OGH 1Ob53/81

OGH1Ob53/8117.3.1982

SZ 55/36

Normen

AVG §60
AVG §68 Abs4
AHG §1
B-VG Art130 Abs2
AVG §60
AVG §68 Abs4
AHG §1
B-VG Art130 Abs2

 

Spruch:

Die in Ausübung des Aufsichtsrechtes nach § 68 Abs. 4 AVG 1950 erfolgte rechtswidrige Aufhebung eines in Rechtskraft erwachsenen Baubewilligungsbescheides wegen angeblicher Unzuständigkeit der Behörde rechtfertigt die Amtshaftung für den daraus entstandenen, auch durch Anrufung des VwGH nicht beseitigten Schaden, wenn die Ermessensausübung nach den Umständen als grob sachwidrig (unvertretbar) erachtet werden muß

OGH 17. März 1982, 1 Ob 53/81 (OLG Innsbruck 2 R 214/81; LG Innsbruck 6 Cg 399/80)

Text

Am 8. 11. 1973 ersuchte der Kläger beim Bürgermeister der Gemeinde S um Erteilung der Baubewilligung für die Errichtung eines Neubaues auf seinem Grundstück 73/4 KG S. Bei der am 14. 3. 1974 durchgeführten mündlichen Verhandlung erhoben Nachbarn Einwendungen, die auch bei der weiteren Verhandlung am 26. 3. 1974 aufrecht erhalten wurden. Mit Bescheid vom 28. 3. 1974 erteilte der Bürgermeister der Gemeinde S die angestrebte Baubewilligung unter gleichzeitiger Vorschreibung einer Reihe von Auflagen. Dagegen erhoben mehrere Nachbarn und der Kläger Berufung; der Kläger bekämpfte einige der ihm erteilten Auflagen. Der Gemeindevorstand der Gemeinde S gab mit Bescheid vom 26. 8. 1974 den Berufungen der Nachbarn Folge, behob gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 den angefochtenen Bescheid und versagte die baubehördliche Bewilligung. Der dagegen erhobenen Vorstellung des Klägers gab die Tiroler Landesregierung mit Bescheid vom 27. 3. 1975 Folge. Sie vertrat die Rechtsansicht, der Gemeindevorstand habe die Baubewilligung wegen Verletzung des Orts-, Straßen- und Landschaftsbildes versagt, ohne hiezu einen Sachverständigen zu hören, was eine Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften begrunde. Im fortzusetzenden Verfahren werde der mit der Erstellung eines Gutachtens zu betrauende Sachverständige insbesondere zu begrunden haben, wodurch das Schutzobjekt gekennzeichnet sei und welche Störung durch den geplanten Bau herbeigeführt werde. Die Behörde habe unter Würdigung des Gutachtens des Sachverständigen über die Rechtsfrage zu entscheiden, ob der gesetzliche Tatbestand nach § 1 Abs. 1 der "Verunstaltungsverordnung" erfüllt sei. Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.

Im ergänzenden Ermittlungsverfahren wurde vom Gemeindevorstand der Gemeinde S ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der Gutachter hielt das Projekt wegen der zu geringen Zahl an Stellplätzen als besonderen Verkehrserreger nach den Bestimmungen der Reichsgaragenordnung für nicht vertretbar. Zur Frage der Einfügung des Bauvorhabens in das Ortsbild wurde in dem Gutachten die Auffassung vertreten, das Projekt widerspreche zwar, was Gebäudehöhe und Abstände betreffe, nicht dem Bebauungsplan, der Charakter der offenen Bauweise gehe jedoch durch den im Verhältnis zur Grundstücksgröße viel zu massigen Baukörper verloren. Die Planung lasse unschwer erkennen, daß städtebauliche, verkehrstechnische und baugestaltende Gesichtspunkte gegenüber den wirtschaftlichen in den Hintergrund hätten treten müssen. Die Baubehörde könne diesem subjektiven Gesichtspunkt nur folgen, soweit das öffentliche Interesse nicht beeinträchtigt werde.

Die ungünstige Gebäudeproportion bringe auch die gewählte unnatürliche Dachform mit sich. Da jedoch die Giebelrichtung richtig erscheine, sei vom Amtssachverständigen im erstinstanzlichen Verfahren ein Kreuzgiebel verlangt worden. Diese Form des Giebels entspreche nicht einer guten einwandfreien Baugestaltung. Giebeldächer solcher Art sollten schon aus technischen Gründen allein nicht unterbrochen werden. Es erscheine daher auch die Ablehnung nach § 1 der sogenannten Verunstaltungsverordnung gerechtfertigt.

