OGH 2Ob99/95

OGH2Ob99/9521.12.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj.Dominik E*****, vertreten durch Dr.Angelika Lener, Rechtsanwalt in Feldkirch, wider die beklagte Partei ***** Versicherungs-AG, ***** vertreten durch Dr.Bertram Grass, Rechtsanwalt in Bregenz, wegen S 250.000 sA und Feststellung, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 8. September 1995, GZ 4 R 182/95-28, womit infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 27.April 1995, GZ 5 Cg 267/94h-18, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S

9.900 (darin enthalten Umsatzsteuer von S 1.650, keine Barauslagen) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 24.2.1985 geborene Kläger wurde am 9.6.1993 als Beifahrer eines bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Fahrzeuges bei einem Unfall auf der A*****straße verletzt. An der Unfallstelle starben der Lenker des Fahrzeuges, der im Fahrzeug mitfahrende siebenjährige Bruder des Klägers und sein neunjähriger Cousin. Die Mutter des Klägers wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und schwer verletzt. Der Kläger selbst erlitt bei dem Unfall eine Bauchprellung, möglicherweise eine Gehirnerschütterung, eine Prellung des rechten Unterschenkels und eine leichte Zerrung der Halswirbelsäule. Die körperlichen Verletzungen bewirkten starke Schmerzen in der Dauer von einem Tag, mittelstarke in der Dauer von zwei Tagen und leichte in der Dauer von zehn Tagen. Von seiten der körperlichen Verletzungen sind Dauerfolgen und Spätfolgen auszuschließen.

Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger den Ersatz eines Sachschadens in der Höhe von 700 S sowie Schmerzengeld in der Höhe von 300.000 S, das er vor allem auch auf die psychischen Folgen des Unfalls stützt. Er habe miterleben müssen, wie der Lenker des Fahrzeuges, sein Bruder und sein Cousin am Unfallsort verstorben seien und seine Mutter schwerst verletzt schreiend auf der Straße gelegen sei; er selbst sei im Fahrzeug eingeschlossen gewesen. Als unmittelbare Unfallsfolge habe er einen schweren psychischen Schock erlitten, welcher mit lang andauernden und teilweise heute noch vorhandenen psychischen Folgen und Schmerzen verbunden gewesen sei. Es liege eine psychische Erkrankung schwersten Grades vor, die auch zu körperlichen Symptomen geführt habe. Er leide unter Lebensangst, Versagensangst, Trennungsangst, Angst vor Verlassenwerden und Verlassensein, Schmerz über den Verlust geliebter Personen, Angst vor physischen Schmerzen, Unlustgefühlen und vermindertem Selbstwertgefühl. Er habe 105 Tage an starken, 87 Tage an mittelstarken und 114 Tage an leichten psychischen Schmerzen gelitten. Da die psychische Erkrankung noch andauere und Spätfolgen nicht auszuschließen seien, bestehe auch ein Interesse an der Feststellung der Haftung der beklagten Partei für künftige Schäden.

Die beklagte Partei anerkannte den geltend gemachten Sachschaden und ein Schmerzengeld in der Höhe von 50.000 S als Äquivalent für die erlittenen körperlichen Schmerzen. Darüber erging ein Teilanerkenntnisurteil. Die Ersatzfähigkeit psychischer Schäden bestritt die beklagte Partei, da diese nicht die Folge einer vom Kläger selbst bei dem Unfall erlittenen körperlichen Verletzung seien.

Das Erstgericht sprach dem Kläger einen weiteren Betrag von 100.000 S samt Zinsen zu und wies das Mehrbegehren von 150.000 S sowie das Feststellungsbegehren ab.

