OGH 15Os162/93

OGH15Os162/9325.11.1993

Der Oberste Gerichtshof hat am 25.November 1993 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof.Dr.Steininger als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Reisenleitner, Dr.Kuch, Dr.Schindler und Dr.Ebner als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Freyer als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Hekmat S***** wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Geschworenengerichtes beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom 19. Februar 1993, GZ 20 q Vr 12399/91-112, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, der Wahrspruch der Geschworenen sowie das darauf beruhende angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu nochmaliger Verhandlung und Entscheidung an ein anderes Geschworenengericht beim Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte darauf verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem bekämpften Urteil wurde Hekmat S***** auf Grund des einstimmigen Wahrspruchs der Geschworenen schuldig erkannt, am 21. November 1991 in Wien seinen (ihm anvertrauten), am 7.November 1986 geborenen Neffen Delgash S*****, nachdem er ihn an Händen und Füßen gefesselt und mit einem Werkzeug mehrfach auf den Kopf, den Rücken und das Gesäß geschlagen hatte, durch Würgen und Verschließen der Gesichtsöffnungen, sodaß das Kind letztlich erstickte, vorsätzlich getötet zu haben.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diesen Schuldspruch erhobenen, auf § 345 Abs 1 Z 4, 8 und 10 a StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kann, soweit sie einen Verfahrensmangel im Sinne des erstbezeichneten Nichtigkeitsgrundes geltend macht, Berechtigung nicht abgesprochen werden.

Der bereits während der Voruntersuchung beigezogene Sachverständige aus dem Gebiet der Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters Univ.Prof. Dr.F***** führte am 5.Dezember 1991 eine Untersuchung der am 1.August 1984 geborenen Delvin S***** (einer Nichte des Angeklagten und Schwester des getöteten Knaben), der am 20.Oktober 1985 geborenen Sheila S***** und der am 5.Dezember 1987 geborenen Shirin S***** (die beiden letzteren sind Töchter des Angeklagten) durch, bei der er zumindest die beiden älteren Kinder das von ihnen beobachtete Tatgeschehen darstellen ließ und sie dazu befragte. Den Inhalt dieser Darstellungen und Angaben der Kinder, der den Angeklagten belastet, hielt er schriftlich in einer Befundaufnahme fest (S 379 ff/I = ON 31).

Da der genannte Sachverständige auch ausführte, daß jeder Auftritt der Kinder vor Gericht, insbesondere in einem Geschworenengerichtsverfahren, in emotionaler und sozialer Sicht gegen deren Wohl gerichtet wäre (S 391/I, 257/II) und außerdem voraussichtlich "keinerlei Erfolg bezüglich der Erhärtung der geschehenen Fakten" bringen werde, schlug er eine neuerliche Befundaufnahme in der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters vor, bei der dem Untersuchungsrichter, dem Staatsanwalt und dem Verteidiger die Möglichkeit geboten werde, die Kinder durch einen Einwegspiegel zu beobachten, und das Geschehen auf einer Videokassette aufgezeichnet werde (S 389/I).

Eine derartige neuerliche Befragung der drei Kinder, an der sich der Untersuchungsrichter, der Staatsanwalt und der Verteidiger der damals (noch) als Beschuldigte behandelten Ehefrau des Angeklagten beteiligten, während der Verteidiger des Angeklagten trotz Veständigung vom Termin ausgeblieben ist, wurde am 23.Jänner 1992 durchgeführt (S 399 ff/I); sie wurde auch als gerichtliche Vernehmung vorgenommen (S 400/I), wobei sich der Sachverständige bereit erklärte, allfällige Fragen des Richters, des Staatsanwaltes und des (erschienenen) Verteidigers an die Kinder zu stellen. Eingangs dieser Befragung wurden die Kinder vom Sachverständigen über das Entschlagungsrecht gemäß § 152 Abs 1 Z 1 StPO belehrt. Delvin S***** erklärte, nicht aussagen zu wollen; die beiden jüngeren Kinder Sheila und Shirin S***** erklärten sich zur Aussage bereit. Die beiden letzteren, und zwar hauptsächlich Sheila S***** machten sodann in Form eines "Darstellungsspiels" und ergänzenden Erklärungen hiezu Angaben zur Sache.

