OGH 2Ob5/78 (2Ob6/78)

OGH2Ob5/78 (2Ob6/78)6.7.1978

SZ 51/109

Normen

ABGB §1298
ABGB §1311
ABGB §1298
ABGB §1311

 

Spruch:

Schutzgesetze begrunden gesetzliche Verbindlichkeiten im Sinne des § 1298 ABGB

OGH 6. Juli 1978, 2 Ob 5, 6/78 (OLG Innsbruck 5 R 278, 280/77; LG Innsbruck 7 Cg 841, 842/74)

Text

Der Ehegatte der Erst- und der Vater der minderjährigen Zweit- und Drittklägerin, Johann S, wurde bei einem Verkehrsunfall am 9. Dezember 1972 auf der Zillertalbundesstraße im Gemeindegebiet von U getötet. Der Zweitbeklagte geriet mit seinem PKW auf die linke Fahrbahnhälfte und stieß dort mit dem vom S gelenkten und gehaltenen PKW zusammen. Die Erstbeklagte war Haftpflichtversicherer des Zweitbeklagten.

Die Kläger begehrten mit den zur gemeinsamen Verhandlung verbunden - ausdrücklich auch auf die Haftung nach dem EKHG gestützten - Klagen von den Beklagten Zahlung von Renten und die Feststellung der Haftung der Beklagten für weitere ihnen aus diesem Unfall entstandene und entstehende Schäden, hinsichtlich der Erstbeklagten beschränkt auf den Rahmen des zwischen ihr und dem Zweitbeklagten abgeschlossenen Versicherungsvertrages, wegen Alleinverschuldens des Zweitbeklagten. Die weitere Darstellung der Rentenansprüche kann unterbleiben, weil sie nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens sind.

Die Beklagten beantragten Klagsabweisung. Den Zweitbeklagten treffe am Zustandekommen des Unfalles kein Verschulden. Wenn überhaupt, komme eine Haftung für die Unfallsfolgen nur nach den Bestimmungen des EKHG in Frage, was aber auch bestritten werde. Es mangle am rechtlichen Interesse der Feststellungsbegehren.

Das Erstgericht gab den Feststellungsbegehren statt.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung.

Die Beklagten erheben Revision wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Sie bekämpfen den Ausspruch des Berufungsgerichtes über die Feststellungsbegehren nur insoweit, als dieser dahin zu beschränken sei, daß die Beklagten den Klägern für alle künftigen Schäden nur im Rahmen der Bestimmung des § 15 EKHG zu haften haben. Sie beantragen Abänderung des angefochtenen Urteils durch Beifügung dieser Beschränkung.

Die Kläger beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.

Es geht sohin im Revisionsverfahren nur mehr um die Frage, ob den Zweitbeklagten auch eine Verschuldenshaftung trifft.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Untergerichte gingen von folgenden - für das Revisionsverfahren noch bedeutsamen - Feststellungen aus:

Der Zweitbeklagte fuhr am 9. Dezember 1972 um etwa 16.15 Uhr mit seinem PKW auf der Zillertalbundesstraße im Gemeindegebiet U talauswärts. Es schneite, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Die Fahrbahn, die im Bereich der Unfallstelle bei sommerlichen Verhältnissen 6.2 m breit ist, war nicht geräumt. Es lag 10 bis 15 cm hoch nasser Neuschnee, in den drei Spurrinnen derart gefahren worden waren, daß auf jeder Fahrbahnseite eine Spurrinne für die rechten Räder zweispuriger Fahrzeuge und in der Fahrbahnmitte eine einzige etwa 1.2 m breite Spurrinne für die linken Räder von Fahrzeugen war, so daß eine Begegnung zweier Fahrzeuge ohne Herausfahren aus den Spurrinnen möglich war. Auch am Boden der Spurrinnen lag etwas matschiger Schnee. Der Zweitbeklagte hielt mit seinem mit neuwertigen Spikereifen ausgestatteten, unbeladenen PKW, in dem nur sein neunjähriger Sohn Anton mitfuhr, eine Geschwindigkeit von etwa 35 bis 40 km/h ein. Im Bereich der Unfallstelle bestand eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h und Überholverbot.

Am nördlichen Ortsende von U, etwas nördlich des F-Baches, kam dem Zweitbeklagten der von Johann S gelenkte PKW mit einer Geschwindigkeit von etwa 35 bis 40 km/h entgegen. S fuhr auf seiner rechten Fahrbahnseite. Sein PKW war mit guten Winterreifen ausgestattet. Vorne rechts saß die Klägerin Anna Elisabeth S, dahinter die Mutter des Johann S, die das Kind Andrea auf dem Arm hielt und der siebenjährige Heinz H.

