OGH 7Ob584/88

OGH7Ob584/8819.5.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Warta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Wurz, Dr. Egermann, Dr. Angst und Dr. Niederreiter als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ernst G***, vertreten durch den Sachwalter Werner G***, Kaufmann, Lienz, Kreuzgasse 5, dieser vertreten durch Dr. Hermann Spinner, Rechtsanwalt in Lienz, wider die beklagte Partei L*** T*** Gesellschaft für Behinderte, Innsbruck, Amraserstraße 111, vertreten durch Dr. Christian Horwath, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 369.509,90 S s.A. und Feststellung (Gesamtstreitwert 469.509,90 S) infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 12. Februar 1988, GZ 4 R 258/87-88, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 21. Mai 1987, GZ 18 Cg 2/85-83, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit 15.307,05 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin 1.391,55 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Beklagte ist Eigentümerin der Liegenschaft EZ 102 II KG Lienz, auf der sie in den Jahren 1977 bis 1980 den Neubau eines Sozialzentrums errichten ließ. Mit Schulbeginn 1980/81 wurden im ersten Obergeschoß dieses Zentrums die Tagesheimstätten der Lebenshilfe Osttirol der Beklagten untergebracht. Dort wurden seit Ende 1980 ca. 30 Behinderte laufend betreut. Zu diesen Behinderten gehörte im Oktober 1980 auch der Kläger.

Am 3. September 1980 fand an Ort und Stelle eine Kollaudierungsverhandlung statt, weil die Beklagte um die Erteilung einer Benützungsbewilligung ersucht hatte. Mit Bescheid der Stadt Lienz vom 8. September 1980 wurde der Beklagten die Benützungsbewilligung für das erste Obergeschoß erteilt. Im Gelände des Baues befindet sich auch ein Hof, der einen 14,15 m x 1,05 m x 2,1 m großen Kellerlichtschacht aufweist. Die Sockelhöhe zur Fahrbahn des Hofraumes betrug am 29. Oktober 1980 19 cm. An diesem Tag war der Kellerlichtschacht weder abgedeckt noch mit dem in der Baubeschreibung vorgesehenen und vorgeschriebenen Geländer abgesichert.

Die Baumeisterarbeiten für den Neubau hatte die Beklagte der Firma Karl B***, Bauunternehmung in Lienz, übertragen. Diese war auch verpflichtet, sämtliche notwendigen Sicherungsmaßnahmen zu treffen. Sie hat die von ihr durchgeführten Maurer- und Bauarbeiten am 24. Oktober 1980 abgeschlossen und die Baustelle an diesem Tag geräumt. Die Fertigstellung der Zufahrt von der Mühlgasse her hatte Karl B*** der Firma M*** und K*** übertragen, dieser gegenüber jedoch mit keinem Wort die Notwendigkeit einer Absicherung des Kellerschachtes erwähnt. Dieser Schacht war während der Tätigkeit der Firma B*** abgedeckt gewesen. Später war ein Zugang von der Passage in den Hof nicht möglich, weil der Durchgang durch eine Verplankung versperrt war. Diese Absicherungen waren nach der Beendigung der Arbeiten der Firma Karl B*** am 24. Oktober 1980 entfernt worden (bezüglich der Details der getroffenen Maßnahmen sei auf die Wiedergabe der erstgerichtlichen Feststellungen durch das Berufungsgericht auf den Seiten 494 bis 496 des Aktes verwiesen).

Der Kläger war von der Beklagten bereits seit Jahren betreut worden. Er war durch die Folgen einer frühkindlichen Hirnschädigung schwer beeinträchtigt. Er hatte höchstens den Standard eines Kindes erreicht, das beginnt, die Volksschule zu besuchen. Beim Gehen war er von jeher behindert. Wenn er selbständig kurze Wege zurücklegte, so mußte er sich an Hauswänden abstützen, weil er zum Torkeln und Stolpern neigte.

Am 29. Oktober 1980 führte der bei der Beklagten beschäftigte Sebastian T*** vier Schützlinge der Beklagten, unter ihnen auch den Kläger, zu dem Heim. Da er keine anderen Möglichkeiten einer Zufahrt fand, wählte er einen Zugang über den Hof, in dem sich der oben erwähnte Schacht befand. Der hofseitige Zugang zu der Passage war damals völlig unbehindert passierbar. T*** half nun einem Gehbehinderten aus dem Fahrzeug und brachte ihn zum Haupteingang. Zu diesem Zeitpunkt saß der Kläger rechts vorne auf dem Beifahrersitz, wobei die rechte vordere Türe des Kombi geschlossen, aber nicht versperrt war. Bevor T*** mit dem ersten Fahrgast zum Haupteingang ging, forderte er den Kläger auf, mit dem Aussteigen zu warten, bis er zurückkomme. Der Kläger war beim Aussteigen jedes Mal ins Stolpern und Torkeln geraten, wenn er nicht von T*** unterstützt wurde. Schon früher hatte er allerdings öfter versucht, den Sperriegel des Autos zu öffnen und allein aus dem Auto auszusteigen. Als T*** nach ca. einer Minute vom Haupteingang zurückkehrte, fand er den Kläger nicht mehr im Wagen vor. Die Fahrzeugtüre war geschlossen, die Türverriegelung jedoch geöffnet. T*** stellte fest, daß der Kläger zwischenzeitlich offensichtlich allein das Fahrzeug verlassen hatte und in den Kellerlichtschacht gestürzt war. Nicht mehr strittig ist, daß der Kläger durch den Unfall Schäden im Betrag von 369.509,90 S erlitten hat und daß mit weiteren Schäden zu rechnen ist.

