OGH 7Ob10/93

OGH7Ob10/9321.4.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Peter W*****, vertreten durch Dr.Robert Eiter, Rechtsanwalt in Landeck, wider die beklagte Partei W***** Versicherungs-AG, ***** vertreten durch Dr.Günther Zeindl, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen S 64.600,-- s.A. infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 25.Juni 1992, GZ 1a R 294/92-18, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 19.April 1992, GZ 28 C 725/91v-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden dahingehend abgeändert, daß sie zu lauten haben:

Das Klagebegehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen S 64.600,-- samt 4 % Zinsen seit 23.1.1991 zu bezahlen, wird abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 18.117,20 (darin S 2.295,20 Umsatzsteuer und S 4.346,-- Barauslagen) bestimmten Prozeßkosten erster Instanz, die mit S 12.046,08 (darin S 1.207,68 Umsatzsteuer und S 4.800,-- Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit S 10.348,80 (darin S 724,80 Umsatzsteuer und S 6.000,-- Barauslagen) bestimmten Revisionskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger schloß mit der beklagten Versicherung eine Kollisionskaskoversicherung ab, der die KKB 1986 zugrundeliegen. Er verschuldete am 23.10.1990 um ca. 23 Uhr auf der I*****straße einen Verkehrsunfall, als er bei einer Geschwindigkeit von 85 bis 90 km/h und eingeschaltetem Abblendlicht versuchte, in einen auf dem Beifahrersitz befindlichen Kassettenrecorder eine Musikkassette einzulegen bzw. eine bereits darin befindliche umzudrehen. Als ihm dies nicht gelang, richtete er seinen Blick von der Fahrbahn weg auf den Kassettenrecorder. Als er wieder aufschaute, befand er sich bereits im Nahbereich des Beginnes einer mittelstarken Linkskurve. Der Kläger reagierte darauf noch im Bereich des geraden Straßenstückes, 3,1 Sekunden vor der Kollision bzw 59,1 m vor der Unfallstelle, mit einer "schreckhaften Überbremsung". Bedingt durch die Blockierung rutschte der PKW geradeausfahrend aus der Kurve hinaus und prallte gegen einen auf dem anschließenden Grundstück stehenden Verteilerkasten der TIWAG mit einer Restgeschwindigkeit von 30 bis 40 km/h. Der Kläger wurde verletzt, sein Fahrzeug erlitt einen Schaden in Höhe von S 68.000,--. Der Kläger hätte die Kurve mit maximal 100 km/h befahren können. Bei der vom Kläger gewählten Geschwindigkeit war es ihm nicht mehr möglich, in dem vom Abblendlicht her bestimmten Sichtbereich anzuhalten. Wäre er aber 5 bis 10 km/h langsamer gefahren oder hätte er die Bremsung nach Bremseinsatz wieder etwas gelöst und dann wieder verstärkt, hätte er die Kollision vermeiden können. Der Kläger ging trotz einer Rißquetschwunde an der Stirne in jenes ca. 1200 m entfernte Haus zurück, in dem er den ganzen Tag über gearbeitet hatte, und ließ sich von dort zu einem Arzt fahren. Dieser wies ihn in ein Krankenhaus ein. Der Kläger verständigte nach dem Unfall zwar seine Lebensgefährtin telefonisch vom Unfallereignis, er unterließ jedoch eine Gendarmerieanzeige. Die Gendarmerie suchte ihn am nächsten Morgen im Krankenhaus auf. Der Kläger hatte am Unfallstag nur eine Flasche Bier zum Abendessen getrunken. Er wurde von der Bezirkshauptmannschaft Imst wegen der Verwaltungsübertretung nach § 4 Abs.5 StVO rechtskräftig bestraft.

Der Kläger begehrt von der beklagten Kaskoversicherung die Bezahlung des am PKW entstandenen Schadens.

Die Beklagte wendete ein, leistungsfrei zu sein, weil der Kläger in übermüdetem und alkoholisiertem Zustand eine Kassette in seinen Rekorder habe einlegen wollen und den Unfall damit grob fahrlässig verschuldet habe. Da der Kläger die ihm gebotene Unfallsmeldung bei der Gendarmerie unterlassen habe, sei es unmöglich gewesen, die Übermüdung und Fahruntauglichkeit des Klägers zu überprüfen. Der Kläger habe daher auch gegen die Obliegenheit nach Art.5 Abs.3 Z 3.1 der AFIB 1986 (iVm Art 5 Z.1 KKB) verstoßen.

Das Erstgericht gab der Klage statt. Es könne mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß durch die unterlassene Unfallsmeldung etwas verabsäumt worden sei, was der Aufklärung des Schadensereignisses dienlich gewesen wäre. Der Kassettenwechsel während der Fahrt sei nicht als grob fahrlässig zu beurteilen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, daß die (ordentliche) Revision nicht zulässig sei. Dem Kläger sei trotz gegebener Verletzung der Anzeigepflicht nach § 4 Abs.5 StVO der Beweis gelungen, dem von der beklagten Partei gehegten Verdacht seiner Alkoholisierung mit Sicherheit zu entkräften. Der Obliegenheitsverletzung komme daher keine Bedeutung zu. Die bei eingeschaltetem Abblendlicht überhöhte Geschwindigkeit und das Abwenden der Blickrichtung von der vor ihm liegenden Fahrbahn auf den Beifahrersitz hin zum Einlegen einer Kassette seien noch nicht als grobe Fahrlässigkeit zu beurteilen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Versicherung ist zulässig und berechtigt.