In der zum Urteil führenden Hauptverhandlung vom 19.Februar 1993 wurden die Videoaufzeichnungen über die Befragung vom 23.Jänner 1992 vorgeführt (S 395/II). Unmittelbar danach erstattete der Sachverständige Univ.Prof. Dr.F***** sein Gutachten, und zwar - neben weiteren Ausführungen - auch (ohne Einschränkungen) "wie ON 31", und nahm in weiterer Folge überdies auf den Inhalt der ihm gegenüber gegebenen Schilderungen der Delvin S***** über den Tathergang Bezug (S 397, 399/II).

Soweit der Beschwerdeführer in seiner Verfahrensrüge (Z 4) vorbringt, die Vorführung der Videokassette über das "Spiel" mit den Kindern Sheila und Shirin S***** sei "im Lichte dieser Bestimmung (des § 152 StPO) zumindest als problematisch anzusehen", ist er allerdings nicht im Recht. Daß diese beiden Kinder vom Sachverständigen eingangs der Befragung vom 23.Jänner 1992 nicht etwa ihrem Alter entsprechend in verständlicher Weise über ein ihnen zustehendes Entschlagungsrecht belehrt worden wären, wird vom Beschwerdeführer nicht behauptet. Eine - für das Wohl der Kinder überdies schädliche - Vorladung zur Hauptverhandlung, um sie hier neuerlich über eine Inanspruchnahme des Entschlagungsrechtes zu vernehmen, wie der Beschwerdeführer nunmehr fordert, war demnach nicht geboten (und wurde von ihm in der Hauptverhandlung auch gar nicht beantragt).

Nur der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß der eingehaltene Vorgang des Abspielens der Videoaufnahme über die kontradiktorisch erfolgte Beweisaufnahme sogar den am 1.Jänner 1994 in Kraft tretenden, der besonderen Problematik der Verlesung von im Vorverfahren abgelegten Zeugenaussagen Rechnung tragenden Bestimmungen der §§ 162 a, 252 Abs 1 Z 2 a StPO (neu) entsprochen hat.

Das Kind Delvin S***** hingegen machte eingangs der Befragung vom 23. Jänner 1992 von seinem Entschlagungsrecht Gebrauch und wurde demnach an diesem Tag auch nicht in das Darstellungsspiel miteinbezogen oder weiter befragt (S 399 ff/I).

Angesichts dieser Sachlage wäre der Schwurgerichtshof demnach verhalten gewesen, die Einbringung der in der Befundaufnahme im Gutachten ON 31 enthaltenen Angaben des Kindes Delvin S***** über das Tatgeschehen - die im Gutachten als präzise, sicher und exakt charakterisiert werden (S 389, 391/I) - in Form des (uneingeschränkten) Vortrages dieses Gutachtens ON 31 in der Hauptverhandlung ebenso hintanzuhalten wie die weitere Bezugnahme des Sachverständigen in der Hauptverhandlung auf den Inhalt der Tatschilderung dieses Kindes (S 397, 399/II). Dies hat der Schwurgerichtshof jedoch unterlassen und solcherart eine unzulässige Umgehung des Entschlagungsrechtes bewirkt. Denn Sachverhaltsangaben über den Tathergang, die eine entschlagungsberechtigte Person einem Sachverständigen gemacht hat, der insoweit gleichsam in einer Vermittlerrolle gegenüber dem Gericht tätig wird, sind für das Urteil unverwertbar (Mayerhofer-Rieder StPO3 § 152 E 38 ff mit kritischer Anmerkung der Herausgeber; ebenso jedoch 11 Os 94/91, 10 Os 159/85).

Da vorliegend - durch das Wesen des Geschworenengerichtsverfahrens bedingt - nicht auszuschließen ist, daß die Geschworenen bei ihrem Verdikt auch die in die Hauptverhandlung eingebrachten Schilderungen der Delvin S***** über den Tathergang in ihre beweiswürdigenden Erwägungen miteinbezogen haben könnten, zumal sie in ihrer gemäß § 331 Abs 3 StPO verfaßten Niederschrift ohne Einschränkung ua die "Aussagen der Kinder" und das "Sachverständigengutachten" als Erwägungen für ihr Verdikt angaben, und demnach nicht unzweifelhaft erkennbar ist, daß die angeführte Formverletzung (§ 152 Abs 1 Z 1 StPO) auf die Entscheidung keinen dem Angeklagten nachteiligen Einfluß üben konnte, mußte schon bei einer nichtöffentlichen Beratung mit einer Kassation des Wahrspruches und des darauf beruhenden Urteils vorgegangen und die Verfahrenserneuerung angeordnet werden, ohne daß es erforderlich gewesen wäre, auf die weiteren Beschwerdeausführungen einzugehen.

Der Angeklagte war mit seiner Berufung auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.

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