Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung
Der Patient Johannes K***** wurde am 2.7.1996 nach § 8 UbG mit der Diagnose "ausgeprägtes manisches Zustandsbild" in der NÖ. Landesnervenklinik M***** aufgenommen. Noch am gleichen Tag erhielt der Patient, obwohl er sich dagegen zur Wehr setzte, eine Injektion von 200 mg Cisordinol Depot, ein stark sedierendes Neuroleptikum. Bei der Erstanhörung nach § 19 UbG am 4.7.1996 wurde seine Unterbringung vorläufig für zulässig erklärt und die mündliche Verhandlung für den 18.7.1996 anberaumt. Die darüber hinausgehende Unterbringung wurde am 18.7.1996 für unzulässig erklärt.
Cisordinol ist ein Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung eines manischen Syndroms und kann in verschiedenen Anwendungsformen verabreicht werden. Als kurz wirksame intramuskuläre Injektion, als intravenöse Infusion und als intramuskuläre Injektion mit leicht verzögernder Wirkung. Diese sogenannte Acutardform wirkt nach einigen Stunden und hält zwei bis drei Tage an. Die gegenständliche Depotabgabe entfaltet erst nach einem halben bis einem Tag ihre Wirkung und hält dann ein bis zwei Wochen an. Aus rein medizinischer Sicht ist dieses Vorgehen, nämlich die Verabreichung einer 200 mg Cisordinol-Depot-Injektion, eine nachvollziehbare Behandlung und entspricht dem Stand der Wissenschaft und der klinischen Praxis. Vom behandelnden Arzt wurde erwartet, daß das ausgeprägte manische Zustandsbild des Patienten damit nicht nur möglichst bald, sondern auch möglichst anhaltend behandelt wird. Ohne entsprechende Medikation wäre nämlich zu befürchten gewesen, daß sich der Krankheitszustand des Patienten massiv verschlechtert.
Allein schon aufgrund der Krankheitssymptome (ausgeprägtes manisches Syndrom) in Verbindung mit ernstlichen und erheblichen Selbstgefährdungstendenzen war die Persönlichkeit des Patienten bereits in einem hohen Maße beeinträchtigt, sodaß durch die Verabreichung des gegenständlichen Medikaments aus medizinischer Sicht von einer weiteren körperlichen Beeinträchtigung durch das Medikament nicht gesprochen werden kann. Die Stimmung des manisch kranken Patienten wird durch die Medikation vielmehr wieder zur Norm verändert. Die auftretenden Nebenwirkungen (Muskelsteifigkeit, Zittern, erhöhter Speichelfluß) sind durch Zusatzmedikamente behandelbar.
Die Einsichts- und Urteilsfähigkeit war beim Patienten zum Zeitpunkt der Verabreichung des gegenständlichen Depotmedikaments aufgrund seiner Erkrankung massiv herabgesetzt und eingeschränkt, weshalb der Patient den Ausführungen des behandelnden Oberarztes, der den Patienten von früheren Aufenthalten kannte, hinsichtlich der Notwendigkeit der Medikamenteneinnahme nicht in ausreichender Art und Weise folgen konnte. Aus diesem Grund und mangels vorhandener Kooperation von seiten des Patienten war weder eine orale Medikamentenverabreichung noch eine Infusionstherapie möglich.
Als einzige Alternative zur Depotinjektion ist einerseits die oben beschriebene intramuskuläre Injektion mit einem rasch wirkenden Cisordinol, andererseits die intramuskuläre Injektion mit der Acutardform des Cisordinols anzusehen.
Von der beabsichtigten Depotinjektion wurde das Gericht nicht verständigt.
Bei der Erstanhörung beantragte der Patientenanwalt die Überprüfung der Behandlung des Betroffenen gegen seinen Willen vom 2.7.1996.