Über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinausgehend wurden im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

Neben den körperlichen Verletzungen erlitt der Kläger aufgrund des Verkehrsunfalles eine psychische Erkrankung im Sinne einer akuten Belastungsreaktion bzw einer posttraumatischen Belastungsstörung. Aus dieser medizinisch behandlungsbedürftigen Erkrankung resultiert eine übergroße und altersinadäqate Ängstlichkeit (zunächst Lebensangst, dann Trennungsangst, Angst vor dem Verlassenwerden, Angst vor physischem Schmerz usw), Schlafstörungen, eine innere Unausgeglichenheit mit Aggressionsdurchbrüchen und Konzentrationsstörungen. Als Folge dieser durch den Unfall verursachten seelischen Verletzung bzw Erkrankung mußte der Kläger starke seelische Schmerzen in der Dauer von 11 Tagen, mittelstarke in der Dauer von 20 Tagen und leichte in der Dauer von 72 Tagen erdulden. Nach Ablauf von zwei Jahren seit dem Unfall sind die seelischen Folgen zum Abschluß gekommen, Spätfolgen sind höchst unwahrscheinlich.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, es sei für psychische Schäden, die eine Folge der Verletzung am eigenen Körper, aber auch des durch denselben Unfall verursachten Todes von nahen Angehörigen seien, voller Ersatz zu leisten. Berücksichtige man die vom Kläger erlittenen Schmerzen, erscheine ein Schmerzengeld von 150.000 S angemessen. Das Feststellungsbegehren sei nicht berechtigt, da eine bloß theoretische Möglichkeit von Spätfolgen bestehe.

Das von beiden Parteien angerufene Berufungsgericht änderte die angefochtene Entscheidung dahingehend ab, daß es die beklagte Partei für schuldig erklärte, dem Kläger einen weiteren Betrag von 150.000 S samt Zinsen zu bezahlen; weiters wurde festgestellt, daß die beklagte Partei für alle künftigen Gesundheitsschäden, die aus dem Verkehrsunfall vom 9.6.1993 auf der A*****straße für den Kläger resultieren, bis zur Höhe der Versicherungssumme hafte. Das Mehrbegehren auf Zahlung von 100.000 S samt Zinsen wurde abgewiesen.

Nach teilweiser Beweiswiederholung traf das Berufungsgericht anstelle der Feststellung des Erstgerichtes, daß Spätfolgen höchst unwahrscheinlich seien, die Feststellung, daß psychische Spätfolgen aus diesem Unfall beim Kläger nicht auszuschließen seien.

In rechtlicher Hinsicht verwies das Brufungsgericht zur Frage des Schmerzengeldes für psychische Störungen auf die Entscheidung 2 Ob 45/93 (= ZVR 1995/46) und führte aus, die psychischen Beeinträchtigungen des Klägers hätten zu einer psychischen Erkrankung geführt, die medizinisch behandlungsbedürftig war. Diese psychischen Beeinträchtigungen seien unmittelbar durch den Unfall selbst herbeigeführt worden; soweit sie auf den Verlust der bei dem Unfall getöteten Personen und auf die schwere Verletzung der Mutter zurückzuführen seien, handle es sich um aus demselben Unfall verursachte Folgen. Im Sinne der in dieser Entscheidung vertretenen Auffassung stehe daher dem Kläger Schmerzengeld für die psychischen Folgen des Unfalles zu, welches im Hinblick auf die doch außergewöhnliche psychische Traumatisierung des Klägers mit insgesamt 200.000 S auszumessen sei.

Auch das Feststellungsbegehren des Klägers sei berechtigt, weil Spätfolgen nicht auszuschließen seien.

Die ordentliche Revision wurde für zulässig erklärt, weil zur Frage der Schmerzengeldansprüche aufgrund psychischer Schäden, die durch den Tod naher Angehöriger entstanden, keine einheitliche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes vorliege und die in ZVR 1995/46 vertretene Auffassung wohl noch nicht als gefestigte (neuere) Rechtsprechung angesehen werden könne.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahingehend abzuändern, daß das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen werde.

Die klagende Partei hat Revisionsbeantwortung erstattet und beantragt, dem Rechtsmittel der beklagten Partei nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei ist zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