Dieses Gutachten wurde den Parteien des Verfahrens zur Kenntnis gebracht. Der Kläger rügte, daß dieses Gutachten nicht der Rechtsansicht der Aufsichtsbehörde entspreche, erklärte sich aber mit gewissen Änderungen seines Bauvorhabens (Verkürzung des geplanten Objekts um etwa 15 m, Abänderung der Dachform) einverstanden. Er legte in der Folge neue Baupläne vor. Der Bescheid des Bürgermeisters der Gemeinde S vom 28. 3. 1974 wurde darauf gemäß § 66 AVG bestätigt und durch Vorschreibung nachstehender Auflagen ergänzt:

"1. Der Bauwerber hat das in den Einreichplänen dargestellte, dem erstinstanzlichen Bescheid zugrundeliegende Objekt in seinem nördlichen Teil so weit zu verkürzen, daß die Nordseite des Objektes mit der Nordflanke des bestehenden Baues auf der benachbarten Gp 73/10 eine gemeinsame Flucht bildet;

2. Der Dachfirst des Baukörpers ist in Nord- und Südrichtung auszubilden, sodaß solcher Art die Dachgiebel an den Schmalseiten des Bauwerkes zu stehen kommen; die dadurch bewirkte Verminderung der Gebäudehöhe ist im Sinne der Tekturpläne strikt einzuhalten;

3. In den Plänen dargestellte Berichtigungen sind unbedingt einzuhalten; eigenmächtige Abweichungen vom Bauplan sind nicht gestattet; die Grenzabstände sind strengstens zu berücksichtigen;

4. Das erdgeschoßige Niveau des Objektes ist der bestehenden Klosterstraße sowie der endgültigen Höhe der zukünftigen Andreas-Hofer-Straße anzugleichen. Die erdgeschoßigen Türen dürfen nicht über die Mauerflucht hinaus öffnen;

5. Die verbleibende Restfläche der Gp 73/4 ist zu asphaltieren und als Stellfläche für die Kraftfahrzeuge der künftigen Benützer des Gebäudes zu verwenden;

6. Der an der Ostseite des Bauobjektes verlaufende Weg ist auch während der Bauarbeiten für den Zufahrtsverkehr freizuhalten.

Im übrigen gelten die Auflagen des erstinstanzlichen Bescheides vom 28. 3. 1974. Von diesen Auflagen werden jedoch aufgehoben der 3. Satz des Punktes 3 sowie der Punkt 49 der baupolizeilichen Vorschreibungen."

Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, daß durch die erfolgte Verkleinerung des Projektes den Bedenken des Gutachters weitgehend Rechnung getragen worden sei. So sei die Giebelrichtung dem ursprünglichen Projekt wieder angeglichen worden und das Objekt verkleinert worden, so daß gegen die Baugestaltung und die Gebäudemaße kein Anstand mehr bestehe und eine einwandfreie Einfügung des Bauprojektes in das Ortsbild angenommen werden könne. Durch die Verkürzung des Objektes verringere sich schließlich nicht nur das zu erwartende Verkehrsaufkommen, sondern entstehe auch Raum für zusätzliche Abstellflächen für die zu erwartenden Kraftfahrzeuge der Besucher und Benützer, so daß der ursprünglich nicht berücksichtigte Bedarf nunmehr als gedeckt erscheine. Das verkleinerte Bauprojekt entspreche auch den Wünschen der Anrainer. Da eine gegen diesen Bescheid von einem Nachbarn erhobene Vorstellung in der Folge am 9. 7. 1975 zurückgezogen wurde, erwuchs der Bescheid in Rechtskraft.

Mit Schriftsatz vom 14. 8. 1975 begehrte der Bürgermeister der Gemeinde S bei der BH Innsbruck die Aufhebung des Bescheides des Gemeindevorstandes vom 21. 5. 1975 infolge Unzuständigkeit der Gemeindebehörde zweiter Instanz. Mit Bescheid der BH Innsbruck vom 22. 8. 1975 wurde dieser Anregung folgend der Bescheid des Gemeindevorstandes vom 21. 5. 1975 gemäß § 113 Abs. 1 der Tiroler Gemeindeordnung 1966 in Verbindung mit § 68 Abs. 4 lit. a AVG 1950 als von einer unzuständigen Behörde erlassen aufgehoben.

Die Aufsichtsbehörde vertrat die Rechtsansicht, der Gemeindevorstand hätte lediglich über das Bauansuchen absprechen dürfen, wie es der Entscheidung des Bürgermeisters vom 28. 3. 1974 zugrunde gelegen sei. Über ein neues Ansuchen, welches auf Grund der geänderten Pläne vorgelegen sei, hätte nur die Baubehörde erster Instanz absprechen dürfen. Da der Gemeindevorstand als Baubehörde zweiter Instanz darüber entschieden habe, sei eine Verletzung der Zuständigkeitsvorschriften anzunehmen und eine Verkürzung des Instanzenzuges eingetreten.

Mit Bescheid vom 25. 8. 1975 untersagte der Bürgermeister der Gemeinde S gemäß § 40 Abs. 2 der Tiroler Bauordnung 1974 die Fortsetzung der Bauarbeiten, weil eine rechtskräftige Baubewilligung nicht vorliege. Einer allfälligen Berufung wurde aufschiebende Wirkung aberkannt. Der dagegen erhobenen Berufung gab der Vorstand der Gemeinde S mit Bescheid vom 25. 9. 1979 Folge und hob diesen Bescheid auf. Der Bescheid der BH Innsbruck vom 22. 8.

1975 sei noch nicht rechtskräftig, so daß eine Baueinstellung nicht zu verfügen sei. Die gegen den Bescheid der BH Innsbruck vom 22. 8. 1975 vom Kläger erhobene Berufung wies die Tiroler Landesregierung mit Bescheid vom 29. 9. 1975 als unbegrundet ab. Nach Vorliegen dieses Bescheides der Tiroler Landesregierung teilte der Bürgermeister der Gemeinde S dem Kläger mit Schreiben vom 8. 10. 1975 mit, daß ab Zustellung des Bescheides der Tiroler Landesregierung die Fortsetzung der Bauarbeiten gesetzwidrig und strafbar sei, weil eine Baubewilligung nicht vorliege; ein zusätzlicher Einstellungsbescheid sei nicht erforderlich. Der Bescheid der Tiroler Landesregierung vom 29. 9. 1975 wurde vom VwGH mit Erkenntnis vom 23. 12. 1975 wegen Unzuständigkeit der belangten Behörde (mangelnde kollegiale Beschlußfassung) aufgehoben. Nach Sanierung dieses Mangels wies die Tiroler Landesregierung mit Bescheid vom 4. 5. 1976 die Berufung des Klägers neuerlich ab. Die Aufsichtsbehörde führte zur Begründung aus, ein Vergleich der im Akt erliegenden Planunterlagen ergebe, daß die ursprünglichen Baupläne mit den dem Bescheid des Gemeindevorstandes zugrunde liegenden Plänen in keiner Weise identisch seien und es sich daher um ein vollkommen neues Bauansuchen gehandelt habe. Über dieses Ansuchen hätte nur die Baubehörde erster Instanz entscheiden dürfen. Dadurch, daß die Baubehörde zweiter Instanz über den Rahmen des § 66 Abs. 4 AVG 1950 hinausgegangen sei und eine Zuständigkeit in Anspruch genommen habe, die ihr nicht zugekommen sei, hätte die Aufsichtsbehörde erster Instanz zu Recht eine Unzuständigkeit gemäß § 68 Abs. 4 lit. a AVG 1950 angenommen. Der VwGH hob mit Erkenntnis vom 11. 4. 1978, Zl. 1385/76, den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf und führte zur Begründung aus, die belangte Behörde habe in Übereinstimmung mit der Aufsichtsbehörde erster Instanz die Ansicht vertreten, der Gemeindevorstand der Gemeinde S habe im Rahmen des Baubewilligungsverfahrens über eine andere Sache entschieden als die Behörde erster Instanz und sohin das ihm als Berufungsbehörde zustehende Abänderungsrecht iS des § 66 Abs. 4 AVG 1950 überschritten. "Sache" iS des § 66 Abs. 4 AVG 1950 sei jene Angelegenheit, die den Gegenstand des unterinstanzlichen Verfahrens gebildet habe und die Gegenstand der Berufung sei. Die Auffassung der belangten Behörde, daß "Sache" iS des § 66 Abs. 4 AVG 1950 in einem baubehördlichen Bewilligungsverfahren nur der in den der Baubehörde erster Instanz vorgelegten Bauplänen zum Ausdruck gebrachte Wille des Bauwerbers sein könne, auf einer bestimmten Grundfläche ein ganz bestimmtes, in den Plänen festgelegtes Projekt auszuführen, habe der VwGH schon in seiner bisherigen Rechtsprechung abgelehnt. Nach dem Erkenntnis des VwGH vom 5. 