Das Erstgericht erklärte die am 2.7.1996 vorgenommene Heilbehandlung in Form der Verabreichung von 200 mg des Depotmedikamentes Cisordinol im zweiten Rechtsgang für unzulässig. Behandlungen, die die körperliche Integrität des Patienten intensiv und nachhaltig beeinflussen oder die mit Schmerzen, besonderen Gefahren oder erheblichen Nebenwirkungen verbunden seien, seien als besondere Heilbehandlungen einzustufen. Die persönlichkeitsverändernde Wirkung einer Maßnahme allein reiche allerdings noch nicht für diese Annahme aus, weil dies bei jeder psychiatrischen Behandlung mehr oder minder ausgeprägt sei. Übersteige die Wirkungsdauer von Depotbehandlungen die vorgesehene Unterbringungsdauer, so liege immer eine besondere Heilbehandlung vor. Wenngleich die Verabreichung des gegenständlichen Depotmedikamentes zu keiner weiteren Beeinträchtigung der Persönlichkeit des Patienten geführt habe als jener, die ohnehin schon durch das ausgeprägte manische Syndrom verursacht worden sei, sei es dem behandelnden Arzt nicht zugestanden, eine über die in § 19 Abs.1 UbG vorgesehene viertägige Frist bis zur Erstanhörung hinausgehende Wirkung mit diesem Medikament beim Patienten zu erzielen. Eine Gefährdung des Lebens des Patienten bzw. die Gefahr einer schweren Schädigung seiner Gesundheit ohne die Verabreichung der gegenständlichen Depotspritze habe nicht vorgelegen. Selbst wenn man zum Ergebnis komme, daß die Verabreichung des Depotneuroleptikums nur als einfache Heilbehandlung im Sinne des § 36 UbG zu qualifizieren wäre, wäre sie unzulässig gewesen, weil auch gelindere Mittel alternativ zur Verfügung gestanden wären.
Das Rekursgericht gab dem gegen diese Entscheidung vom Anstaltsleiter erhobenen Rekurs mit der angefochtenen Entscheidung keine Folge. Es erklärte die Erhebung des ordentlichen Revisionsrekurses für zulässig. Bei Behandlungen, mit denen Persönlichkeitsveränderungen verbunden seien, sei zu unterscheiden: Behandlungen, die auf die Heilung der kranken Persönlichkeit (und damit deren Veränderung) abzielten, seien nicht schlechthin besondere Heilbehandlungen, wenn eine Behandlung aber über das Ziel einer solchen Heilung - vorübergehende oder dauernde Veränderung der Persönlichkeit des Kranken - hinaus andere erhebliche Nebenwirkungen oder sonst schwerwiegende Beeinträchtigungen der körperlichen oder psychischen Verfassung nach sich ziehe, liege eine "besondere" Heilbehandlung vor. Nach diesen Grundsätzen sei auch der Einsatz von Psychopharmaka, insbesondere den Neuroleptika, vor allem durch Depotinjektionen zu beurteilen. Nach den erstgerichtlichen Feststellungen seien die Nebenwirkungen des dem Patienten verabreichten Depotmedikamentes nicht erheblich gewesen, seine Wirkung habe aber die viertägige Frist, die dem Anstaltsleiter bis zur Erstanhörung des Patienten zur Verfügung gestanden sei, überschritten. Ob die Wirkungsdauer der vorzunehmenden Depotmedikation die vorgesehene Unterbringungsdauer übersteige, sei eine vom behandelnden Arzt ex ante zu beurteilende Frage. Die Unterbringungsdauer werde zwar erst durch den Gerichtsbeschluß nach § 20 Abs 1 UbG bzw § 26 UbG festgesetzt, es sei aber auf die "vorgesehene" Dauer zum Zeitpunkt der Vornahme der Behandlung abzustellen. Wenn also der behandelnde Arzt zum Zeitpunkt der Vornahme der Heilbehandlung nach seinen Erfahrungssätzen erkennen könne, daß eine Medikation zum Zeitpunkt der Behandlung die nach dem UbG zulässige - und daher ex ante vorhersehbare - Unterbringungsdauer übersteigen werde, sei im Fall der Voraussetzungen des § 36 Abs 2 UbG die vorherige Genehmigung des Unterbringungsgerichtes einzuholen.
