OGH 7Ob638/95

OGH7Ob638/9521.2.1996

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Unterbringungssache der Anna K*****, infolge Revisionsrekurses des Patientenanwaltes Dr.Michael Steffen, Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft, Geschäftsstelle Niederösterreich, Landesnervenklinik Mauer, gegen den Beschluß des Landesgerichtes St.Pölten vom 18.Oktober 1995, GZ 11 R 173/95-11, womit über den Rekurs des Patientenanwaltes gegen den Beschluß des Bezirksgerichtes Amstetten vom 21.September 1995, GZ Ub 431/95-7, entschieden wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben. Der Beschluß des Gerichtes zweiter Instanz wird aufgehoben. Dem Gericht zweiter Instanz wird eine Entscheidung über den Rekurs unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Text

Begründung

Anna K***** wurde am 20.9.1995 zum vierten Mal in der NÖ Landesnervenklinik Mauer aufgenommen. Grund für die Aufnahme waren massive Denkstörungen und Verwirrtheitszustände. Sie litt an einer akuten Psychose, wodurch sie ihre Impulse nicht kontrollieren konnte und ernstlich selbstgefährdet war.

Bei der Erstanhörung am 21.9.1995 (Beginn 11,45 Uhr) brachte der Patientenanwalt vor, daß Anna K***** entgegen der Anordnung des § 10 Abs 1 UbG bei der Aufnahme nicht von zwei Fachärzten für Psychiatrie, sondern nur von einem Facharzt und zusätzlich vom Assistenzarzt Dr.S***** untersucht worden sei. Erst am Morgen des folgenden Tages sei dessen Gutachten vom Anstaltsleiter Primar Dr.B***** gegengezeichnet worden. Deshalb sei die Unterbringung unzulässig.

Das Erstgericht erklärte die Unterbringung für zulässig. Neben den materiellen Voraussetzungen der Unterbringung seien auch die formellen Voraussetzungen gegeben, weil der Anstaltsleiter Primar Dr.B***** das ärztliche Zeugnis des Assistenzarztes Dr.S***** unterschrieben habe und der Assistenzarzt zumindest unter Anleitung des Anstaltsleiters gehandelt habe. Es sei grundsätzlich nicht widerlegbar, daß der Anstaltsleiter den Assistenzarzt angeleitet habe.

Die Unterbringung der Anna K***** wurde am 28.9.1995 (vor der für 5.10.1995 anberaumten mündlichen Verhandlung) seitens der Anstalt aufgehoben.

Mit am 10.10.1995 überreichtem Rekurs gegen den Beschluß, mit dem die vorläufige Unterbringung für zulässig erklärt wurde, wiederholte der Patientenanwalt die Behauptung, daß das Gutachten des Assistenzarztes erst nachträglich vom Primar Dr.B***** gegengezeichnet worden sei, so daß die Unterbringung wegen Nichteinhaltung der Formvorschrift des § 10 Abs 1 UbG insgesamt unzulässig sei. Er beantragte daher die Abänderung des angefochtenen Beschlusses dahin, daß entschieden werde, daß die Unterbringung der Anna K***** vom 20.9.1995 bis zu ihrer Aufhebung nicht auf die gesetzlich vorgesehene Weise erfolgt sei und somit für unzulässig erklärt werde.

Das Gericht zweiter Instanz wies den Rekurs zurück und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Es begründete diese Entscheidung damit, daß der abgesonderte Rekurs zwar nicht nach § 20 Abs 3 UbG unzulässig sei, weil die Unterbringung noch vor der mündlichen Verhandlung aufgehoben worden sei. Dem Rekurs fehle aber die Beschwer. Die materiellen Voraussetzungen der Unterbringung seien nicht strittig. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens nach den §§ 18 ff UbG sei lediglich die Zulässigkeit der weiteren Unterbringung des Kranken, nicht aber die Frage, ob der Aufnahmevorgang ordnungsgemäß gewesen sei. Letztere Frage falle nicht in die Zuständigkeit des Gerichtes. Der Rekurs sei daher aufgrund des fehlenden Rechtsschutzinteresses zurückzuweisen gewesen. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil zur Frage der Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde oder des Gerichtes und zur Frage der Prüfung des formellen Zustandekommens der Aufnahme keine höchstgerichtliche Rechtsprechung bestehe.