Die beklagte Partei macht in ihrem Rechtsmittel geltend, daß in der bisherigen Rechtsprechung für den Verlust naher Angehöriger und das damit verbundene Leid Schmerzengeld nicht zugesprochen worden sei. Der der Entscheidung ZVR 1995/46 zugrundeliegende Sachverhalt könne mit dem vorliegenden nicht verglichen werden, weil in dieser Entscheidung Schmerzengeld deswegen zugesprochen worden sei, weil ein 20 Monate altes Kleinkind aufgrund der Verletzungen der Mutter gravierende Trennungserlebnisse hatte. Solche Trennungserlebnisse habe aber der Kläger im vorliegenden Fall nicht gehabt. Die Ersetzbarkeit seelischer Schmerzen sei in zweierlei Hinsicht einzuschränken, und zwar einerseits soweit, als seelisches Unglück, das keinen Krankheitswert erreiche, als zuwenig bedeutend ausgeschieden werden müsse und anderseits insoweit, als Schadenersatz grundsätzlich auf den unmittelbar Geschädigten beschränkt sei. Die vom Kläger erlittenen psychischen Schmerzen seien nicht auf eine Verletzung des eigenen Körpers zurückzuführen und seien zumindest nach der bisherigen Judikatur nicht zuzusprechen, weil Schmerzengeld nicht für den Schmerz für den Verlust naher Angehöriger zustehe.

Auch das Feststellungsbegehren sei nicht berechtigt, weil weder die körperlichen Verletzungen des Klägers noch die seelische Erkrankung Dauer- oder Spätfolgen erwarten lasse. Die bloß theoretische Möglichkeit eines Schadenseintrittes begründe aber kein Feststellungsinteresse.

Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden.

Der erkennende Senat hat sich erst vor kurzer Zeit in der Entscheidung vom 16.6.1994, 2 Ob 45/93 (= ZVR 1995/46) mit der Frage des Schmerzengeldes für psychische Schmerzen auseinandergesetzt. In dieser Entscheidung wurde ausgeführt, daß unter einer Körperverletzung jede Beeinträchtigung der leiblichen oder geistigen Gesundheit und Unversehrtheit zu verstehen sei, auch Nervenschäden fielen unter den Begriff der Körperverletzung. Lediglich eine psychische Beeinträchtigung, die bloß in Unbehagen und Unlustgefühlen bestehe, reiche für sich allein nicht aus, um als Verletzung am Körper angesehen oder einer Verletzung gleichgestellt zu werden. Massive Einwirkungen in die psychische Sphäre seien jedenfalls dann eine körperliche Verletzung, wenn sie mit körperlichen Symptomen einhergingen, die als Krankheit anzusehen seien. Eine derartige massive psychische Beeinträchtigung sei jedenfalls dann gegeben, wenn aus ärztlicher Perspektive die Behandlung der psychischen Störung geboten sei. Für seelische Schmerzen, die nicht auf einer Verletzung des eigenen Körpers beruhten, stehe zwar kein Schmerzengeld zu, wohl aber für eine dadurch hervorgerufene Krankheit. Erleide jemand aufgrund eines Unfalles einen Nervenschaden, so werde er in seinem absolut geschützten Recht auf körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt und sei als unmittelbar Geschädigter anzusehen.

Der erkennende Senat hält an dieser Entscheidung, die der dort zitierten Lehre entspricht, unter Ablehnung der gegenteiligen Judikatur fest.

Daraus folgt für den vorliegenden Fall, daß der Schmerzengeldanspruch des Klägers berechtigt ist. Nach den Feststellungen erlitt der Kläger aufgrund des Verkehrsunfalles eine psychische Erkrankung, die medizinisch behandlungsbedürftig ist. Es handelt sich nicht um seelische Schmerzen als Folge der Verletzung und des Krankenhausaufenthaltes der Mutter und der Tötung anderer Personen, sondern um eine dadurch hervorgerufene Krankheit, also um einen ersatzfähigen Schaden. Der Kläger wurde durch diese Krankheit in seinem absolut geschützten Recht auf leibliche und geistige Gesundheit und Unversehrtheit verletzt und ist somit als unmittelbar Geschädigter anzusehen.

Gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Globalbemessung der vom Kläger erlittenen Schmerzen bestehen keine Bedenken.

Auch das Feststellungsbegehren des Klägers ist berechtigt, weil nach der Feststellung des Berufungsgerichtes psychische Spätfolgen aus dem Unfall nicht auszuschließen sind. Am rechtlichen Interesse an der Feststellung der Haftung für künftige Schäden fehlt es aber nur dann, wenn weitere Schäden aus dem im Feststellungsbegehren bezeichneten Ereignis ausgeschlossen werden können (2 Ob 22/94 mwN); es genügt, daß das schädigende Ereignis einen künftigen Schadenseintritt verursachen kann (JBl 1993, 191).

Es war somit der unberechtigten Revision der beklagten Partei ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten gründeet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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