OGH 10Ob2184/96s

OGH10Ob2184/96s3.9.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr, Dr. Steinbauer, Dr. Pimmer und Dr. Danzl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Johanna, geboren 25.10.1979, und Bernadette, geboren 11.11.1983, W*****, beide vertreten durch den Unterhaltssachwalter Amt für Jugend und Familie, 1150 Wien, Marsgasse 8-10, wegen Unterhaltserhöhung, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters Wolfgang W*****, derzeit ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 10. April 1996, GZ 45 R 260/96k-84, womit infolge Rekurses des Vaters der Beschluß des Bezirksgerichtes Fünfhaus vom 5. Februar 1996, GZ 4 P 1427/95h-77, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung aufgetragen.

Text

Begründung

Der Revisionsrekurswerber ist der eheliche Vater der beiden minderjährigen Töchter Johanna (geboren am 25.10.1979) und Bernadette (geboren am 11.11.1983) sowie eines weiteren, bei ihm lebenden Sohnes (geboren am 3.6.1978). Laut einem anläßlich ihrer einvernehmlichen Scheidung geschlossenen pflegschaftsgerichtlich genehmigten Vergleich steht die Obsorge hinsichtlich beider Töchter der Mutter zu (ON 2). Unterhaltssachwalter ist zwischenzeitlich das Amt für Jugend und Familie des 5.Wiener Gemeindebezirkes. Nach dem vor diesem geschlossenen Vergleich hatte der Vater zuletzt ab 1.6.1993 für Johanna monatlich S 1.300 und für Bernadette monatlich S 1.100 zu bezahlen (ON 55). Über Antrag des Unterhaltssachwalters (ON 62) wurde er mit Beschluß des Erstgerichtes ab 1.6.1995 zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen von S 2.700 für die ältere und S 2.400 für die jüngere Tochter verpflichtet (ON 77). Das Erstgericht ging dabei hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Vaters von folgenden Feststellungen aus:

Der Vater ist arbeitslos und bemüht sich seit Herbst 1994 "verzweifelt" darum, mit einem durchschnittlichen wöchentlichen Zeitaufwand von über 65 Stunden, verkäufliche Arbeitsunterlagen für Segel- und Yachtsportausbildung zu schaffen, zu vertreiben und "Anerkennung zu erwirken". Er hat neben seinem hochspezifischen Fachwissen als Segel- und Seefahrtslehrer keine für einen üblichen Beruf geeignete Ausbildung aufzuweisen. Derzeit bezieht er vom Arbeitsamt Notstandshilfe von S 337,30 täglich. Unter Berücksichtigung dieser Fakten (keine wie immer geartete auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwertbare Ausbildung bzw Berufserfahrung) sowie den Gegebenheiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und den von Firmen gestellten Anforderungen bei der Einstellung von Dienstnehmern, weiters unter Berücksichtigung seines Alters und der Behinderung an der linken Hand (ohne daß allerdings Feststellungen getroffen sind, welcher Art diese Behinderung ist) wäre es dem Vater jederzeit möglich, einen Arbeitsplatz in Berufstätigkeiten wie Außendienstmitarbeiter von Versicherungen, Handelsvertreter oder Verkaufsberater zu erlangen; dies mit Einschaltung der Arbeitsmarktverwaltung als auch durch Setzung von Eigeninitiativen. "Im Bezug von Notstandshilfe" wäre der Vater von der Arbeitsmarktverwaltung auch auf alle ihm geistig, körperlich und sittlich zumutbaren Hilfsarbeitertätigkeiten verweis- und vermittelbar. Hiebei könnte er folgende Einkünfte (jeweils netto monatlich inklusive anteiliger Sonderzahlungen) ins Verdienen bringen:

Außendienstmitarbeiter von Versicherungen (ohne Provision)

S 13.336

Verkaufsberater S 14.748

Handelsvertreter (ohne Provision) S 12.295.

Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die Einkünfte eines Außendienstmitarbeiters einer Versicherung bzw eines Handelsvertreters in hohem Maße von der ins Verdienen gebrachten Provision abhängen, hielt es das Erstgericht für durchaus unbedenklich, der Unterhaltsbemessung ein Einkommen von rund S 15.000 inklusive anteiliger Sonderzahlungen zugrunde zu legen. Es wandte den Anspannungsgrundsatz an und ermittelte unter Bedachtnahme auf die Prozentsatzmethode (18 % für Johanna, 16 % für Bernadette) die vorgenannten Zuspruchsbeträge.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es führte rechtlich insbesondere aus, daß für die Anwendung des Anspannungsgrundsatzes "nach ständiger Rechtsprechung" ein schuldhaftes Verhalten des Unterhaltspflichtigen nicht erforderlich sei und sich die vom Erstgericht zugrunde gelegten Verweisungsberufe unbedenklich aus dem eingeholten berufskundlichen Sachverständigengutachten ergeben. Das Rekursgericht sprach weiters aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs mangels der Voraussetzungen des § 14 Abs 1 AußStrG nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Im außerordentlichen Revisionsrekurs - gerichtet auf Abänderung der bekämpften Entscheidung im Sinne einer Stattgebung seines Rekurses, eventualiter Aufhebung und Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht - wird unter Geltendmachung des Rekursgrundes der unrichtigen rechtlichen Beurteilung als einzig erhebliche Rechtsfrage Beschwerde gegen die Annahme des Rekursgerichtes geführt, daß für die Anwendung der Anspannungstheorie kein Verschulden Voraussetzung sei; tatsächlich müßte hiefür zumindest leichte Fahrlässigkeit des Unterhaltsverpflichteten vorliegen, wofür aber jegliche Feststellungen fehlten.

Diesen Ausführungen kommt Berechtigung zu. Insoweit ist der Revisionsrekurs auch zulässig, weil das Rekursgericht von der im folgenden angeführten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen ist.

Das vom Rekursgericht zur Stützung seiner Auffassung einzig angegebene Fundstellenzitat ("E 304 zu § 140 in Dietrich [richtig: Dittrich]-Tades, ABGB, MGA33") ist ein offensichtliches Fehlzitat (auch in der zwischenzeitlich bereits erschienenen 34.Auflage der MGA ist aaO eine derartige Fundstelle zum zitierten Fragenkreis nicht enthalten). Diese Auffassung des Gerichtes zweiter Instanz entspricht im übrigen auch nicht dem aktuellen Meinungsstand weder in Judikatur noch in Literatur (siehe hiezu etwa aus der jüngsten Vergangenheit 2 Ob 576/94, 3 Ob 28/94, 3 Ob 547/94 = NRsp 1994/95, 9 Ob 1622/94, jeweils mwN; Purtscheller/Salzmann [1994], Unterhaltsbemessung, Rz 1247; jüngst auch Schwimann [1996], Unterhaltsrecht, 54 f und 119 sowie Gitschthaler, Die Anspannungstheorie im Unterhaltsrecht - 20 Jahre später, ÖJZ 1996, 553 [555 f mit zahlreichen Nachweisen]). Das Verschulden kann in vorsätzlicher Unterhaltsflucht (absichtlicher Mindererwerb, um sich der Unterhaltszahlung zu entziehen) bestehen; es genügt aber auch (leicht) fahrlässige Herbeiführung des Einkommensmangels durch Außerachtlassung pflichtgemäßer zumutbarer Einkommensbemühungen. Maßstab hiefür ist stets das Verhalten eines pflichtgemäßen rechtschaffenen Familienvaters (Schwimann, aaO 55 mwN).

Das Erstgericht hat hiezu weder in der einen noch in der anderen Richtung Feststellungen getroffen (die Erwähnung, daß sich der Vater "verzweifelt" um einen Einkommenserwerb bemühe, ist hiefür zu wenig), sondern lediglich eine Aussage dahingehend in seine getroffenen Tatsachenfeststellungen aufgenommen, daß es dem Vater und Revisionsrekurswerber "unter Berücksichtigung seines Alters und der Behinderung an der linken Hand [welche ?] jederzeit möglich wäre, einen Arbeitsplatz in Berufstätigkeiten wie Außendienstmitarbeiter von Versicherungen, Handelsvertreter, Verkaufsberater zu erlangen". Hiebei könnte er sodann (auch unter Bedachtnahme auf hiebei ins Verdienen zu bringende Provisionen) monatlich S 15.000 inklusive anteiliger Sonderzahlungen an Einnahmen erzielen. Bereits in seinem Rekurs (ON 80) hatte er auf das Erfordernis einer zumindest leicht fahrlässigen Schuldform am Nichtnachkommen dieser seiner Verpflichtung ausdrücklich und mehrfach hingewiesen. Das Rekursgericht hat dies mit dem bereits weiter oben wiedergegebenen Hinweis auf die "ständige Rechtsprechung" abgetan.

Das Erstgericht wird daher die entsprechenden Feststellungen nachzuholen und auf Grund dieser sodann die Rechtsfrage, ob den Unterhaltsschuldner tatsächlich ein Verschulden daran trifft, daß er (jedenfalls seit Herbst 1994) keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgeht, zu lösen haben. Auch wenn es sich hiebei regelmäßig um eine von den Umständen des Einzelfalles abhängige und damit nicht die Wertigkeit des § 14 Abs 1 AußStrG erfüllende Rechtsfrage handelt (9 Ob 1622/94), war das dargestellte Übergehen der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sowie der maßgeblichen Vertreter des einschlägigen Fachschrifttums zum Unterhaltsrecht zur Wahrung der Rechtssicherheit aufzugreifen und dem Revisionsrekurs im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages stattzugeben.

Eine Kostenentscheidung entfiel, da solche (zutreffend) nicht verzeichnet wurden.

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