OGH 4Ob101/80

OGH4Ob101/8018.9.1980

SZ 53/121

 

 

Spruch:

Die Einleitung eines Disziplinarverfahrens bedarf nicht der Zustimmung des Betriebsrates; erst die auf Grund eines solchen Verfahrens ausgesprochene - materiellrechtliche - Sanktion ist eine "Disziplinarmaßnahme" im Sinne des § 102 ArbVG

 

OGH 18. September 1980, 4 Ob 101, 102/80 (LG Salzburg 31 Cg 15/80; ArbG Salzburg Cr 569/79)

 

Begründung:

Der Kläger ist Facharzt für Zahnheilkunde und Kieferchirurgie. Er war im Zahnambulatorium der beklagten Gebietskrankenkasse als Dienstnehmer beschäftigt. Außerdem übt er in Salzburg eine zahnärztliche Privatpraxis aus. Hiebei war er als Wahlzahnarzt der Beklagten tätig. Mit Schreiben vom 5. März 1979 teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß ihr Vorstand beschlossen habe, gegen ihn ein Disziplinarverfahren einzuleiten; es bestehe nämlich der Verdacht, daß er als Wahlzahnarzt vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig der Beklagten nicht erbrachte Leistungen im Betrage von zirka 230.000 S verrechnet habe; der Kläger habe sich dadurch möglicherweise einer gerichtlich strafbaren Handlung schuldig gemacht. Der weitere in diesem Schreiben enthaltene Vorwurf, der Beklagte habe unberechtigt einen Krankenstand in Anspruch genommen, wurde von der Beklagten in der Folge nicht mehr aufrecht erhalten. Die Beklagte bestellte einen Untersuchungsführer, der die Voruntersuchung betrieb und einen Zwischenbericht erstattete. Am 18. Oktober 1979 kam es zu einer mündlichen Disziplinarverhandlung.

Schon vor Einleitung dieses Disziplinarverfahrens gab der Betriebsratsobmann der Beklagten S im Namen des Angestelltenbetriebsrates in der Sitzung vom 21. Feber 1979 die Erklärung ab, daß er der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den Kläger sowie der Zusammensetzung und dem Erkenntnis der Disziplinarkommission zustimme. Mit Schreiben vom 7. Dezember 1979 teilte der Angestelltenbetriebsrat der Beklagten schriftlich mit, er habe beschlossen, dem gegenständlichen Disziplinarverfahren seine Zustimmung zu verweigern. Die Beklagte weigerte sich, der Forderung des Klägers nach Einstellung des Disziplinarverfahrens zu entsprechen. Der Kläger wurde am 23. April 1980 entlassen.

Die für den Kläger geltende Dienstordnung (Dienstordnung B für die Ärzte und Dentisten bei den Sozialversicherungsträgern Österreichs, kurz: DO. B) enthält in Abschnitt V Disziplinarvorschriften. Sie sieht für Dienstvergehen die Disziplinarstrafe eines strengen Verweises, der Rückversetzung in eine niedrigere Bezugsstufe, der strafweisen Versetzung in den Ruhestand und der Entlassung vor (§ 97 Abs 1 DO. B). Disziplinarstrafen können nur auf Grund eines Disziplinarverfahrens durch die Disziplinarkommission verhängt werden (§ 97 Abs. 3 DO. B). Nach § 98 Abs. 1 DO. B besteht das Disziplinarverfahren aus der Voruntersuchung und der mündlichen Verhandlung. Es wird durch den Beschluß des Vorstandes eingeleitet (§ 98 Abs. 2 DO. B). Der Beschuldigte und der Betriebsrat sind von der Einleitung des Disziplinarverfahrens unter Bezeichnung des zur Last gelegten Tatbestandes nachweislich schriftlich zu verständigen (§ 98 Abs. 3 DO. B).

Der Kläger begehrte die Feststellung, daß das wegen der genannten Vorwürfe gegen ihn geführte Disziplinarverfahren mangels Zustimmung des Angestelltenbetriebsrates der Beklagten von Anfang an, in eventu ab 7. Dezember 1979, rechtsunwirksam sei, sein Dienstverhältnis zur Beklagten frei von jedwedem Disziplinarverfahren sei und die Beklagte schuldig sei, ab sofort alle Rechtshandlungen und sonstigen Handlungen, die sich auf die Führung des gegen den Kläger anhängigen Disziplinarverfahrens beziehen, zu unterlassen.

Die Beklagte beantragte Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, daß die nach § 102 ArbVG erforderliche Zustimmung zum Disziplinarverfahren vorliege. Diese könne nicht mehr widerrufen werden.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren im wesentlichen mit der Begründung ab, daß die Einleitung des Disziplinarverfahrens durch die einschlägigen Bestimmungen der DO. B, die einen Kollektivvertrag darstelle, gedeckt sei. § 98 Abs. 3 DO. B sehe nur die Verständigung des Betriebsrates von der Einleitung des Disziplinarverfahrens vor. Eine Verpflichtung zur Einholung der Zustimmung des Betriebsrates bestehe nicht, weil die bloße Einleitung des Disziplinarverfahrens noch keine Verhängung einer Disziplinarmaßnahme im Sinne des § 102 ArbVG sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es teilte die Ansicht des Erstgerichtes, daß in der Einleitung eines Disziplinarverfahrens keine der Zustimmung des Betriebsrates nach § 102 ArbVG bedürftige Verhängung einer Disziplinarmaßnahme zu erblicken sei. Erst das Resultat eines Disziplinarverfahrens sei eine Disziplinarmaßnahme, aber nicht diese selbst. Das Verfahren solle dazu dienen, bei Verdacht einer Verletzung von Dienstpflichten den Sachverhalt zu klären und rechtlich zu beurteilen. Durch das Zustimmungsrecht des Betriebsrates zur Verhängung einer Disziplinarmaßnahme sollte nicht der Ablauf eines klärenden Verfahrens unterbunden werden, weil der Betriebsrat sonst keine Möglichkeit habe, eine rechtlich geregelte Grundlage für seine Entscheidung zu bekommen. Da die Klage von einer fehlenden Zustimmung zum Disziplinarverfahren und nicht zu einer Disziplinarmaßnahme ausgehe, sei sie rechtlich zum Scheitern verurteilt.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Klägers nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Gemäß § 102 ArbVG hat der Betriebsrat an der Aufrechterhaltung der Disziplin im Betrieb mitzuwirken. Die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen im Einzelfall ist nur zulässig, wenn sie in einem Kollektivvertrag oder einer Betriebsvereinbarung (§ 96 Abs. 1 Z. 1) vorgesehen ist; sie bedarf, sofern darüber nicht eine mit Zustimmung des Betriebsrates eingerichtete Stelle entscheidet, der Zustimmung des Betriebsrates.

Daß im vorliegenden Fall für die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen eine dem § 102 ArbVG entsprechende besondere Rechtsgrundlage besteht, bestreitet der Revisionswerber nicht, geht er doch selbst zutreffend davon aus, daß die für den Kläger geltende Dienstordnung (DO. B) den Charakter eines Kollektivvertrages hat (vgl. dazu Kuderna, Die Auslegung kollektivvertraglicher Normen und Dienstordnungen sowie deren Ermittlung im Prozeß, RdA 1975, 161 ff., insbesondere 165 FN 42; vgl. ferner die die DO. Ang und DO. A betreffenden Entscheidungen Arb. 8928, 8913, 8759 u.a.). Da außer Streit steht, daß bei der beklagten Partei eine mit Zustimmung des Betriebsrates eingerichtete Stelle zur Verhängung von Disziplinarmaßnahmen nicht besteht, bedarf die Verhängung in jedem Einzelfall der Zustimmung des Betriebsrates.

Ob sich der Kläger gegen die Einleitung des Disziplinarverfahrens durch seine Dienstgeberin mit Erfolg zur Wehr setzen kann, hängt daher, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannte, ausschließlich davon ab, ob in dieser Maßnahme der Beklagten eine der Zustimmung des Betriebsrates bedürftige "Verhängung einer Disziplinarmaßnahme" liegt. Dies wurde von den Vorinstanzen zutreffend verneint.