Rechtliche Beurteilung
Der gegen diese Entscheidung vom Anstaltsleiter erhobene Revisionsrekurs ist nicht berechtigt.
Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung sind die nach dem Unterbringungsgesetz gewährten Rechtsschutzeinrichtungen im Lichte der in den Bestimmungen der EMRK festgelegten Individualrechte dahin auszulegen, daß derjenige, der behauptet, in seinen Rechten auf Achtung der Menschenwürde (Art.3 EMRK) sowie in seinem Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art.5 EMRK) verletzt zu sein, auch noch nach Beendigung der gegen ihn gesetzten Maßnahme, also nach bereits erfolgter Behandlung oder besonderen Heilbehandlung, ein rechtliches Interesse an der Feststellung hat, ob die an ihm vorgenommene Behandlung zu Recht erfolgte (RdM 1996, 23; RdM 1995, 17; SZ 65/62, 2 Ob 2215/96s). Dabei ist eine rückwirkende gerichtliche Genehmigung einer bereits durchgeführten Heilbehandlung nicht auszusprechen, wohl aber über Verlangen des Patienten oder seines Vertreters festzustellen, daß eine solche durchgeführte Maßnahme gesetzwidrig war (vgl. 6 Ob 631/93). Die im vorliegenden Fall vom Anstaltsleiter begehrte nachträgliche "Genehmigung" der besonderen Heilbehandlung ist daher durch das Unterbringungsgesetz nicht gedeckt. Da die behandelnde Anstalt bzw. deren ärztlicher Leiter durch die vorliegende Rekursentscheidung nicht in den zuvor angeführten Individualrechten beeinträchtigt sein können, fehlt ihnen die Beschwer für die im Revisionsrekurs begehrte Feststellung. Der Oberste Gerichtshof hat schon wiederholt, allerdings im Zusammenhang mit dem Antrag der Anstalt, eine bereits aufgehobene Unterbringung nachträglich für gerechtfertigt zu erklären, ausgesprochen, daß dem Abteilungsleiter einer Anstalt kein Rechtsschutzinteresse an einer Entscheidung darüber zusteht, ob die Unterbringung eines bereits entlassenen Patienten für zulässig hätte erklärt werden müssen (vgl. 5 Ob 505/92 uva, zuletzt 4 Ob 576/94; 2 Ob 507/95 und 2 Ob 523/95). Umso mehr muß dies bei der Beurteilung der gegenüber der Unterbringung als geringfügiger einzustufenden Beeinträchtigung durch eine bereits angewendete Heilmethode gelten. Das Verfahren nach dem Unterbringungsgesetz dient nur der bestmöglichen Wahrung der Interessen des Kranken (vgl. 8 Ob 537/93 sowie 4 Ob 576/94). Bemerkt sei, daß sich der erkennende Senat der Rechtsmeinung Kopetzkys (UbG, 835), daß ein auf Depot verabreichtes Neuroleptikum, allein wenn seine Wirkung über die ursprünglich vom Gesetz vorgesehene Unterbringungsdauer hinausreicht, eine besondere Heilbehandlung im Sinne des § 36 Abs 2 UbG darstelle, nicht anschließt. Eine solche liegt nur dann vor, wenn mit ihr "erhebliche" Nebenwirkungen auftreten. Wird aber beim Patienten durch das verabreichte Medikament im wesentlichen nur der Zustand wiederhergestellt, der annähernd dem der wenn auch nur vorübergehend erzielten Gesundung entspricht, dann ist es gleichgültig, ob die Wirkung dieses Depotmedikamentes über die in § 19 Abs 1 UbG vorgesehene Frist hinausgeht.
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