OGH 9ObA228/94

OGH9ObA228/9430.11.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Klinger als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Maier und Dr.Petrag sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Heinrich Basalka und Franz Murmann als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Helmut B*****, Angestellter, ***** vertreten durch Dr.Georg Grießer und Dr.Roland Gerlach, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Creditanstalt*****, vertreten durch Dr.Alfred Strommer und andere, Rechtsanwälte in Wien, wegen Anfechtung einer Entlassung (Streitwert S 1,500.000,-), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3.August 1994, GZ 32 Ra 92/94-18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 24.Februar 1994, GZ 23 Cga 132/93m-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Prozeßgericht erster Instanz wird eine neuerliche Entscheidung nach Ergänzung des Verfahrens aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 7.5.1958 geborene Kläger war seit 1.9.1975 zuletzt als Filialleiter bei der beklagten Partei beschäftigt. Am 21.5.1993 wurde er entlassen.

Mit der vorliegenden Klage begehrt er, die am 21.5.1993 ausgesprochene Entlassung für rechtsunwirksam zu erklären. Er habe keine Entlassungsgründe gesetzt, so daß die Entlassung ungerechtfertigt erfolgt sei. Der Betriebsrat habe gegen die Entlassung Widerspruch erhoben. Die Personalabteilung der beklagten Partei habe ihm vorher noch angeboten, das Dienstverhältnis zum 31.12.1993 selbst zu beenden. Da er diesfalls zwar die Abfertigung erhalten, aber die Administrativpension verloren hätte, habe er dieses Angebot abgelehnt. Die Entlassung sei somit aus einem verpönten Motiv gemäß § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG erfolgt und im übrigen sozial ungerechtfertigt. Die Auflösung des Dienstverhältnisses habe wesentliche Interessen beeinträchtigt. Abgesehen von den finanziellen Verlusten (günstiger Urlaub, Bilanzgeld, Jubiläumsgeld, Pension udgl) habe der Kläger mit einer langandauernden Arbeitslosigkeit zu rechnen. Zufolge der Entlassung sei der Kläger auf dem Bankensektor nicht mehr vermittelbar. Im übrigen habe die beklagte Partei die Entlassung verspätet ausgesprochen und im Hinblick darauf, daß der Kläger bei der beklagten Partei lange beschäftigt gewesen sei, auch verwirkt.

Die beklagte Partei beantragte, das Klagebegehren abzuweisen. Der Kläger sei zu Recht entlassen worden. Er habe weisungswidrig und entgegen den Insider-Richtlinien eine bevorzugte Zuteilung anläßlich einer Kapitalmarkttransaktion vorgenommen, wodurch er kurzfristig einen Kursgewinn (Kursschnitt) von S 15.365,60 lukriert habe. Im Zuge der Nachforschungen habe er versucht, den wahren Zusammenhang zu verschleiern. Überdies habe er einen erst 21 Jahre alten, unerfahrenen Mitarbeiter in der Filiale anvertraut, daß man bei Effekten-Kassengeschäften dadurch Geld auf unreelle Weise erlangen könne, indem man Insider-Informationen für den Eigenbedarf mißbrauche. Der Mitarbeiter habe zugegeben, daß er das Wissen über die Sparbuchmanipulation, die zu einer Veruntreuung von S 700.000,-

durch den Mitarbeiter geführt habe, vom Kläger erlangt hätte.

Nach der Suspendierung des Klägers am 17.5.1993 habe der Vorsitzende des Betriebsrats eine vergleichsweise Bereinigung vorgeschlagen; dem Kläger sollte die Möglichkeit gegeben werden, spätestens zum 31.12.1993 selbst zu kündigen. Die Personalabteilung der beklagten Partei habe aus sozialen Gründen erwogen, dem Vorschlag des Betriebsrats näher zu treten. Da der Kläger diesen Vorschlag am 21.5.1993 aber abgelehnt habe, sei die Entlassung ausgesprochen worden. Von einem Filialleiter müsse ein besonders hohes Maß an Integrität verlangt werden. Der Kläger habe das in ihn gesetzte Vertrauen gröblich mißbraucht.

Der Kläger erleide aus der Beendigung des Dienstverhältnisses keine wesentlichen sozialen Nachteile. Er könne im Hinblick auf sein Alter von 35 Jahren und seine Qualifikation leicht einen anderweitigen Arbeitsplatz finden. Im übrigen liege subsidiär ein in der Person des Klägers gelegener Kündigungsgrund vor, der die betrieblichen Interessen nachteilig berühre, so daß die Beendigung des Dienstverhältnisses jedenfalls zu Recht erfolgt sei.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf im wesentlichen folgende Feststellungen:

Der Kläger trat nach Absolvierung einer dreijährigen Handelsschule in die Dienste der beklagten Partei. Mit 1.6.1989 wurde er mit den Agenden eines Leiters einer Filiale betraut und am 1.6.1990 zum Filialleiter bestellt. Sein letzter Monatsbruttobezug betrug S 37.212,- vierzehnmal jährlich. Der Betriebsrat widersprach seiner Entlassung, kam aber der Aufforderung des Klägers, Klage zu erheben, nicht nach.

Vor der Entlassung bot die beklagte Partei dem Kläger an, das Dienstverhältnis einvernehmlich zu beenden. Der Kläger hätte diesfalls sein Gehalt bis zum Ablauf der Kündigungsfrist und die Abfertigung erhalten. Der Kläger wollte aber auch die ihm bei Dienstgeberkündigung zustehende Pension, was die beklagte Partei ablehnte. Bei intensiver persönlicher Arbeitssuche wäre es dem Kläger bis spätestens drei Monate nach der Entlassung möglich gewesen, wieder eine Beschäftigung als Filialleiter einer Bank zu erlangen. Das zu erwartende Bruttomonatsgehalt beträgt S 35.000,- bis 37.000,-, vierzehnmal jährlich. Bei Bekanntwerden des Entlassungsgrundes ist aber mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, daß der Kläger im Bankbereich überhaupt keine Anstellung mehr erhält. Außerhalb des Bankbereichs wird es ihm bestenfalls nach einer beruflichen Umorientierung mit diversen Schulungen in der Dauer von 1 1/2 bis 2 Jahren möglich sein, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Tatsächlich hat der Kläger bis zum Schluß der mündlichen Streitverhandlung (7.12.1993) noch keine neue Anstellung gefunden.

Das Erstgericht vertrat im wesentlichen die Rechtsauffassung, daß eine Entlassungsanfechtung zwar voraussetze, daß keine gerechtfertigte Entlassung vorliege, im gegenständlichen Verfahren das Vorliegen eines Entlassungsgrundes aber nicht geprüft werden müsse; diese Frage sei dem Verfahren vorbehalten, in dem der Kläger Schadenersatzansprüche gemäß § 29 AngG geltend mache. Das Klagebegehren sei nämlich schon mangels Vorliegens der Anfechtungsgründe des § 105 Abs 3 ArbVG abzuweisen. Werde der Entlassungsgrund nicht bekannt, sei der Kläger innerhalb der Kündigungsfrist vermittelbar. Er könne eine gleichwertige Beschäftigung finden, wobei das zu erwartende Bruttomonatsgehalt bei durchschnittlich S 36.000,- liege. Seine Gehaltseinbuße betrage nicht einmal 5 %. Die Kündigung sei weder sozialwidrig noch aus dem verpönten Motiv des § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG erfolgt. Der Kläger habe lediglich einen ihm nicht zustehenden Anspruch geltend machen wollen. Er habe die Pension auch für den Fall verlangt, daß er selbst das Dienstverhältnis beende, obwohl ihm nach seinem eigenen Vorbringen die Pension in diesem Fall nicht zugestanden wäre. Bei Bekanntwerden des Entlassungsgrundes sei mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, daß der Kläger überhaupt keine Anstellung im Bankenbereich mehr finden werde. Dies gelte aber ohne Zweifel nur für den Fall, daß ein Entlassungsgrund gesetzt worden und die Entlassung zu Recht erfolgt sei. Andernfalls wäre jeder Dienstnehmer im Bankenbereich, der ungerechtfertigt entlassen werde, schon auf Grund der ungerechtfertigten Entlassung sozial beeinträchtigt; das könne naturgemäß nicht der Fall sein.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes, über den es entschieden habe, S 50.000,- übersteige. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichtes und führte ergänzend aus, daß es bei der Frage der Sozialwidrigkeit einer Kündigung nicht immer auf den Prozentsatz des Einkommensverlustes ankomme, sondern darauf, ob der Dienstnehmer den Arbeitsplatz zur Sicherung des Lebensunterhaltes brauche. Dies könne aber nicht soweit gehen, daß bei jeder Art der Entlassung Sozialwidrigkeit anzunehmen sei. Es seien bestimmte Richtwerte anzunehmen, die derzeit bei ungefähr 10 % Einkommensverlust anzusetzen seien. Der lediglich die 5 %-Grenze ein wenig überschreitende Einkommensverlust des Klägers stelle aber sicherlich keine Basis für eine Sozialwidrigkeit dar.

Gegen dieses Urteil richtet sich die aus dem Grund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobene Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist im Sinne des Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen kann ein Anfechtungsverfahren gemäß § 106 Abs 2 ArbVG nicht losgelöst von der Tatsache der Entlassung unter der Fiktion einer bloßen Dienstgeberkündigung ausschließlich im Sinne des § 105 Abs 3 ArbVG durchgeführt werden. In einem Anfechtungsverfahren nach § 106 ArbVG ist vielmehr zunächst zu prüfen, ob ein Entlassungsgrund vorliegt. Wird diese Frage bejaht, kommt es auf die geltend gemachten Anfechtungsgründe überhaupt nicht mehr an. Erst wenn das Vorliegen eines Entlassungsgrundes verneint wird, hat das Verfahren nach denselben Grundsätzen und mit denselben Beurteilungskriterien stattzufinden wie bei einer Kündigungsanfechtung (vgl B.Schwarz in Cerny/Haas-Laßnigg/B.Schwarz, ArbVG 3,258 uva). Die augenfällige Tatsache der Entlassung (21.5.1993) steht aber auch in diesem Fall in engem Zusammenhang mit der anzustellenden Prognose, ob durch die Auflösung des Dienstverhältnisses wesentliche Interessen des betroffenen Arbeitnehmers beeinträchtigt werden. Es liegt auf der Hand, daß eine erfolgreiche Arbeitsplatzsuche durch die von der beklagten Partei behaupteten Entlassungsgründe schwer beeinträchtigt wird. Es wäre lebensfremd anzunehmen, daß bei der Einstellung eines Filialleiters die Gründe, die für die vorzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses maßgeblich waren, von den Kreditinstituten nicht genau geprüft würden (S.55 f und 71 des Aktes). Das verkennt auch das Erstgericht nicht; dennoch gehen die Vorinstanzen ohne weitere Begründung davon aus, daß der Kläger ohne weiteres als "Filialleiter" vermittelbar sei. Diese Feststellung steht im offenen Widerspruch zur ebenfalls festgestellten Tatsache, daß der Kläger bei Bekanntwerden des Entlassungsgrundes mit großer Wahrscheinlichkeit überhaupt keine Anstellung im Bankbereich mehr finden werde. Die Vorinstanzen lassen aber jegliche Erörterung darüber vermissen, warum im konkreten Fall dem ins Auge springenden Beendigungszeitpunkt (21.5.1993) kein Auffälligkeitswert zukommen sollte, der Bankenbereich im Fall des Klägers keine Nachforschungen anstellen würde und der Kläger über Befragen unrichtige Behauptungen über die Beendigungsart aufstellen sollte, welche doch nur die Gefahr eines neuerlichen Vertrauensverlustes beim neuen Dienstgeber nach sich ziehen könnten. Die Arbeitsrechtssache ist somit in mehrfacher Hinsicht noch nicht spruchreif.

Das Erstgericht wird ergänzend vorerst die Berechtigung der Entlassung des Klägers (Entlassungsgründe) zu prüfen haben. Erfolgte die Entlassung unberechtigt, sind ausgehend von der stigmatisierenden Tatsache der (wenn auch nicht gerechtfertigten) Entlassung die Anfechtungsgründe im Sinne des § 105 Abs 3 ArbVG zu prüfen, zumal die Auflösung des Dienstverhältnisses eben nicht durch Kündigung, sondern durch Entlassung erfolgt ist und die bloß hypothetische Annahme einer Kündigung der Sachlage nicht gerecht werden könnte.

Die Kostenentscheidung ist in § 52 ZPO begründet.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte