OGH 1Ob5/83

OGH1Ob5/8315.6.1983

SZ 56/93

Normen

AVG §17 Abs1
AHG §1
AVG §17 Abs1
AHG §1

 

Spruch:

Der Verlust eines auch für privatrechtliche Ansprüche eines Geschädigten wesentlichen Beweismittels durch ein nach einem Verkehrsunfall intervenierendes Organ eines Rechtsträgers kann Amtshaftungsansprüche zur Folge haben

OGH 15. 6. 1983, 1 Ob 5/83 (OLG Wien 14 R 50/82; LGZ Wien 40 c Cg 509/81)

Text

Der Kläger ist Halter des PKW Marke Mercedes 240 D mit dem polizeilichen Kennzeichen W 40.003, das von ihm im Taxigewerbe verwendet wird. Am 1. 3. 1980 gegen 22 Uhr fuhr der damals beim Kläger als Taxilenker beschäftigte Hans H mit diesem Fahrzeug in Wien auf der Linken Wienzeile stadtauswärts. Als er sich der Kreuzung dieser Straße mit der Kettenbrückengasse näherte, fuhr ein anderes Taxi vor ihm, das plötzlich verkehrsbedingt scharf abbremsen mußte. Hans H konnte sein Fahrzeug kontaktfrei anhalten, ein hinter ihm fahrender PKW-Lenker fuhr jedoch mit seinem Fahrzeug auf das Fahrzeug des Klägers auf. Der Kläger erlitt als Folge des Ausfalles seines Fahrzeuges während der erforderlichen Reparaturarbeiten einen Verdienstentgang in der Höhe von 8000 S und hatte 1000 S Selbstbehalt in der Kaskoversicherung zu tragen.

Der Kläger begehrt von der beklagten Partei, dem Land Wien, mit der auf das Amtshaftungsgesetz gestützten Klage den Betrag von 9000 S sA. Er brachte vor, Hans H habe sich das polizeiliche Kennzeichen des unfallbeteiligten Fahrzeuges notiert und diese Notiz dem Beamten eines intervenierenden Funkstreifenwagens zum Zwecke der Ausforschung des Täters, der sich vom Unfallort entfernt hatte, übergeben. Der Beamte habe diesen Zettel verloren, sodaß die Ausforschung des Täters nicht mehr möglich sei.

Die beklagte Partei beantragte Abweisung des Klagebegehrens, weil auf dem dem Polizeibeamten übergebenen Taxirechnungsblock eine Kennzeichennummer nicht notiert gewesen sei. Es liege schon der Behauptung nach ein rechtswidriges Organverhalten nicht vor.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es nahm nicht als erwiesen an, daß Hans H dem Polizeibeamten Insp. Franz B einen Zettel übergeben habe, auf dem das polizeiliche Kennzeichen des Fahrzeugs, mit dem der Unfall verursacht wurde, notiert war. Demnach könne der Polizeibeamte einen solchen Zettel auch nicht verloren haben, sodaß ein schuldhaftes, pflichtwidriges Organverhalten nicht vorliege.

Das Berufungsgericht gab der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung des Klägers Folge und änderte es dahin ab, daß es dem Klagebegehren stattgab. Es stellte nach Beweiswiederholung fest: Hans H habe sich nach dem Zusammenstoß um seinen Fahrgast gekümmert; er sei ausgestiegen, habe sich an den Fahrer des unfallbeteiligten Fahrzeuges gewendet und ihm mitgeteilt, daß er die Polizei verständigen werde. Hans H habe über Funk die Taxizentrale vom Unfall verständigt sowie ein anderes Taxi und die Funkstreife angefordert. Dann habe er sich auf einem Quittungsblock das Kennzeichen des Fahrzeuges sowie die Namen zweier Zeugen, die den Unfall beobachtet hatten, notiert. Er habe auch das polizeiliche Kennzeichen jenes Fahrzeuges, das vor ihm gefahren war, aufgeschrieben. Etwa fünf Minuten später sei das angeforderte Taxi gekommen. Während sich Hans H Notizen gemacht habe, sei der Lenker des unfallbeteiligten Fahrzeuges etwa 50 bis 100 m auf der Linken Wienzeile weitergefahren und habe sich in der Folge entfernt. Nach zirka 10 bis 15 Minuten sei die Funkstreife eingetroffen. Hans H habe den Beamten Franz B und Albert R den Unfallhergang geschildert und sie darauf hingewiesen, daß der Lenker des Fahrzeuges, der den Unfall verursacht hatte, Fahrerflucht begangen habe. Die Funkstreifenbesatzung sei bemüht gewesen, rasch eine Verfolgung des Fluchtwagens aufzunehmen, und habe Hans H aufgefordert, an der Unfallstelle zu bleiben. Hans H habe den Beamten den Quittungsblock, auf dem er das polizeiliche Kennzeichen des Fluchtwagens notiert gehabt habe, übergeben. Die Beamten hätten die Verfolgung aufgenommen, diese sei jedoch ohne Erfolg geblieben. Der Quittungsblock sei Hans H nicht ausgefolgt worden. Die Beamten hätten in der Umgebung des Funkstreifenwagens nach dem Quittungsblock bzw. nach dem Zettel, auf dem die Notizen gemacht worden waren, gesucht, der Block habe aber nicht mehr gefunden werden können.