10. 1964, Zl. 2216/63, sei eine Berufungsbehörde sogar verpflichtet, den Bauwerber zu einer Abänderung seines Bauvorhabens aufzufordern, wenn ein gegebener Versagungsgrund durch eine Modifikation des Bauansuchens beseitigt werden könne. Die Berufungsbehörde dürfe nur dann das ganze Bauvorhaben ablehnen, wenn sich der Bauwerber weigere, eine entsprechende Änderung seines Projektes vorzunehmen. Ausgehend von dieser Rechtsanschauung vermöge der VwGH die Ansicht der belangten Behörde nicht zu teilen, daß die als Berufungsbehörde eingeschrittene Gemeindebehörde das vom Beschwerdeführer abgeänderte Bauvorhaben nicht mehr als dieselbe Sache iS des § 66 Abs. 4 AVG 1950 beurteilen durfte. In diesem Zusammenhang dürfe nicht übersehen werden, daß der Bauwerber vor der Baubehörde zweiter Instanz im Hinblick auf das eingeholte Sachverständigengutachten seinen Antrag auf Erteilung der Baubewilligung im wesentlichen nur einschränkte, so daß das Bauvorhaben nicht als ein anderes ("aliud") zu beurteilen sei, wenngleich im Hinblick auf die Reduzierung der Baumaße verschiedene Veränderungen im Inneren des Gebäudes erforderlich geworden seien. Die Dachformen wiederum seien lediglich dem ursprünglichen Einreichplan entsprechend abgeändert worden. Auch die Gemeindebehörde zweiter Instanz gehe von dieser Einschränkung des Baugesuches aus, so daß entgegen der Auffassung der belangten Behörde das Vorliegen einer anderen Sache nicht zu Recht angenommen werden könne. Ob die Berufungsbehörde eine derartige Änderung des Bauvorhabens verlangen hätte dürfen und ob die von ihr getroffenen Vorschreibungen der Rechtslage entsprochen hätten, könne offen bleiben, weil der Bescheid des Gemeindevorstandes den Parteien des Baubewilligungsverfahrens gegenüber in Rechtskraft erwachsen sei. Habe aber der Gemeindevorstand als Berufungsbehörde nach der hier vorgenommenen Auslegung des Begriffes "Sache" iS des § 66 Abs. 4 AVG 1950 das ihm zustehende Abänderungsrecht nicht überschritten, erweise sich die Annahme der belangten Behörde, die Baubewilligung sei von einer unzuständigen Behörde erlassen worden, als nicht zutreffend. Daß nämlich der Gemeindevorstand im Rahmen seiner sachlichen und örtlichen Zuständigkeit als Berufungsbehörde in Angelegenheiten der örtlichen Baupolizei im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde tätig geworden sei, habe auch die belangte Behörde nicht in Abrede gestellt.

Der Kläger begehrt mit seiner auf die Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes gestützten Klage vom Bundesland Tirol den Betrag von 2 142 935.40 S samt Anhang und führte aus, die Organe der beklagten Partei hätten bei Aufhebung des Bescheides des Gemeindevorstandes vom 21. 5. 1975 fundamentale Rechtsgrundsätze verkannt und sich grob rechtswidrig verhalten. Die Aufhebung der in Rechtskraft erwachsenen Baubewilligung sei unvertretbar, sie sei darüber hinaus auch aus sachfremden Gründen erfolgt. Er, Kläger, habe dem Bürgermeister der Gemeinde S erklärt, daß er sich an eine mit der Gemeinde S getroffene Vereinbarung über die Einräumung einer Zufahrt über das ihm gehörige Grundstück 73/4 KG S nicht gebunden erachte, weil diese Vereinbarung nur zufolge der Drohung, daß er im Weigerungsfalle keine Baubewilligung erhalten werde, zustande gekommen sei. Daraufhin hätten der Bürgermeister und der damalige Gemeindesekretär der Gemeinde S mit der BH Innsbruck Kontakt aufgenommen und unter Mitteilung der erwähnten Umstände die Aufhebung des Bescheides des Gemeindevorstandes erwirkt. Durch die Aufhebung der ihm rechtskräftig erteilten Baubewilligung habe er einen Schaden in Höhe des Klagsbetrages erlitten.

Die beklagte Partei beantragt Abweisung des Klagebegehrens, weil die Aufhebung des Bescheides des Vorstandes der Gemeinde S jedenfalls auf einer vertretbaren Rechtsansicht beruhe. Das vom Gemeindevorstand bewilligte Bauvorhaben sei mit jenem, das Gegenstand der Entscheidung des Bürgermeisters der Gemeinde S gewesen sei, nicht ident. Das behauptete Zusammenspielen zwischen dem Bürgermeister der Gemeinde S und der BH Innsbruck werde bestritten; sollte es sich ereignet haben, wäre die beklagte Partei hiefür nicht verantwortlich. Die Aufhebung des Bescheides des Gemeindevorstandes der Gemeinde S habe auch nicht zwangsläufig zur Baueinstellung führen müssen; die Baueinstellung sei vom Bürgermeister der Gemeinde S verfügt worden und eine Ermessensentscheidung gewesen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, wenn auch durch das Erkenntnis des VwGH der Berufungsbescheid der Tiroler Landesregierung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts behoben worden sei, so könne dennoch nicht davon gesprochen werden, daß die Organe der beklagten Partei ein Verschulden iS des § 1 Abs. 1 AHG treffe, da nicht gesagt werden könne, sie seien bei ihrer Entscheidung von einer klaren Gesetzeslage oder der ständigen Rechtsprechung des zuständigen Höchstgerichtes abgegangen. Vielmehr habe im Hinblick auf die erheblichen Änderungen des Bauvorhabens gegenüber den ursprünglich eingereichten Plänen die Rechtsansicht, daß es sich um ein neues Bauansuchen handle, worüber der Bürgermeister von S als Baubehörde erster Instanz zu entscheiden gehabt hätte, durchaus vertreten werden können. Dem Klagebegehren müsse daher schon aus diesem Grund der Erfolg versagt bleiben.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge, hob das Urteil des Erstgerichtes unter Beisetzung eines Rechtskraftvorbehalts auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht zur Ergänzung der Verhandlung und neuen Entscheidung zurück. Die Haftungsverpflichtung des Rechtsträgers im Geltungsbereich des Amtshaftungsgesetzes umfasse auch leichtes Verschulden seiner Organe. Nicht jede in einer Entscheidung vertretene unrichtige Rechtsansicht bedeute ein Verschulden, das einen Amtshaftungsanspruch rechtfertige. Eine unrichtige, jedoch vertretbare Rechtsauffassung könne selbst dann keinen Amtshaftungsanspruch begrunden, wenn die Entscheidung der bisherigen Judikatur widerstreite oder eine Rechtsansicht oder Beweiswürdigung von der höheren Instanz nicht gebilligt werde; es gehe im Interesse der Rechtspflege und der Rechtssicherheit nicht an, jede Frage, die im Ermessensrahmen zu entscheiden sei, in einem nachfolgenden Amtshaftungsprozeß einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen. Auch wenn der VwGH mit Erkenntnis vom 11. 4. 1978 den Bescheid der Tiroler Landesregierung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben habe, könne - ziehe man die Begründung des Erkenntnisses in seiner Gesamtheit heran - nicht davon gesprochen werden, daß die Organe der beklagten Partei ihre Entscheidungen ohne Sorgfalt und grundliche Überlegung gefällt hätten, so daß für sich allein betrachtet in der Fällung der im Endergebnis unrichtigen Entscheidungen ein Verschulden nicht erblickt werden könne. Der Kläger habe jedoch durch Anführung konkreter Tatsachen und Beweismittel behauptet, die Organe der beklagten Partei seien bei ihren Entscheidungen von sachfremden Erwägungen ausgegangen; dieses Vorbringen sei nicht erörtert worden. Es handle sich bei diesen Klagsbehauptungen um erhebliche Tatsachen, werde doch damit zum Ausdruck gebracht, daß sowohl die BH Innsbruck als auch die Tiroler Landesregierung bei ihren Entscheidungen bewußt zum Nachteil des Klägers auf die ständige Rechtsprechung des VwGH nicht Bedacht genommen hätten und insbesondere die BH Innsbruck zufolge unsachlicher Motive über Drängen des Bürgermeisters von S von Amts wegen die Frage der Unzuständigkeit des Gemeindevorstandes von S aufgegriffen habe. Sollte sich dieses Vorbringen als zutreffend erweisen, müßten die Entscheidungen der Organe des Landes Tirol in einem anderen Licht gesehen werden. Nicht unbeachtlich sei auch das weitere Argument der Berufungswerber, daß die BH Innsbruck mit ihrem Bescheid vom 22. 8. 1975 den schon rechtskräftigen Bescheid des Gemeindevorstandes vom 21. 5. 1975, mit welchem dem Kläger die angestrebte Baubewilligung erteilt worden war, behoben habe. Ein derartiger Eingriff in die eingetretene Rechtskraft sei nur dann gerechtfertigt, wenn schwerwiegende Gründe vorliegen. Dem Bescheid der BH Innsbruck sei nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, worin die Behörde solche schwerwiegende Gründe erblickt habe, um von der Kann-Bestimmung des § 88 Abs. 4 AVG Gebrauch zu machen. Das Berufungsgericht verneinte letztlich die Berechtigung des Einwandes der beklagten Partei, nicht die Behebung des Bescheides des Gemeindevorstandes vom 21. 5. 1975, sondern die vom Bürgermeister der Gemeinde S verfügte Einstellung des Baus sei schadensursächlich gewesen.

