Klage abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des darin enthaltenen Aufhebungsantrages berechtigt.

Im Anfechtungsverfahren nach § 106 ArbVG ist zunächst zu prüfen, ob ein Entlassungsgrund vorliegt. Wird diese Frage bejaht, kommt es auf die geltend gemachten Anfechtungsgründe überhaupt nicht an. Erst wenn das Vorliegen eines Entlassungsgrundes verneint wird, hat das Verfahren nach denselben Grundsätzen und mit denselben Beurteilungskriterien stattzufinden, wie bei einer Kündigungsanfechtung (9 ObA 228/94; Schwarz in Cerny/Haas-Laßnigg/Schwarz, ArbVG III 258). Diese Rechtslage hat das Berufungsgericht richtig erkannt. Seine Rechtsauffassung, die Entlassung erweise sich schon aufgrund des unstrittigen Sachverhaltes als berechtigt, ist aber unzutreffend, weil sie den Einwand des Klägers unbeachtet läßt, er habe das Bezahlen der von ihm entnommenen Waren wegen durch Krankheit und Medikamentenkonsum bedingter Benommenheit bzw. Gedächtnisstörung vergessen.

Anders als der Entlassungsgrund der Untreue (§ 27 Z 1 AngG, 1. Tatbestand) wird zwar der vom Berufungsgericht angezogene Entlassungsgrund der Vertrauensunwürdigkeit (§ 27 Z 1 AngG, 3. Tatbestand) nicht nur durch vorsätzliches Verhalten des Angestellten verwirklicht. Auch der zuletzt genannte Entlassungsgrund setzt aber schuldhaftes Verhalten - wenn auch nur in Form von Fahrlässigkeit - voraus (SZ 65/134 uva; Kuderna, Entlassungsrecht 86f). Hätte sich der Kläger daher - so wie er behauptet - im maßgeblichen Zeitpunkt tatsächlich in einem schuldhaftes Verhalten ausschließenden Zustand befunden, könnte ihm seine an sich pflichtwidrige Handlung nicht als Entlassungsgrund angelastet werden.

Ausgehend von ihren dargestellten, vom Obersten Gerichtshof nicht gebilligten Rechtsauffassungen haben sich die Vorinstanzen aber mit den dazu erstatteten Behauptungen und Beweisanträgen des Klägers nicht befaßt, sodaß ihre Urteile in Stattgebung der Revision aufzuheben sind und die Arbeitsrechtssache an das Erstgericht zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen ist.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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