Unmittelbar vor der Begegnung der beiden Fahrzeuge geriet der PKW des Erstbeklagten aus nicht bekannter Ursache im scharfen Bogen aus seiner geraden Fahrtrichtung, fuhr in einem Winkel von etwa 45 Grad gegen die linke Seite und stieß dort etwa mit der Mitte seiner Vorderseite gegen die linke vordere Ecke des PKWs des Johann S. Dieser wurde über den rechten Fahrbahnrand hinausgestoßen. Der PKW des Zweitbeklagten drehte sich um die Anstoßstelle und blieb, gegenüber seiner ursprünglichen Fahrtrichtung um etwa 210 Grad verdreht, am linken Fahrbahnrand stehen.

Das Erstgericht bejahte die Haftung der Beklagten nicht nur auf Grund der Bestimmungen des EKHG, sondern auch auf Grund der allgemeinen Bestimmungen über den Schadenersatz. Der Zweitbeklagte habe die Schutzvorschrift (§ 1311 ABGB) des § 7 StVO 1960 übertreten; Voraussetzung seiner Schadenersatzpflicht sei zwar eine schuldhafte Übertretung dieser Schutznorm, doch obliege es dem Beklagten, seine Schuldlosigkeit zu beweisen; das Risiko der Unaufklärbarkeit des Sachverhaltes werde auf den Übertreter des Schutzgesetzes überwälzt. Den beklagten Parteien sei der Beweis der Schuldlosigkeit des Zweitbeklagten nicht gelungen. Da sich die Haftpflicht der Beklagten auf die Schadenersatzbestimmungen des ABGB grunde, bestehe keine betragliche Beschränkung.

Das Berufungsgericht billigte diese rechtliche Beurteilung unter Hinweis auf gesicherte Lehre und Rechtsprechung.

Die Rechtsausführungen der Revision laufen im wesentlichen darauf hinaus, daß die Beklagten mangels eines Beweises der Schuldhaftigkeit der Schutzgesetzverletzung des Zweitbeklagten nur nach den Bestimmungen des EKHG zur Haftung herangezogen werden könnten. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichtes führe zu einer solchen Ausdehnung der Verschuldenshaftung, daß es daneben praktisch keine Fälle von Erfolgshaftung mehr geben könne. Als Entlastungsumstand müsse genügen, daß die zum Unfall führende Fahrt unter äußerst schwierigen Fahrbahn- und Wetterverhältnissen stattgefunden habe; eine Beweislastumkehr käme nur dann in Frage, wenn eine Fehlreaktion des Zweitbeklagten feststunde und dieser nicht in der Lage wäre, ihre Gründe zu beweisen. Die Revisionswerber verkennen damit den Unterschied zwischen der Verschuldenshaftung mit Umkehr der Beweislast und der - je nach gesetzlicher Ausgestaltung der betreffenden Sondernorm (z. B. § 9 EKHG) - noch weiterreichenden Gefährdungshaftung, bei der der Beweis des Schuldners, er habe den gewöhnlichen Grad des Fleißes und der Aufmerksamkeit eingehalten, zur Entlastung nicht ausreicht.

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes macht die objektive Übertretung einer Schutznorm nicht haftbar (SZ 37/159; ZVR 1966/157 u. a.). Die Übertretung muß verschuldet erfolgen. Den Beweis für die Schuldlosigkeit hat jedoch der Schädiger zu erbringen, weil § 1298 ABGB denjenigen, der an der Erfüllung seiner gesetzlichen Verbindlichkeit verhindert worden sei, den Beweis auferlegt (ZVR 1970/232 mit Hinweisen auf ältere Rechtsprechung; SZ 44/187; ZVR 1976/292; ähnlich JBl. 1969, 498). Diese Auffassung findet auch in einem Teil des Schrifttums Zustimmung (Ehrenzweig, Schuldrecht, § 303 III 75; Gschnitzer, Schuldrecht, Besonderer Teil, 170; Welser, Schutzgesetzverletzung, Verschulden und Beweislast, ZVR 1976, 1 ff., insbesondere 9 f.; derselbe, Vertretung ohne Vollmacht, 268; Prölss, Die Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen, VersR 1964, 901 ff., insbesondere 905). Von anderen Autoren werden Bedenken angemeldetund dabei insbesondere folgende Auffassungen vertreten: § 1298 ABGB könne nur dann angewendet werden, wenn schon vor der Schädigung eine rechtliche Sonderbeziehung zwischen Schädiger und Geschädigten bestanden habe; die Vorschriften der §§ 1296 und 1298 ABGB seien in ihrem Zusammenhang am besten verständlich, wenn man die eine auf die Nichterfüllung einer Pflicht aus einem konkreten Schuldverhältnis, die andere dagegen auf das Delikt beziehe (Bydlinski in Klang[2] IV/2, 172); der Begriff der "gesetzlichen Verbindlichkeit" im Sinne des § 1298 ABGB könne zur Abgrenzung von der allgemeinen Beweisregel des § 1296 ABGB nur sogenannte Erfolgsverbindlichkeiten, nicht aber Sorgfaltsverbindlichkeiten umfassen (Reischauer, Der Entlastungsbeweis des Schuldners, 147 ff.); das allgemeine Sorgfaltsgebot zum Schutze absoluter Rechte sei nicht weniger gesetzliche Verbindlichkeit als ein bestimmtes Schutzgesetz, das zu diesem Zweck konkrete Sorgfaltsmaßnahmen vorschreibe (Reischauer, a. a. O., 188 ff.); der deliktische Bereich könne daher nicht sinnvoll in die Verletzung von Schutzgesetzen und anderen nicht konkret umschriebener Verhaltensgeboten, die sich aus der Anerkennung absoluter Rechte durch die Rechtsordnung ergeben und im weiteren Sinne auch gesetzliche Verbindlichkeiten seien, aufgeteilt werden (Koziol, Haftpflichtrecht I, 266 und 273; Reischauer a. a. O., 180 ff.; derselbe, Verschulden und Beweislast, ZVR 1978, 97 ff., insbesondere 132 ff.).

Dem ist jedoch zu entgegnen, daß der Gesetzgeber an die Verletzung eines Gesetzes, das den zufälligen Beschädigungen vorzubeugen sucht (§ 1311 ABGB), besondere Rechtsfolgen knüpfte und damit die Schutzgesetzverletzung zu einer besonderen - positivrechtlichen - Kategorie innerhalb des deliktischen Bereiches gemacht hat. § 1311 ABGB wäre nicht vollziehbar, könnte nicht zwischen Schutzgesetzverletzungen und Verletzungen anderer nicht konkret umschriebener Verhaltensgebote unterschieden werden. Es ist zwar richtig, daß die "Ausformulierung von Schutzgesetzen" (Reischauer, ZVR 1978, 133) sehr verschieden ist. Ihr Wesen liegt jedoch darin, daß sich der Gesetzgeber nicht damit begnügt, die absolut geschützten Rechte, deren schuldhafte Verletzung Schadenersatzpflichten auslöst, zu bezeichnen, sondern in vielen Fällen ein bestimmtes konkretes Verhalten (im Sinne eines Handelns oder Unterlassens) mit dem Zweck anordnet, Schäden aus spezifisch gefährlich erkannten Verhaltensweisen oder Zuständen zu vermeiden. Die vom Gesetzgeber erkannte Schadensgeneigtheit der durch besondere Schutzgesetze geregelten Verhaltensweisen rechtfertigt es, den deliktischen Bereich aufzuteilen und die Schutzgesetzverletzungen den "gesetzlichen Verbindlichkeiten" im Sinne des § 1298 ABGB zuzuordnen, während für sonstige objektive Pflichtwidrigkeiten § 1296 ABGB gilt. Hiefür spricht auch, daß bei sonstigen Pflichtwidrigkeiten der Nachweis der Schuld von jenem der Rechtswidrigkeit meist nicht oder viel schwerer getrennt werden kann (Welser a. a. O., 9; ähnlich Bydlinski a. a. O., 172 f.). Der OGH sieht sich daher nicht veranlaßt, von seiner bisherigen Auffassung, wonach der Schädiger bei Verletzung eines Schutzgesetzes den Beweis seiner Schuldlosigkeit zu führen hat, abzugehen.

Die Feststellung der Untergerichte, daß der Erstbeklagte unmittelbar vor der Begegnung der beiden Fahrzeuge aus nicht bekannter Ursache im scharfen Bogen aus seiner geraden Fahrtrichtung und in einem Winkel von etwa 45 Grad auf die linke Fahrbahnseite geriet, erfüllt die objektiven Voraussetzungen für die Annahme eines Verstoßes gegen § 7 StVO 1960, da weder eine Verkehrssituation vorlag (z. B. Überholen, Einordnen zur Fahrbahnmitte), die ein Abweichen von der allgemeinen Rechtsfahrordnung gestattete, noch Umstände hervorkamen, daß das Abkommen vom rechten Straßenrand auf plötzliche Fahrunfähigkeit des Lenkers oder auf besondere Einwirkungen (z. B. technische Gebrechen) zurückzuführen sei, die bei angepaßter Fahrweise (§ 20 StVO 1960) nicht beherrschbar gewesen wären (§ 1297 ABGB).

Es wäre Sache des Erstbeklagten gewesen, zu beweisen, daß der durch eine Schutzgesetzverletzung hervorgerufene Schaden auf Ursachen zurückzuführen ist, die ihm nicht vorgeworfen werden können. Mit dem Hinweis auf die ungünstigen Fahrbahnverhältnisse allein vermag er sich nicht zu entlasten. Gerade diese Straßenverhältnisse verpflichteten ihn ja, seine Fahrweise darauf einzustellen. Den Beklagten ist daher der Beweis der Schuldlosigkeit mißlungen.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

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