Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Entscheidung zu lauten hat:
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 35.000 samt 4 % Zinsen aus S 20.000 vom 23.6.1993 bis 15.3.1994 und aus S 35.000 seit 16.3.1994 binnen vierzehn Tagen zu zahlen.
Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der klagenden Partei S 9.568,- an Barauslagen binnen 14 Tagen zu ersetzen; im übrigen werden die Kosten des Verfahrens aller Instanzen gegenseitig aufgehoben.
Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei S 35.000,- s.A. zu bezahlen und das Zinsenmehrbegehren wird abgewiesen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die beklagte Partei ist Eigentümerin der Häuser Z*****. Die Klägerin ist Mieterin einer Wohnung im Haus Z*****. Sie kam am 5.2.1993 gegen 23,15 Uhr am Gehsteig entlang des Hauses Z***** zu Sturz und verletzte sich. Die Klägerin begehrt den Zuspruch eines Schmerzengeldbetrages von zuletzt S 70.000 mit der Begründung, auf einer am Gehsteig befindlichen Eisplatte deshalb zu Sturz gekommen zu sein, da es die beklagte Partei bzw deren Mitarbeiter unterlassen habe, vor 22 Uhr den Gehsteig entsprechend von Schnee- und Eisresten zu räumen. Die beklagte Partei habe eine grobe Sorgfaltsverletzung zu verantworten, weil der Gehsteig nie von Eis gesäubert und die Bestreuung von Eisplatten mit Asche nicht veranlaßt worden sei. Die beklagte Partei begnügte sich mit einer maschinellen oberflächlichen Reinigung der Gehsteige. Über einen Zeitraum von sechs Tagen hindurch sei weder eine Streuung noch eine Beseitigung der Eisfläche vorgenommen worden.
Die beklagte Partei beantragte Abweisung der Klage und wendete im wesentlichen ein, sie habe den Gehsteig vor dem Haus Z***** ausreichend räumen und bestreuen lassen. Zum Zeitpunkt des Sturzes der Klägerin habe keine Räum- und Streuverpflichtung bestanden, weil eine derartige Anrainerpflicht lediglich in der Zeit von 6 bis 22 Uhr bestehe. Der Gehsteig habe sich in einem der Jahreszeit entsprechenden Zustand befunden und sei keinesfalls extrem mit Schnee bedeckt bzw vereist gewesen. Der Sturz der Klägerin sei allein auf deren eigene Unachtsamkeit sowie auf die Nichtverwendung eines Schistockes oder Gehstockes mit Eisenspitze zurückzuführen.
Das Erstgericht wies die Klage ab. Es ging von nachstehenden Feststellungen aus:
Die Klägerin benützte am 5.2.1993 gegen 23,15 Uhr den Gehsteig entlang des Hauses Z*****. Dieser war mit einer ca drei bis vier Zentimeter starken Alteisdecke versehen, die mit Split bestreut war. Da nur jeder zweite Straßenbeleuchtungskörper eingeschaltet war, war es so dunkel, daß die einzelnen Splitkörner nicht erkennbar waren. Während sich die Klägerin, die mit Winterstiefeln mit spezieller Profilgummisohle bekleidet war, mit ihrem Gatten unterhielt und nicht auf den Boden blickte, rutschte sie auf einer 50 cm x 50 cm großen, nicht mit Kies bedeckten Gehsteigfläche aus und kam zu Sturz. Im übrigen war der Gehsteig nur spärlich und nicht sehr dicht mit Kies bestreut. Die beklagte Partei hatte im Bereich der Z*****straße Gehsteige in einer Gesamtlänge von 5,5 Kilometer zu betreuen. Dafür steht ein Minitraktor mit Schneepflug und Streugerät zur Verfügung. Die Gehsteige werden nur maschinell betreut, indem jeweils nach Schneefall eine Schneeräumung mit gleichzeitiger maschineller Splittstreuung erfolgt. Die Verbindungswege und Stiegen werden händisch geräumt und bestreut. Mit diesen Arbeiten sind insgesamt vier Mitarbeiter der beklagten Partei befaßt, die die Anweisung haben, die betreuten Flächen dem Bedarf nach zu streuen. Dazu werden täglich an neuralgischen Punkten Kontrollen durchgeführt. Ergibt sich dabei die Notwendigkeit einer Nachstreuung, wird diese auf den Gehsteigen mit dem Streugerät und auf den Stiegen und Verbindungswegen händisch durchgeführt. Eine Nachstreuung erfolgt dann, wenn in bestimmten Bereichen auf dem Gehsteig kein Splitt mehr oder nur mehr dünn vorhanden ist. Neben der täglich durchgeführten Kontrolle neuralgischer Punkte achten die Mitarbeiter der beklagten Partei auch im Zuge der Betreuung der Häuser der beklagten Partei darauf, ob eine Nachstreuung notwendig ist. Eine flächendeckende Überprüfung der Gehsteige erfolgt nur dann, wenn auf Grund der Witterungsverhältnisse mit kritischen Stellen zu rechnen ist. Im Unfallsbereich erfolgte die letzte Schneeräumung und Streuung am 30.1.1993. Die Stiegenaufgänge wurden am 3.2.1993 nachgestreut. Nach der Schneeräumung am 30.1.1993 kam es zu keinen weiteren Schneefällen. Während der Woche vor dem Unfall herrschten im Unfallsbereich durchgehend Temperaturen um Minus 10 Grad. Im Winter 1992/1993 ereigneten sich auf den von der beklagten Partei betreuten Gehsteigen ca zwei bis drei Unfälle. Die Häuser Z*****straße 59 und Z*****straße 61 liegen nebeneinander. Um von der Straße zum Eingang des Hauses Z*****straße 59 zu gelangen, ist es nicht erforderlich, den Gehsteig vor dem Haus Z*****straße 61 zu betreten.
Bei dem Sturz zog sich die Klägerin eine Prellung der rechten Brustkorbseiten mit Bruch dreier Rippen sowie eine Beckenprellung möglicherweise mit Sprengung des rechten Schambeines zu. Diese Verletzungen bewirkten gerafft drei bis fünf Tage starke Schmerzen, sieben bis zehn Tage mittelstarke Schmerzen und vier bis sechs Wochen leichte Schmerzen.
In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht den Standpunkt, daß die beklagte Partei auch nach § 93 StVO im Sinne des § 1319 a ABGB nur für grobe Fahrlässigkeit einzustehen habe. Da eine auffallende Sorglosigkeit der beklagten Partei nicht vorliege und sie gegenüber der Klägerin auch vertraglich nicht zur Säuberung und Bestreuung des Gehsteiges verpflichtet sei, bestehe kein Ersatzanspruch der Klägerin gegen die beklagte Partei.
Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der Klägerin nicht Folge.
Es entspreche der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß die Pflichten des Liegenschaftseigentümers nach § 93 StVO nicht unter die Haftungseinschränkungen des § 1319 a ABGB fielen. Aus der Bestimmung des § 93 StVO ergebe sich, daß der Liegenschaftseigentümer nur dafür zu sorgen habe, daß die betreffenden Gehsteige und Gehweige entlang der Liegenschaft in der Zeit zwischen 6 und 22 Uhr gesäubert und bestreut seien. Die genannte Bestimmung stelle nicht auf das Verhalten des Liegenschaftseigentümers, sondern auf den Erfolg dieses Verhaltens ab. Durch die Vorschrift des § 93 Abs 1 StVO solle der erhöhten Gefahr bei der Benützung vereister oder mit Schnee bedeckter Verkehrsflächen durch zumutbare Maßnahmen begegnet werden. Der Schutzzweck dieser Bestimmung erstrecke sich auf die Gefahren bei der Benützung vereister oder mit Schnee bedeckter Gehsteige bzw Gehsteige innerhalb des eingegrenzten Zeitraumes und nicht für daran anschließende Zeiträume.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz erhobene Revision der Klägerin ist zulässig und auch berechtigt.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß der Liegenschaftseigentümer im Sinn des § 93 Abs 1 StVO oder eine gemäß § 93 Abs 5 StVO an seine Stelle tretende Person nicht als Halter eines Weges im Sinn des § 1319 a ABGB anzusehen sind und daher bei Verletzung ihrer Pflichten nach § 93 StVO auch für leichte Fahrlässigkeit einzustehen haben (SZ 54/21; SZ 54/92; ZVR 1982/261, ZVR 1984/226, ZVR 1986/171, SZ 58/154, 2 Ob 34/89).