Die Vorinstanzen sprachen dem Kläger die begehrten 369.509,90 S s. A. zu und stellten fest, daß die Beklagte dem Kläger für alle zukünftig auf Grund des Unfalles erwachsenden Schäden zu haften habe. Hiebei führten sie im wesentlichen aus, im Hinblick auf die Beendigung der Arbeiten der Firma B*** und auf den Umstand, daß die Beklagte einen Teil des Gebäudes bereits für ihre Zwecke benützte, sei diese Besitzerin im Sinne des § 1319 ABGB gewesen. Die Haftung nach § 1319 ABGB gelte auch für künstliche Bodenvertiefungen wie Baugruben oder Schächte. Diese Bestimmung sei auch anzuwenden, wenn der Geschädigte durch Sturz in eine Baugrube oder einen Schacht einen Schaden erleide. Die Beklagte hätte also den Beweis dafür erbringen müssen, daß sie alle ihre möglichen und vernünftigerweise nach der Verkehrsauffassung zumutbaren Schutzvorkehrungen getroffen hat. Einen solchen Beweis habe sie nicht erbracht. Demgegenüber hätte der Kläger lediglich die mangelhafte Beschaffenheit des Werkes als Schädigungsursache zu beweisen gehabt. Einen solchen Beweis habe er erbracht. Ein Kausalzusammenhang zwischen der Unterlassung der Beklagten und der Schädigung des Klägers wäre nur dann unterbrochen, wenn ein Dritter in die Kausalkette eingegriffen hätte, ohne daß man auf das Wollen dieses Dritten Einfluß nehmen konnte und ohne daß man nach der Lebenserfahrung mit einer derartigen Handlung eines Dritten und den dadurch bedingten Geschehensablauf rechnen konnte. Berücksichtige man die allseits geschilderte Neugier des Klägers sowie die Tatsache, daß dieser schon früher öfters versucht hatte, den Sperriegel des Autos zu öffnen und allein aus dem Auto auszusteigen, so hätte mit einem Aussteigversuch des Klägers während der Abwesenheit T***'S gerechnet werden müssen. Die für den gehbehinderten Kläger von dem nur 2 m neben dem Auto befindlichen unabgesicherten Kellerschacht ausgehende Gefahr sei für eine vollhandlungsfähige Person evident gewesen. Eine Unterbrechung des Kausalzusammenhanges durch das weisungswidrige Verhalten des Klägers sei somit nicht gegeben.

Rechtliche Beurteilung

Auf die Frage eines Mitverschuldens des Klägers muß nicht mehr eingegangen werden, weil die diesbezügliche Verneinung der Vorinstanzen in der Revision nicht mehr in Frage gestellt wird. Die von der Beklagten gegen das Urteil des Berufungsgerichtes wegen § 503 Abs. 1 Z 2 bis 4 ZPO erhobene Revision ist nicht gerechtfertigt.

Mit dem Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit unternimmt die Beklagte in Wahrheit den Versuch einer Bekämpfung der Feststellung, daß die Firma Karl B*** ihre Arbeiten bereits am 24. Oktober 1980 beendet hatte. An diese Feststellung ist der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, gebunden. Ob aber die Beendigung der Arbeiten durch diese Firma die Beklagte bereits zur Besitzerin des Gebäudes im Sinne des § 1319 ABGB gemacht hat oder ob es hiezu einer förmlichen Abnahme bedurft hätte, ist eine Rechtsfrage.

Die Frage, ob eine Beweiswiederholung notwendig ist, gehört in das Gebiet der im Revisionsverfahren nicht mehr bekämpfbaren Beweiswürdigung (Fasching IV, 310, JBl. 1954/395 u.a.). Nur das Unterlassen einer Beweiswiederholung durch das Berufungsgericht ist aber Gegenstand der Mängelrüge der Revision.

Mit der Rechtsrüge wendet sich die Beklagte ausschließlich gegen die Rechtsansicht der Vorinstanzen, sie wäre im Hinblick auf die Beendigung der Arbeiten durch die Firma B*** Besitzer des Gebäudes im Sinne des § 1319 ABGB geworden.