Grobe Fahrlässigkeit ist im Bereich des Versicherungsvertragsrechtes dann gegeben, wenn schon einfachste, naheliegende Überlegungen nicht angestellt und Maßnahmen nicht ergriffen werden, die jedermann einleuchten müssen, wenn jedenfalls völlige Gleichgültigkeit gegen das vorliegt, was offenbar unter den gegebenen Umständen hätte geschehen müssen (vgl. MGA VersVG3 § 6/65, Prölss-Martin VVG25, 126 f mwN).

Der vorliegende Sachverhalt ist jenem vergleichbar, der der Entscheidung 7 Ob 19/90 (= VR 1991, 325 = VersR 1991, 127) zu Grunde lag. Dort wurde das Zusammentreffen der durch die Suche nach einer Mautkarte herbeigeführten Unaufmerksamkeit des Lenkers bei gleichzeitiger überhöhter Geschwindigkeit nach Durchfahren einer langgezogenen Linkskurve als grob fahrlässig gewertet. Bedenkt man, daß das Abblendlicht nur einen Sichtbereich von ca.40 m gestattet und daß ein PKW-Lenker daher bei Abblendlicht innerhalb dieser Strecke, will er auf Sicht fahren, anhalten können muß, erweist sich entweder die vom Kläger eingehaltene Fahrgeschwindigkeit als zu hoch oder die unterlassene Einschaltung des Fernlichtes als grober Fahrfehler. Hat der Kläger unter diesen Gegebenheiten auch noch seine Aufmerksamkeit von der Fahrbahn abgewendet, um an einem auf dem Beifahrersitz stehenden Kassettenrekorder zu manipulieren, nachdem ihm das Einlegen oder Umdrehen einer Kassette und die Betätigung des richtigen Knopfes zum Einschalten des Gerätes nicht sofort gelungen war, ist zu dem zunächst angeführten schon an sich gefahrerhöhenden Umstand noch ein weiterer gefährlicher Umstand hinzugekommen. Unter Zugrundelegung des Zusammentreffens der geschilderten Umstände aber - mögen sie für sich genommen noch tolerierbar sein (Prölss-Martin aaO 127) - ist dem Kläger nach den dargestellten Grundsätzen entgegen der Ansicht der Vorinstanzen grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Der Kläger hat jene Sorgfalt außer acht gelassen, die sich aus den nie ganz vermeidbaren Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens als auffallende Sorglosigkeit heraushebt. Die beklagte Partei ist daher gemäß § 61 VersVG von der Verpflichtung zur Leistung frei.

Dazu kommt, daß zwar im Bereich der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung bei Verletzung von Obliegenheiten, die nach dem Versicherungsfall zu erfüllen sind, namentlich den Mitwirkungspflichten zur Feststellung des Sachverhalts (§ 8 Abs 2 Z 2 und 4 AKHB 1988), stets der Kausalitätsgegenbeweis zur Verfügung steht, damit die Leistungsfreiheit als Sanktion abgewendet werden kann - in Abweichung von § 6 Abs 3 VersVG also selbst dort, wo der Versicherungsnehmer die Obliegenheit vorsätzlich verletzt hat. Hat aber der Versicherungsnehmer vertragliche Obliegenheiten, so etwa namentlich in der Kaskoversicherung (Art 5 Z 3 AFIB 1986 iVm Art 5 Z 1 KKB), vorsätzlich verletzt, ist dem Versicherungsnehmer innerhalb von § 6 Abs 3 VersVG diese Möglichkeit genommen (vgl. hiezu Petrasch, ZVR 1985, 65 ff, insbes 70 und 77; B.Lorenz, VR 1993, 81 f; SZ 50/37 ua).

Im vorliegenden Fall wäre der Kläger wegen der Beschädigung des Verteilerkastens gemäß § 4 Abs 5 StVO verpflichtet gewesen, die nächste Polizei- oder Gendarmeriedienststelle vom Verkehrsunfall ohne unnötigen Aufschub zu verständigen. Für eine vorsätzliche Übertretung der Obliegenheitsverletzung reicht schon das allgemeine Bewußtsein des Versicherungsnehmers aus, daß er bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken hat; dieses Bewußtsein ist bei einem Versicherungsnehmer in der Regel vorauszusetzen (SZ 50/37). Den Beweis dafür, daß sich aus besonderen, von ihm zu beweisenden Umständen hier das Gegenteil ergäbe, hat der Kläger nicht erbracht. Die vorsätzliche Verletzung der Aufklärungspflicht durch den Versicherten aber befreit den Kaskoversicherer von seiner Leistungspflicht selbst dann, wenn die Obliegenheitsverletzung keinen Einfluß auf die Feststellung oder den Umfang der von ihr zu erbringenden Leistung gehabt hat (SZ 50/37). Zwar ist die Anzeigepflicht nicht Selbstzweck, sondern liegt eine Obliegenheitsverletzung nur dann vor, wenn im konkreten Fall etwas verabsäumt wurde, was zur Aufklärung des Sachverhalts dienlich gewesen wäre; es ist deshalb notwendig, daß ein konkreter Verdacht in bestimmter Richtung durch objektives Unbenützbarwerden oder objektive Beseitigung eines Beweismittels durch die unterlassene Meldung im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Einen derartigen Verdacht und die Unbenützbarkeit des Beweismittels aber hat der Versicherer behauptet und auch bewiesen, weil sich der Unfall um 23 Uhr ereignete, nachdem der Kläger ab 8 Uhr morgens bis zu diesem Zeitpunkt als Fliesenleger gearbeitet hatte, und weil der Kläger selbst einen, wenn auch geringen, Alkoholkonsum selbst zugegeben hat (vgl. Petrasch aaO 77).

Der Revision der beklagten Partei war daher Folge zu geben und es waren die Urteile der Vorinstanzen in eine klagsabweisende Entscheidung abzuändern.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens erster Instanz gründet sich auf § 41 ZPO, jene über die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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