Der Oberste Gerichtshof gab den Rekursen beider Parteien nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Vorauszuschicken ist, daß die Bestimmung des § 2 Abs. 2 AHG der Berechtigung des Klagebegehrens nicht entgegensteht. Danach besteht der Ersatzanspruch nicht, wenn der Geschädigte den Schaden durch ein Rechtsmittel oder durch Beschwerde an den VwGH hätte abwenden können. Der Kläger hat den Rechtszug gegen den Bescheid der BH Innsbruck vom 22. 8. 1975 ausgeschöpft und den VwGH angerufen. Durch das Erkenntnis des VwGH vom 11. 4. 1978 konnte aber der vom Kläger behauptete in der Zwischenzeit durch die rechtswidrige Aufhebung der erteilten Baubewilligung eingetretene Schaden nicht mehr beseitigt werden. Nur solcher Schaden wird ersetzt begehrt.

Die Vorinstanzen haben im Sinne der ständigen Rechtsprechung des OGH zutreffend erkannt, daß keineswegs jede objektiv unrichtige Entscheidung einer Verwaltungsbehörde einen Amtshaftungsanspruch begrundet. Ein Amtshaftungsanspruch iS des § 1 AHG setzt vielmehr ein Verschulden des Organs voraus. Er ist deshalb nur gegeben, wenn durch eine Handlung oder Unterlassung gegen eine positive Vorschrift des Gesetzes verstoßen oder eine gesetzliche Bestimmung infolge fahrlässiger Unkenntnis nicht angewendet wurde. Eine vertretbare Rechtsansicht rechtfertigt keinen Amtshaftungsanspruch. Im Amtshaftungsprozeß ist daher nicht wie in einem Rechtsmittelverfahren zu prüfen, ob die in Betracht kommende Entscheidung richtig war, sondern ob sie auf einer vertretbaren Gesetzesauslegung oder Rechtsauffassung beruht (SZ 52/56; JBl. 1977, 539 ua.).

Im vorliegenden Fall steht auf Grund des Erkenntnisses des VwGH vom 11. 4. 1978, Zl. 1385/76, fest, daß die Organe der beklagten Partei rechtswidrig gehandelt haben, als sie den Bescheid des Vorstandes der Gemeinde S wegen Unzuständigkeit gemäß § 68 Abs. 4 lit. a AVG 1950 behoben, weil der Kläger (Bauwerber) vor der Baubehörde zweiter Instanz im Hinblick auf das eingeholte Sachverständigengutachten seinen Antrag auf Erteilung der Baubewilligung im wesentlichen nur eingeschränkt hatte, so daß das Bauvorhaben, auch wenn im Hinblick auf die Reduzierung der Baumaße verschiedene Veränderungen im Inneren des Gebäudes erforderlich wurden, nicht als ein anderes (aliud) zu beurteilen war. Hatte aber der Gemeindevorstand als Berufungsbehörde das ihm gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 zustehende Abänderungsrecht nicht überschritten, wurde die Annahme, die Baubewilligung sei von einer unzuständigen Behörde erlassen worden, als nicht zutreffend erkannt.

Bei Beurteilung der Frage, ob die Vorgangsweise der Organe der beklagten Partei als schuldhaft im oben ausgeführten Sinne anzusehen ist, ist davon auszugehen, daß auch das Verwaltungsverfahren den Begriff der formellen und materiellen Rechtskraft kennt. Aus dem Zusammenhalt der Bestimmungen des § 68 Abs. 1 AVG 1950 und § 68 Abs. 2 bis 4 AVG 1950 ergibt sich, daß Bescheide mit Eintritt ihrer Rechtskraft prinzipiell unanfechtbar werden, sofern nichts anderes ausdrücklich normiert ist. Das Ziel jedes behördlichen Verfahrens muß es sein, Rechtsverhältnisse auf verbindliche Art zu gestalten und zu regeln und damit Rechtssicherheit zu schaffen. Die Rechtsordnung nimmt es daher sogar in Kauf, daß behördlichen Erkenntnissen, die der Rechtslage nicht entsprechen, unter bestimmten Voraussetzungen die gleiche Verbindlichkeit beigelegt wird wie solchen, die mit der Rechtsordnung in vollem Einklang stehen.

Behördliche Erkenntnisse können daher ungeachtet eingetretener Rechtskraft nur dann aufgehoben oder abgeändert werden, wenn so schwerwiegende Gründe vorliegen, daß ihnen gegenüber das Postulat der Rechtsbeständigkeit und der Rechtssicherheit, die durch ein behördliches Erkenntnis hergestellt werden soll, zurückgestellt werden kann (SZ 52/56; Hellbling, Kommentar zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen I 415; in diesem Sinne auch Mannlicher - Quell, Das Verwaltungsverfahren[8] I/1, 372). Ein Eingriff in die materielle Rechtskraft eines Bescheides ist nur zulässig, wenn noch niemandem ein Recht aus dem Bescheid erwachsen ist (§ 68 Abs. 2 AVG 1950), wenn schwere Schäden durch ihn verursacht würden (§ 68 Abs. 3 AVG 1950) oder wenn er an ganz besonders schwerwiegenden Fehlern leidet (§ 68 Abs. 4 AVG 1950); in diesen Fällen kann das Interesse der Gemeinschaft dem Einzelinteresse vorgehen (Antoniolli, Allgemeines Verwaltungsrecht 218). Es habe aber auch hier eine Abwägung zwischen dem Schutz des Vertrauens auf den Bestand eines rechtskräftigen Bescheides einerseits und dem dringenden Erfordernis, von einem rechtskräftigen Bescheid abzugehen, stattzufinden (Walter - Mayer, Grundriß des österr. Verwaltungsverfahrensrechts[2] 204). Nur wenn sich ein Bescheid von vornherein oder nachträglich als mit dem öffentlichen Wohl nicht vereinbar herausstellt, stehen einander das durch die Rechtsordnung anerkannte Interesse der Partei an dem unveränderten Bestande des von ihr erstrittenen Rechtes und das Interesse der Verwaltung an der Hintanhaltung jeder Gefährdung des öffentlichen Wohles gegenüber; bei unverändertem Sachverhalt soll die Oberbehörde nur eingreifen dürfen, wenn es sich herausstellt, daß ein Bescheid nichtig oder in seinen Auswirkungen unerträglich ist (Hellbling aaO I 417). Die amtswegige Aufhebung bzw. Nichtigerklärung eines rechtskräftigen Bescheides gemäß § 68 Abs. 2 bis 4 AVG 1950 steht als Kann-Bestimmungen im Ermessen der Behörde (vgl. Hellbling aaO 430; vgl. auch Walter - Mayer aaO 205). Auch dabei hat aber der in § 68 Abs. 3 letzter Satz AVG 1950 normierte Grundsatz der möglichsten Schonung erworbener Rechte als allgemeine Richtschnur zu gelten. Auch Ermessensbescheide bedürfen der Begründung (Hellbling aaO 350; Walter - Mayer aaO 135); die Behörde darf die Ermessensentscheidung nur treffen, wenn eine die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles voll berücksichtigende Interessenabwägung Platz gegriffen hat (VwSlgNF 7022 A) und vom Ermessen nur "im Sinne des Gesetzes", also im eingeräumten Ermessensspielraum, Gebrauch machen (Art. 130 Abs. 2 B-VG; vgl. Walter - Mayer, Grundriß des österr.