Unter "Disziplinarmaßnahmen" sind alle Maßnahmen des Betriebsinhabers (Arbeitgebers) zur Wahrung oder Wiederherstellung der betrieblichen Ordnung zu verstehen, mit denen dem Arbeitnehmer ein - rechtlich zulässiger - Nachteil zugefügt oder zumindest angedroht wird. Es kommen nicht nur Maßnahmen, die für den Arbeitnehmer unmittelbare rechtliche oder wirtschaftliche Nachteile bewirken, in Betracht, sondern auch solche, durch die lediglich die sozialen Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt werden, z. B. die Erteilung einer Rüge oder eines Verweises (Weißenberg-Cerny, ArbVG2, 346; ähnlich Floretta-Strasser, Hand-Komm. z. ArbVG, 597; dieselben, KurzKomm. z. ArbVG, 280; Mayer-Maly, Österreichisches Arbeitsrecht, 226 f.; Mayer in ArbVG-Wirtschaftsverlag, 237; im gleichen Sinne auch schon zu § 14 Abs. 2 Z. 13 BRG Floretta-Strasser, BRG2, 275). Dem ArbVG liegt allerdings ein engerer Begriff der Disziplinarmaßnahme als nach allgemeinem Arbeitsrecht zugrunde. Disziplinäre Versetzungen, Kündigungen oder Entlassungen, die - wie auch im vorliegenden Fall - häufig in Disziplinarordnungen als Disziplinarstrafen angedroht werden, gelten nicht als Disziplinarmaßnahmen im Sinne des ArbVG, weil für diese Sanktionen Sonderregelungen aufgestellt wurden (Floretta-Strasser, HandKomm. z. ArbVG, 594, 596ff.; dieselben, KurzKomm. z. ArbVG, 280; zu § 14 Abs. 2 Z. 13 BRG ausführlich Floretta-Strasser, BRG2, 275 ff.; EvBl. 1978/114). Disziplinarmaßnahmen im Sinne des § 102 ArbVG sind aber (ebenso wie nach § 14 Abs. 2 Z. 13 BRG) nur solche Verfügungen, denen der Charakter einer endgültigen Sanktion wegen eines bestimmten Verhaltens des Dienstnehmers zukommt, wobei den sehr verschiedenartigen, als Disziplinarmaßnahmen angewendeten Sanktionen der Strafcharakter gemeinsam ist (vgl. dazu Spielbüchler in RdA 1970, 8 f.). Verfahrensrechtliche Schritte ohne Strafcharakter, die - wie etwa die Dienstenthebung (vgl. JBl. 1955, 529) - nur vorübergehende Sicherungsmaßnahmen darstellen oder, wie die Einleitung eines Disziplinarverfahrens, nur der Klarstellung dienen, ob der Vorwurf eines disziplinarwidrigen Verhaltens des Dienstnehmers überhaupt zu Recht besteht, sind keine Disziplinarmaßnahmen im Sinne des § 102 ArbVG (Arb. 9145). Erst die auf Grund des Disziplinarverfahrens ausgesprochene - materiellrechtliche - Sanktion bildet somit die "Verhängung der Disziplinarmaßnahme" im Sinne des § 102 ArbVG.

Ein Zustimmungsrecht des Betriebsrates zur Einleitung des Disziplinarverfahrens ist daher aus § 102 ArbVG nicht abzuleiten. Es ergibt sich aber auch aus den einschlägigen Bestimmungen der DO. B nicht. § 89 Abs. 3 DO. B sieht nur die - hier unbestrittenermaßen erfolgte - (qualifizierte) Verständigung des Betriebsrates von der Einleitung des Disziplinarverfahrens vor.

Eine Regelung, wonach der Betriebsrat das Recht haben sollte, schon der Einleitung eines Disziplinarverfahrens seine Zustimmung mit der Wirkung zu versagen, daß dieses nicht fortgesetzt werden dürfte, würde im übrigen - ebenso wie bei einer vorher erteilten Zustimmung des Betriebsrates zu einer erst zu verhängenden Disziplinarmaßnahme - dem Gesetzeszweck widersprechen; der Betriebsrat soll zur konkreten - bereits verhängten, wenn auch bis zu seiner Zustimmung schwebend unwirksamen (vgl. Arb. 9839) - Disziplinarmaßnahme nach Kenntnis des maßgeblichen Sachverhaltes Stellung nehmen. Das setzt voraus, daß er den Sachverhalt zumindest kennen kann, und das wiederum zwingt in Fällen, in denen der Verhängung der Disziplinarmaßnahme ein Disziplinarverfahren vorauszugehen hat, zum Abwarten der Ergebnisse dieses Verfahrens (vgl. Spielbüchler a.a.O., 21). Dies übersieht die Revision, wenn sie die Weiterführung des Disziplinarverfahrens für sinnlos hält, weil der Betriebsrat schon vor dessen Beendigung erklärt habe, mit der Verhängung einer Disziplinarmaßnahme nicht einverstanden zu sein. Nach § 62 Abs. 1 Satz 2 BRGO hat der Betriebsrat vor Abgabe einer Zustimmungserklärung zur beabsichtigten Verhängung der Disziplinarmaßnahme eingehend den Sachverhalt zu prüfen und den betroffenen Arbeitnehmer zu hören. Die Pflicht, sich die entsprechenden Entscheidungsgrundlagen zu verschaffen, gilt, da der Betriebsrat an der Aufrechterhaltung der Disziplin im Betrieb mitzuwirken hat, auch für die negative Entscheidung, mit der er seine Zustimmung zur Verhängung einer Disziplinarmaßnahme verweigert. Da die Einleitung eines Disziplinarverfahrens keine Verhängung einer Disziplinarmaßnahme nach § 102 ArbVG darstellt, beeinträchtigte die Erklärung des Betriebsrates der Angestellten der Beklagten, er habe beschlossen, dem gegenständlichen Disziplinarverfahren seine Zustimmung zu verweigern, die Wirksamkeit dieser Maßnahme nicht, sodaß ihre Bekämpfung durch den Kläger erfolglos bleiben muß.

Die Vorinstanzen haben daher das an sich zulässige Feststellungsbegehren der Rechtsunwirksamkeit einer Disziplinarmaßnahme (Arb. 9839 u.a.) und das Unterlassungsbegehren zutreffend abgewiesen.

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