Es mag sein, daß in vielen Fällen die Haftung des Eigentümers eines Gebäudes nach § 1319 ABGB durch den Umstand ausgeschlossen wird, daß ein Bauunternehmen mit der Verbauung beauftragt wurde und daß es seine Arbeiten noch nicht abgeschlossen bzw. das Werk übergeben hat. Eine absolute Regel in diesem Sinn kann jedoch nicht aufgestellt werden. Besitzer im Sinn des § 1319 ABGB ist nämlich derjenige, der in der Lage ist, durch die erforderlichen Vorkehrungen die Gefahr rechtzeitig abzuwenden und hiezu auch durch eine Beziehung zu dem Gebäude oder Werk verpflichtet wäre (JBl. 1986, 523, RZ 1980/24 ua). Die strenge Haftung soll denjenigen treffen, der die Vorteile aus der Sache zieht und über ihren Gebrauch disponieren kann, in moderner Terminologie also der Halter. Derjenige, der durch seine Beziehung zum Werk zur Gefahrenabwehr verpflichtet ist, ist eben der Halter. Als solcher ist er auch in der Lage, die erforderlichen Vorkehrungen gegen Gefahren zu treffen (Reischauer in Rummel, Rz 12 zu § 1319).

Im vorliegenden Fall steht fest, daß die Firma B*** ihre Bauarbeiten de facto am 24. Oktober 1980 abgeschlossen und die Absicherungen des Schachtes entfernt hatte. Ob dies bereits als rechtliche Erfüllung ihres Auftrages anzusehen war oder ob es hiezu einer förmlichen Bauabnahme bedurft hätte, ist für die Frage einer Haftung nach § 1319 ABGB unerheblich. Da bei dem Schacht tatsächlich Arbeiten nicht mehr durchgeführt wurden, war die Beklagte ab diesem Zeitpunkt in der Lage, wirksame Maßnahmen zur Absicherung des Schachtes zu treffen. Hiezu wäre sie im Hinblick darauf, daß sie zumindest Teile des Gebäudes bereits benützte, wobei sie mit Bewegungen im Gelände durch Personen, deren teilweise oder gänzliche Hilflosigkeit sie kannte und die ihr zur Betreuung anvertraut waren, rechnen mußte, auch verpflichtet gewesen. Daß sie die Entfernung der Absicherung durch die Baufirma nicht bemerkt hätte oder nicht bemerken hätte müssen, hat die Beklagte weder behauptet noch bewiesen. Immerhin lag die Entfernung der Absicherungen bereits nahezu eine Woche vor dem Unfall, so daß der Beklagten ein Zeitraum zur Verfügung stand, der für eine entsprechende Wahrnehmung wohl ausgereicht hätte. Selbst wenn man den Standpunkt vertritt, die Baufirma wäre nach wie vor zu einer Absicherung des Schachtes verpflichtet gewesen, hätte dies die Beklagte von der Verpflichtung, etwas zum Schutz der ihr anvertrauten Personen zu unternehmen, nicht enthoben, wenn sie selbst in der Lage gewesen wäre, den gefährlichen Zustand zu erkennen. In einem solchen Fall hätte sie entweder die Baufirma an ihre Pflichten erinnern oder zumindest die bereits von ihr benützten Teile des Gebäudes so verschließen müssen, daß ein Betreten der gefährlichen Stelle nicht möglich gewesen wäre. Derartiges hat die Beklagte unterlassen, ohne einen zwingenden Grund für diese Unterlassung anzugeben. Dies begründet ihre Haftung nach § 1319 ABGB.

Richtig ist, daß die erwähnte Gesetzesbestimmung keine Erfolgshaftung, sondern eine Verschuldenshaftung beinhaltet, allerdings mit umgekehrter Beweislast (SZ 58/13, SZ 41/27 u.a.). Wie bereits dargelegt wurde, hat der Kläger bewiesen, daß die Beklagte in der Lage gewesen wäre, durch die erforderlichen Vorkehrungen die Gefahr rechtzeitig abzuwenden und hiezu auch durch eine Beziehung zum Gebäude oder Werk verpflichtet gewesen wäre. Die erforderlichen Schutzmaßnahmen wurden nicht gesetzt. Daß der Beklagten ein Setzen solcher Maßnahmen unmöglich oder unzumutbar gewesen wäre, wurde von dieser nicht bewiesen.

Mit Recht haben demnach die Vorinstanzen die Haftung der Beklagten nach § 1319 ABGB bejaht. Der Höhe nach ist das Klagebegehren im Revisionsverfahren ebensowenig strittig, wie das Fehlen eines ursprünglich eingewendeten Mitverschuldens des Klägers. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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