Bundesverfassungsrechts[3] 159). Da die Nichtigerklärung einer Baubewilligung die Einstellung des Bauvorhabens zur Folge hat, die für den Bauwerber mit großen finanziellen Nachteilen verbunden sein kann, muß von der Behörde gefordert werden, daß sie die für die Nichtigerklärung sprechenden Gründe mit ganz besonderer Sorgfalt prüft und abwägt, ob das öffentliche Interesse eine Nichtigerklärung der erteilten Baubewilligung zwingend erfordert. Eine solche Abwägung der Interessen lassen die Bescheide der BH Innsbruck und der Tiroler Landesregierung vermissen. Es ist zunächst nicht erkennbar, warum die BH Innsbruck und die Tiroler Landesregierung bei ihren Entscheidungen die ständige Rechtsprechung des VwGH (s. den Hinweis auf § 39 Abs. 2 lit. d VwGG 1965 im Erkenntnis Zl. 1395/76 als Begründung für die Entscheidung ohne Verhandlung), wie sie auch in der veröffentlichten Entscheidung vom 5. 10. 1964, SlgNF 6449/A, zum Ausdruck gebracht worden war, aber auch schon in der Literatur vertreten wurde (vgl. Krzizek, System des österreichischen Baurechts II 90; nunmehr auch Hauer, Die Bauordnung für NÖ 191) unbeachtet ließen. Danach ist die Berufungsbehörde geradezu verpflichtet, den Bauwerber zu einer Abänderung seines Bauvorhabens aufzufordern, wenn ein gegebener Versagungsgrund durch eine Änderung des Bauansuchens beseitigt werden kann. Dazu kommt, daß die vom Kläger vorgenommene Änderung weithin nur Einwendungen Rechnung trug, die in Rechtsmitteln der Nachbarn gegen die vom Bürgermeister der Gemeinde S erteilte Baubewilligung erhoben worden waren, so daß nach Vornahme der entsprechenden Änderungen auch Interessen der Nachbarn nicht mehr beeinträchtigt waren. Das einzige in der Begründung des Bescheides der BH Innsbruck zur Rechtfertigung der Nichtigerklärung enthaltene Argument, es habe eine unzuständige Behörde entschieden, weil eine Verkürzung des Instanzenzuges eingetreten sei, ist bei einem derart schwerwiegenden Eingriff in die Rechtskraft unvertretbar, wenn den von den Rechtsmittelwerbern vorgetragenen Einwendungen Rechnung getragen wurde und der Kläger an einer (neuerlichen) Ausschöpfung des Instanzenzuges in keiner Weise interessiert war. Auch die Berufungsbehörde nahm, auch wenn sie eine etwas andere Begründung wählte, keine Abwägung der Interessen vor. Die aus rein formellen Gesichtspunkten erfolgte Aufhebung des in Rechtskraft erwachsenen Bescheides ist mit rechtsstaatlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit nicht vereinbar. Eine Ermessensübung, die tragende Grundsätze der rechtsstaatlichen Ordnung außer Acht läßt, muß als grob sachwidrig (unvertretbar) erachtet werden und zum Eintritt der Amtshaftung führen. Es wurde auch im Amtshaftungsprozeß nicht behauptet, daß die ergangene Entscheidung der BH Innsbruck, wenn schon nicht aus dem in der Bescheidbegründung angegebenen Grund, so doch aus anderen Gründen in gleicher Weise zu ergehen gehabt hätte. Es bedarf dann aber nicht mehr der Prüfung der Frage, ob die Aufhebung des Bescheides des Gemeindevorstandes durch die BH Innsbruck und die Bestätigung dieser Entscheidung durch die Tiroler Landesregierung auf die vom Kläger behauptete Einflußnahme des Bürgermeisters der Gemeinde S auf Organe der beklagten Partei zurückzuführen ist.

Das Erstgericht wird demnach im fortgesetzten Verfahren die vom Kläger erhobenen Schadenersatzansprüche im einzelnen zu prüfen haben.

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