Aus der Begründung des Beschlusses zweiter Instanz ergibt sich somit, daß dieses der Ansicht ist, (1.) daß sich die gerichtliche Entscheidung über die vorläufige Zulässigkeit der Anhaltung in einer Anstalt nur auf die Zeit ab der Erstanhörung beziehe, weil bis zur Erstanhörung die Verwaltungsbehörde und nicht das Gericht über die Zulässigkeit der Anhaltung zu entscheiden habe und (2.) daß die Nichteinhaltung des in § 10 Abs 1 UbG vorgeschriebenen Vorganges bei der gerichtlichen Entscheidung über die vorläufige Zulässigkeit der Unterbringung gemäß § 20 UbG nicht zu beachten sei, so daß derartige Umstände auch nicht wirksam mit Rekurs gegen die vorläufige weitere Unterbringung geltend gemacht werden könnten.

Zu 1.:

Rechtliche Beurteilung

Daraus, daß das Rekursgericht hinsichtlich des Zeitraumes bis zur Erstanhörung nicht aus Anlaß des Rekurses die Entscheidung des Erstgerichtes mangels gerichtlicher Zuständigkeit für nichtig aufgehoben hat, läßt sich ableiten, daß das Rekursgericht offenbar die Ansicht vertritt, das Erstgericht habe über diesen Zeitraum gar nicht entschieden, so daß der Rechtsmittelwerber insofern nicht beschwert sein könne. Eine Einschränkung der erstgerichtlichen Entscheidung dahin, daß (nur) über die Unterbringung ab der Erstanhörung entschieden worden sei, läßt sich aber weder dem Spruch noch den Gründen der Entscheidung des Erstgerichtes entnehmen. Deren Begründung spricht vielmehr dafür, daß das Erstgericht sämtliche Voraussetzungen der Unterbringung, insbesondere auch jene des § 10 Abs 1 UbG, schon ab dem Zeitpunkt der Aufnahmeuntersuchung für gegeben und die Unterbringung daher auch schon ab diesem Zeitpunkt für zulässig erachtete.

Daß eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Unterbringung für den vor der Erstanhörung liegenden Zeitraum unbeachtlich sei, läßt sich auch keineswegs aus dem Gesetz ableiten. Vielmehr ist im Gegenteil auch nach der Einleitung eines Unterbringungsverfahrens ein rechtliches Interesse des Kranken an der (gerichtlichen) Feststellung zu bejahen, ob die Unterbringung bereits zu einem früheren Zeitpunkt begonnen hatte und zulässig gewesen ist (4 Ob 513,514/93; in diesem Sinn auch 2 Ob 511/93 = EvBl 1994/4 und 3 Ob 510/95 sowie Verwaltungsgerichtshof 28.1.1994, 93/11/0035,0036 = JBl 1994,770).

Das Rekursgericht hat somit mit aktenwidriger und unrichtiger rechtlicher Begründung die Beschwer des Rechtsmittelwerbers für den Zeitraum vom 20.9.1995 bis zur Erstanhörung, über den vom Erstgericht mangels entsprechender Einschränkung entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes ebenfalls entschieden wurde und auch zu entscheiden war, weil der Antrag des Patientenanwaltes auf eine Unzulässigerklärung der Anhaltung ab der Aufnahme der Anna Kiesel in die Anstalt abzielte, verneint.

Zu 2.:

Aber auch hinsichtlich des Zeitraumes ab der Erstanhörung kann von einer fehlenden Beschwer keine Rede sein. Das Rekursgericht geht ja selbst davon aus, daß sich der Antrag des Patientenanwaltes, die Unterbringung für unzulässig zu erklären, (insbesondere) auf den Zeitraum nach der Erstanhörung bezog und das Erstgericht jedenfalls für diesen Zeitraum die Unterbringung für zulässig erklärte. Darüber, ob im Rekurs zum Ziel führende Anfechtungsgründe geltend gemacht wurden, ist materiell, also im Sinn einer Betätigung des erstgerichtlichen Beschlusses oder einer Stattgebung des Rekurses, zu entscheiden.

Das Gericht zweiter Instanz wird daher unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund hinsichtlich des gesamten Zeitraumes über den Rekurs zu entscheiden haben.

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