Von dieser von Koziol (Österreichisches Haftpflichtrecht2 II,68) gebilligten Rechtsprechung abzugehen sieht sich der erkennende Senat auch durch die Lehrmeinung Reischauers in Rummel2 Rz 21 zu § 1319 a) nicht veranlaßt. Dies bedeutet, daß die beklagte Partei als Liegenschaftseigentümerin auch für leichte Fahrlässigkeit bei Verletzung ihrer Anrainerpflichten einzustehen hat.
In diesem Zusammenhang kann den Ausführungen des Berufungsgerichtes, der Schutzzweck des § 93 Abs 1 StVO erstrecke sich auf die Gefahren bei der Benützung vereister oder mit Schnee bedeckter Gehsteige bzw Gehwege innerhalb des eingegrenzten Zeitraumes und nicht für daran anschließende Zeiträume nicht gefolgt werden. Auch dazu hat der erkennende Senat bereits ausgeführt, daß der Gestürzte auch dann grundsätzlich Schadenersatz begehren kann, wenn der Unfall auf eine Verletzung der Räum- oder Streupflicht innerhalb des durch Gesetz (Verordnung) festgesetzten Zeitraumes zurückzuführen ist (2 Ob 78/94, vgl ZVR 1970/197; BGH in VersR 1984/40; Greger Zivilrechtliche Haftung im Straßenverkehr2 Rz 457 zu § 16 dStVG). § 93 Abs 1 StVO habe nicht den Zweck, den Räumungspflichtigen durch zeitliche Begrenzung der Räumpflicht von der Haftung für sämtliche nach diesem Zeitpunkt auftretenden Auswirkungen einer Pflichtverletzung zu befreien, sondern, die Kontroll- und Aufsichtspflicht bezüglich des Zustandes des Gehsteiges auf ein zumutbares Maß zu reduzieren. § 93 Abs 1 StVO stelle auch auf ein bestimmtes Verhalten des Streupflichtigen ab, um den erwarteten Erfolg zu gewährleisten. An diesen Ausführungen ist weiterhin festzuhalten.
Nach den Feststellungen war der mit einer drei bis vier Zentimeter starken Alteisdecke versehene Gehsteig nur spärlich und nicht sehr dicht mit Kies bestreut. Da sich die Verhältnisse nach dem Ende der Räumpflicht nicht geändert haben, ist daher davon auszugehen, daß eine ordnungsgemäße Bestreuung des Gehsteiges auch innerhalb des durch § 93 Abs 1 StVO festgesetzten Zeitraumes nicht erfolgte und daher die beklagte Partei ihrer Streupflicht nicht nachkam. Dies bedeutet, daß pflichtgemäßes Handeln bis 22 Uhr den Unfall und den Schaden verhindert hätte. Die Verletzung dieser Verpflichtung führt daher grundsätzlich zur Haftung der beklagten Partei.
Die Verletzungen der Klägerin rechtfertigen ein Schmerzengeld in der Höhe von S 70.000.
Allerdings konnte der Klägerin nicht der gesamte Betrag zugesprochen werden, weil auch der von der beklagten Partei bereits in erster Instanz erhobene Mitverschuldenseinwand zu berücksichtigen ist.
Nach den Feststellungen unterhielt sich die Klägerin spät abends mit ihrem Gatten und blickte nicht zu Boden. Sie wäre gerade bei den festgestellten schlechten Lichtverhältnissen verpflichtet gewesen, auf den vor ihr liegenden Weg zu achten. Diese Unterlassung begründet eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten und führt zur Schadensteilung, sodaß ihr nur die Hälfte des begehrten Schmerzengeldbetrages zugesprochen werden konnte.
Zinsen konnten mangels Nachweises eines früheren Fälligkeitszeitpunktes erst ab dem Tag der Klagebehändigung zugesprochen werden.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 43 Abs 1, 50 ZPO.
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