In rechtlicher Hinsicht ging das Berufungsgericht davon aus, daß die Passivlegitimation der beklagten Partei zu bejahen sei, weil die Organe bei Vollziehung von Normen der Straßenverkehrsordnung iS des Art. 11 Abs. 1 Z 4 B-VG im Funktionsbereich des Landes tätig geworden seien. Der eingetretene Schaden sei auch adäquate Folge des Verlustes des Zettels, auf dem das polizeiliche Kennzeichen des unfallbeteiligten Fahrzeuges notiert gewesen sei; bei Kenntnis des Kennzeichens hätte mit einer Ausforschung des Halters des Fahrzeuges gerechnet werden können. Es liege auch ein rechtswidriges und schuldhaftes Organhandeln vor. Der Lenker des Fahrzeuges, der am Fahrzeug des Klägers Sachschaden verursacht habe, habe sich vom Unfallort entfernt, ohne seine Identität nachzuweisen, damit gegen die Bestimmung des § 4 Abs. 5 StVO verstoßen und eine Verwaltungsübertretung iS des § 99 Abs. 3 lit. b StVO begangen. Die Beamten der Funkstreife seien im Hinblick auf diesen Sachverhalt zum Einschreiten nach den Normen des Verwaltungsstrafgesetzes verpflichtet gewesen. Gemäß § 25 Abs. 2 VStG seien die den Beschuldigten belastenden Umstände zu berücksichtigen. Sei der Täter oder dessen Aufenthalt unbekannt, so habe die Behörde nach § 34 VStG den Sachverhalt möglichst rasch ins Klare zu bringen und Nachforschungen nach dem Beschuldigten einzuleiten. Daß die amtshandelnden Polizeiorgane den ihnen vom Taxilenker übergebenen Zettel mit der Nummer des Fluchtfahrzeuges verloren hätten, sei als Verstoß gegen die vorgenannten Bestimmungen zu werten, weil dadurch die Ausforschung des flüchtigen Lenkers vereitelt worden sei. Darin liege ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten der in Vollziehung des Gesetzes begriffenen Organe des Rechtsträgers. Die genannten Normen des Verwaltungsstrafgesetzes bezweckten zumindest nebenher auch den Schutz des durch die strafbare Handlung Verletzten, sodaß auch der Rechtswidrigkeitszusammenhang gegeben sei. Ein Mitverschulden des Hans H am eingetretenen Schaden sei weder eingewendet worden noch auch bei der gegebenen Sachlage anzunehmen.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der beklagten Partei nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen ist im Revisionsverfahren davon auszugehen, daß der Kläger den nach dem Unfall intervenierenden Polizeibeamten, die die Ausforschung des Lenkers, der den Sachschaden verursacht hatte, aufnahmen, einen Notizblock übergab, auf dem das polizeiliche Kennzeichen des Fahrzeuges notiert war. Zutreffend wies das Berufungsgericht darauf hin, daß gemäß § 4 Abs. 5 StVO alle Personen, deren Verhalten am Unfallort mit einem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhang steht, auch dann, wenn nur Sachschaden entstanden ist, die nächste Polizeidienststelle vom Verkehrsunfall ohne unnötigen Aufschub zu verständigen haben; eine solche Meldung darf nur unterbleiben, wenn diese Personen bzw. jene, in deren Vermögen der Schaden eingetreten ist, einander ihre Identität nachgewiesen haben. Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung stellt gemäß § 99 Abs. 3 lit. b StVO eine Verwaltungsübertretung dar. Gemäß § 25 Abs. 1 VStG sind Verwaltungsübertretungen grundsätzlich von Amts wegen zu verfolgen. Für das Verwaltungsstrafverfahren gelten dabei gemäß § 24 VStG mit den dort bezeichneten Ausnahmen die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes. Gemäß § 17 Abs. 1 AVG hat die Behörde grundsätzlich den Parteien die Einsicht- und Abschriftnahme der Akten oder Aktenteile zu gestatten, deren Kenntnis zur Geltendmachung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Unter Akten sind dabei nicht nur Schriftstücke, sondern auch zeichnerische Darstellungen und dergleichen, aber auch andere Gegenstände zu verstehen, die in einem Verwaltungsverfahren in inhaltlicher Beziehung zu den behördlichen Amtshandlungen und Erledigungen stehen, wie zB als Beweismittel dienende Gegenstände (Mannlicher - Quell, Das Verwaltungsverfahren[8] I 199). Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die im Verwaltungsstrafverfahren gegen den unbekannten Täter einschreitenden Polizeibeamten den ihnen übergebenen Beweisgegenstand, der die Ausforschung des Täters und dem Kläger zum Schadenersatz Verpflichteten ermöglichte, zurückzustellen oder dem Verwaltungsstrafakt anzuschließen hatten; es wäre dann dem Kläger die Möglichkeit, seine rechtlichen Interessen zu verfolgen, gewahrt geblieben. Wenn die als Organe der beklagten Partei tätig gewesenen Polizeibeamten die erforderliche Sorgfalt unterließen, sodaß der Beweisgegenstand in Verlust geriet, fällt ihnen Fahrlässigkeit zur Last; daß der Verlust auch bei Anwendung gehöriger Sorgfalt nicht hätte vermieden werden können, hat die hiefür beweispflichtige beklagte Partei nicht einmal behauptet. Die beklagte Partei macht unter Berufung auf die ältere Rechtsprechung des OGH geltend, daß ein Amtshaftungsanspruch nur dann bestehe, wenn gesetzliche Bestimmungen in grob fahrlässiger Unkenntnis nicht angewendet wurden, was bei Ermessensentscheidungen einen Ermessensmißbrauch voraussetze. Diesen Ausführungen ist zunächst entgegenzuhalten, daß der OGH in seiner neueren Rechtsprechung klargestellt hat, daß der Rechtsträger iS des Amtshaftungsgesetzes auch für ein leichtes Verschulden seiner Organe einzutreten hat, wenn es in einem Abweichen von einer klaren Gesetzeslage besteht. Es darf nur nicht jede Frage, die im Ermessensbereich zu entscheiden ist, einer neuen Prüfung in einem Amtshaftungsverfahren unterzogen werden. Wenn Bestimmungen nicht vollkommen eindeutig sind, wenn sie Unklarheiten über die Tragweite des Wortlautes enthalten und eine höchstrichterliche Rechtsprechung als Entscheidungshilfe nicht zur Verfügung steht, kommt es darauf an, ob bei pflichtgemäßer Überlegung die getroffene Entscheidung als vertretbar bezeichnet werden kann (SZ 53/83; SZ 52/56 ua.). Daß Beweisgegenstände dem Akt anzuschließen bzw. wieder auszufolgen sind, ist eine geradezu selbstverständliche Vorgangsweise jedes geordneten Amtshandelns; Unklarheiten über die Gesetzeslage können nicht bestehen. Eine Ermessensentscheidung ist nicht zu treffen, sodaß sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen Ermessensentscheidungen einen Amtshaftungsanspruch begrunden können, gar nicht stellt.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte