OGH 7Ob7/77

OGH7Ob7/7728.4.1977

SZ 50/60

Normen

Allgemeine Bedingungen für die Haftpflichtversicherung Art7 I Abs7
Allgemeine Bedingungen für die Haftpflichtversicherung Art7 I Abs8
Versicherungsverbotsgesetz §6 Abs3
Versicherungsverbotsgesetz §15a
Versicherungsverbotsgesetz §154
Allgemeine Bedingungen für die Haftpflichtversicherung Art7 I Abs7
Allgemeine Bedingungen für die Haftpflichtversicherung Art7 I Abs8
Versicherungsverbotsgesetz §6 Abs3
Versicherungsverbotsgesetz §15a
Versicherungsverbotsgesetz §154

 

Spruch:

Im Sinne des § 154 Abs. 2 VersVG ist das Anerkenntnis oder die Befriedigung der Ersatzansprüche des Geschädigten durch den Versicherungsnehmer nur dann nicht offenbar unbillig, wenn die Forderung offensichtlich begrundet erhoben wurde und andere als eigene geschäftliche Rücksichten des Versicherungsnehmers die sofortige Wiedergutmachung im besonderen Maß erforderten. Ein sehr strenger Maßstab ist bei überhöhter Schadensgutmachung anzuwenden

Irrtum über die Grenzen des Befriedigungsverbotes kann mit den Folgen des § 6 Abs. 3 VersVG beachtlich sein, doch ist der Versicherungsnehmer für jede geringere Schuldform beweispflichtig

OGH 28. April 1977, 7 Ob 7/77 (OLG Graz 4 R 189/76; KG Leoben 21 Cg 108/75)

Text

Die Klägerin ist u. a. mit dem Betrieb ihres Steinbruches in L bei der Beklagten haftpflichtversichert. Am 7. März 1973 kam es bei einer Sprengung infolge unvorhersehbarer geologischer Verhältnisse ohne Verschulden der Klägerin zu erheblichen Beschädigungen mehrerer Bauobjekte verschiedener Eigentümer. Die Klägerin hat diese Schäden ohne Zustimmung der Beklagten behoben oder bezahlt und begehrt nun die Deckung der von ihr erbrachten Leistungen durch die Beklagte.

Der Erstrichter gab dem Klagebegehren bis auf einen Teilbetrag, dessen Abweisung unbekämpft geblieben ist, statt. Er verneinte eine Leistungsfreiheit der Beklagten hinsichtlich aller von ihr geltend gemachten Gründe, von denen jedoch im Revisionsverfahren nur noch jener der unzulässigen Befriedigung der Geschädigten nach Art. 7 I Abs. 8 und II AHVB 1963 aufrechterhalten wird.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten erhobenen Berufung teilweise Folge. Es "änderte" das Ersturteil unter Einbeziehung des bereits rechtskräftigen abweisenden Teiles mit Teilurteil dahin ab, richtigerweise: bestätigte es insoweit, als es der Klägerin den Teilbetrag von 49 911.09 S samt Nebengebühren zusprach, und hob es im restlichen strittigen Umfang von 26 175.60 S samt Nebengebühren ohne Rechtskraftvorbehalt zur weiteren Prüfung dieser Teilansprüche der Höhe nach auf.

Die vom Berufungsgericht übernommenen Tatsachenfeststellungen des Erstrichters sind für die Frage einer Verletzung des Anerkenntnisverbotes im nachstehenden Umfang von Belang:

Die Gesteinsstücke der fehlgegangenen Sprengung wurden aus der etwa 100 m über der Talsohle liegenden Ausbruchstelle teilweise bis zu einer Entfernung von fast 200 m gestreut und beschädigten Wohnhäuser und andere Baulichkeiten. Die Klägerin setzte noch am gleichen Tag die Beklagte telefonisch von dem Schadensfall in Kenntnis. Diese ließ die Schäden durch einen Vertrauensmann besichtigen. Einige Schäden, die besonders vordringlich waren, so die Auslagenscheibe einer K-Filiale, mußten sofort behoben werden, um weitere Schäden, besonders durch Einbruch oder Diebstahl sowie aufgebauschte Zeitungsberichte, zu verhindern. Die übrigen Schäden wurden größtenteils in den darauffolgenden Wochen beseitigt. Die Behebung der Schäden erfolgte über Veranlassung der Klägerin und wurde zum Teil durch eigene Bedienstete vorgenommen zum anderen Teil von Firmen. Die Klägerin trug den Kostenaufwand vorläufig zur Gänze und bezahlte die Rechnungen. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung bezeichnete der Erstrichter die Aussagen von Organen der Klägerin als klar und glaubwürdig, daß diese gedrängt gewesen sei, die Schäden unverzüglich beheben zu lassen und zu bezahlen. Es handle sich bei der Klägerin um ein bei der Öffentlichkeit sehr angesehenes Unternehmen, dessen Betrieb weitgehend davon abhängig und beeinflußt sei, daß die Bevölkerung und besonders die unmittelbaren Anrainer ihm positiv gegenüberstunden. Angesichts der Vielzahl der Schäden und Geschädigten mußte die Klägerin trachten, ein größeres Aufsehen oder eine Beunruhigung unter den Anrainern zu vermeiden. Die Hinauszögerung der Schadensabwicklung hätte zweifellos einen Sturm des Unmutes der Geschädigten zur Folge gehabt. Tatsächlich erschienen am 9. März und 16. März 1973 in großer Aufmachung Zeitungsberichte über das Schadensereignis, die die Klägerin "praktisch zwangen", alles zu unternehmen, um die aufgebrachten Geschädigten und Anrainer zufriedenzustellen. Es sprach auch eine Abordnung beim Bürgermeister vor, die auf rasche Wiedergutmachung drängte. Auch darüber wurde in großer Aufmachung in der Presse berichtet. Angesichts dieser Umstände sei der Klägerin keine andere Möglichkeit geblieben, als die Schäden so schnell wie möglich zu beheben und zu liquidieren. Die Klägerin habe nicht zuwarten und die Geschädigten so lange vertrösten können, bis die Beklagte die Schäden anerkennen und bezahlen werde. Eine solche Vorgangsweise hätte die Klägerin in der breiten Öffentlichkeit zweifellos in argen Verruf gebracht und außerdem zu Unterlassungs- und Schadenersatzklagen geführt. Die Klägerin habe bei dieser Sachlage die unverzügliche Befriedigung der berechtigten Ansprüche der Geschädigten nicht ohne offenbare Unbilligkeit verweigern können, so daß der Ausnahmetatbestand des Art. 7 I Abs. 8 zweiter Satz AHVB 1963 vorliege. Es brauche daher nicht untersucht zu werden, inwieweit Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit vorlag.

Das Berufungsgericht trat dieser rechtlichen Beurteilung im wesentlichen bei. Anerkenntnis oder Befriedigung der Geschädigten sei nach der genannten Ausnahmsbestimmung ohne Rücksicht darauf, ob die Ansprüche in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht begrundet seien, gerechtfertigt, wenn die Zahlung aus sozialen oder Pietätsgrunden nicht abgelehnt werden konnte, weil über das normale Maß hinaus ganz besondere Umstände vorlagen, denen zufolge die Verweigerung der Zahlung für jeden anständigen Menschen auf den ersten Blick einen Verstoß gegen die guten Sitten bedeutet hätte, weil die persönlichen und sozialen Verhältnisse der Beteiligten eine sofortige Befriedigung erforderten. In erster Linie sei an die Verhältnisse des geschädigten Dritten gedacht. Diese Voraussetzungen träfen zu, weil etwa beim Objekt K-Genossenschaft die Auslagenscheiben beschädigt und bei mehreren Baulichkeiten, auch Wohnobjekten, Dachschäden entstanden waren und eine Stromleitung beschädigt worden war. Diese Schäden mußten im Interesse der Geschädigten möglichst rasch behoben werden. Die Klägerin habe die Zahlung mit Rücksicht auf die besonderen Umstände (Zeitungsberichte und Deputation beim Bürgermeister) nicht verweigern können, ohne nach allgemeinen Anschauungen dem Anstand und den guten Sitten zu widersprechen.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten Folge und verwies die Rechtssache auch im Umfang der Teilurteile an das Erstgericht zurück.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Nach § 154 Abs. 2 VersVG ist eine Vereinbarung, nach welcher der (Haftpflicht-) Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei sein soll, wenn ohne seine Einwilligung der Versicherungsnehmer den Dritten befriedigt oder dessen Anspruch anerkennt, unwirksam, falls nach den Umständen der Versicherungsnehmer die Befriedigung oder die Anerkennung nicht ohne offenbare Unbilligkeit verweigern konnte. Diese Bestimmung setzt die vertragliche Vereinbarung einer derartigen Obliegenheit voraus. Bei dieser handelt es sich um eine speziell haftpflichtversicherungsrechtliche Last des Versicherungsnehmers, deren Zweck darin liegt, eine Verständigung zwischen dem Geschädigten und dem Versicherungsnehmer auf Kosten des Versicherers zu verhindern, ohne daß andererseits das Anerkenntnis- und Befriedigungsverbot schon dann gegenstandslos wäre, wenn die Haftpflichtansprüche offensichtlich begrundet waren. Vielmehr wird durch die vereinbarte Obliegenheit zugleich die Entscheidungsfreiheit des Versicherers geschützt, welche Form des Versicherungsschutzes er wählen will (Bruck - Möller - Johannsen, VersVG[8] IV, 254). Die Bestimmung soll also verhüten, daß durch eigenmächtige Maßnahmen des Versicherungsnehmers die Rechtslage des Versicherers in den weiteren Verhandlungen oder in einem späteren Rechtsstreit verschlechtert wird. Dem Versicherungsnehmer ist deshalb auch ein Anerkenntnis, das im Ergebnis für den Versicherer günstig wäre, untersagt (Stiefel - Wussow - Hofmann, AKB[10], 329 f.).

Im vorliegenden Fall ist der objektive Vorstoß der Klägerin gegen diese vereinbarte Obliegenheit durch die zugestandene Befriedigung der mehreren geschädigten Personen, sei es durch Naturalrestitution, sei es durch Bezahlung der Reparaturrechnungen, unzweifelhaft dargetan. Folgerichtig beruft sich die Klägerin nur auf das Vorliegen des Rechtfertigungsgrundes des § 154 Abs. 2 letzter Halbsatz VersVG und behauptet, daß sie nach den Umständen die Befriedigung der Geschädigten nicht ohne offenbare Unbilligkeit verweigern konnte. Die Revisionswerberin bestreitet das Vorliegen eines solchen Ausnahmstatbestandes und beruft sich überdies auf die Bestimmung des Art. 7 I Abs. 8 letzter Satz der AHVB 1963, wonach durch irrtümliche Annahme des Vorliegens einer gesetzlichen Haftpflicht oder der Richtigkeit der erhobenen Ansprüche oder der behaupteten Tatsachen der Versicherungsnehmer nicht entschuldigt werde.

Der Rechtsansicht der Vorinstanzen, daß der Klägerin der genannte Rechtfertigungsgrund zugute komme, kann nicht gefolgt werden. Unrichtig ist schon die Meinung des Berufungsgerichtes, daß es darauf, ob die von den Geschädigten geltend gemachten Ansprüche in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht begrundet waren, gar nicht ankomme. Wenn nämlich, wie es auch das Berufungsgericht erkennt, offenbar unbillig nur - in ganz seltenen Ausnahmefällen (Wussow, AHB[6], 482) - das ist, was für jeden anständigen Menschen auf den ersten Blick einen Verstoß gegen die guten Sitten bedeutet (vgl. Bruck - Möller - Johannsen a. a. O., 264 f. mit Hinweis auf die Materialien zur Neufassung durch das Gesetz RGBl. 1939 I, 2223 und auf einen Rechtsvergleich Wahles, sowie Stiefel - Wussow - Hofmann a. a. O., 336; VersR 1969, 405), dann kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Verweigerung eines Anerkenntnisses und begrundeter Ersatzansprüche nicht offenbar unbillig ist. Erste Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 154 Abs. 2 VersVG ist deshalb der schon in den Gesetzesmaterialien herausgestellte Gesichtspunkt, daß die vom geschädigten Dritten geltend gemachte Forderung offensichtlich begrundet sein muß (Bruck - Möller - Johannsen, 264 f.), daß also sämtliche Tatumstände einwandfrei geklärt sind und für jeden umbefangenen Beurteiler offensichtlich eine Haftung des Versicherungsnehmers begrunden (Stiefel - Wussow - Hofmann a. a. O., 336 mit Hinweisen auf die deutsche Judikatur).

Diesen Erwägungen kommt im vorliegenden Fall Umstandes Bedeutung zu, daß die von der Klägerin befriedigten Ersatzansprüche der Geschädigten der Überprüfung in diesem Deckungsprozeß dem Gründe nach ganz und der Höhe nach zum überwiegenden Teil standgehalten haben. Selbst wenn nämlich davon abgesehen würde, daß diese Überprüfung nach der Behebung und Bezahlung der Schäden immerhin ein sonst vielleicht vermeidbares umfangreiches Beweisverfahren erforderten, bleibt als Ergebnis dieser Prüfung, das in der teilweisen Abweisung des Klagebegehrens und der Rechtskraft dieser Teilabweisung Ausdruck gefunden hat, die Tatsache bestehen, daß die Klägerin zum Teil auch unbegrundete Ersatzansprüche von Geschädigten ohne weiteres befriedigt hat. Diese Überzahlungen betrafen mit 965.70 S die Gesamtforderung des Geschädigten O von 27 219.86 S, mit 1924.32 S die Forderung der K-Genossenschaft O, Filiale L, von insgesamt 14 386.19 S und mit 556.72 S die Eigenkosten für Arbeiter und Material der Klägerin für unmittelbare Schadensbehebung bei Geschädigten (ohne namentliche Aufteilung) von insgesamt 2056.72 S. Dazu kommt allenfalls ein weiterer Abzug von den Ersatzforderungen der Geschädigten R per 25 931.40 S und D per 244.20 S, hinsichtlich welcher das Berufungsgericht in seinem Aufhebungsbeschluß weitere Erhebungen für erforderlich erachtet. Zusammenfassend haben sich die Forderungen der Geschädigten also wohl dem Gründe nach als berechtigt erwiesen, der Höhe nach aber nur mit Abstrichen.

Die Bedeutung dieses Umstandes haben die Vorinstanzen nicht erkannt, die überdies den Begriff der offenbaren Unbilligkeit zu weit ausgelegt haben. Selbst im Falle der vollen Berechtigung der erhobenen Ersatzansprüche ist die Frage, ob die Verweigerung des Anerkenntnisses offenbar unbillig gewesen wäre, zwar aus der Sicht des Versicherungsnehmers zu beurteilen; die dabei zu berücksichtigenden Umstände sind aber aus der Interessenlage des geschädigten Dritten zu schöpfen, wobei hiezu außer der persönlichen und finanziellen Lage des Geschädigten u. a. auch dessen Beziehungen zum Versicherten und die Schwere des Verschuldens gehören können (Prölss - Martin, VersVG[20], 700 f.; BGH VersR 1968, 289 u. a.). Unerheblich sind aber entgegen der Meinung der Vorinstanzen jene Umstände, die allein vom Standpunkt des Versicherungsnehmers aus "billigerweise" eine Befriedigung des Dritten geraten erscheinen ließen. Es ist deshalb in der Regel kein beachtlicher Faktor, daß dem Versicherungsnehmer durch die Nichtbefriedigung der Forderung etwa eines Geschäftsfreundes finanzielle Verluste drohen oder der geschädigte Dritte ohne Abgabe eines Anerkenntnisses nicht bereit ist, auf die Verfolgung seiner Rechte mit allen gesetzlichen Mitteln zu verzichten. Der Versicherungsnehmer darf nicht aus Gründen der Bequemlichkeit das vertragliche Anerkenntnisverbot mißachten (Bruck - Möller - Johannsen a. a. O., 266 f.), während dem Verletzten in der Regel die normale Abwicklung durch den Versicherer zugemutet werden muß (Stiefel - Wussow - Hofmann a. a. O., 336). Der Versicherungsnehmer kann sich also nicht darauf berufen, daß es zu seinem Nachteil offenbar unbillig gewesen wäre, das Anerkenntnis zu verweigern (Prößl - Martin a. a. O., 701). Nur soziale oder Pietätsgrunde in einem über die normale moralische Verpflichtung zur Wiedergutmachung hinausgehenden besonderen Maß können die Befriedigung rechtfertigen (Wussow a. a. O., 482), so daß geschäftliche Rücksichten des Versicherungsnehmers - deretwegen er Zahlung aus eigener Tasche leisten mag - nicht ins Gewicht fallen können (Stiefel - Wussow - Hofmann a. a. O., 336). Die von den Vorinstanzen zur Begründung der Rechtfertigung der unmittelbaren Befriedigung der Geschädigten herangezogenen Umstände, daß diese nämlich in besonderer Weise auf Zahlung drängten und die Klägerin ihren guten geschäftlichen Ruf nicht aufs Spiel setzen konnte, schlagen deshalb keineswegs durch. Es hätte vielmehr konkreter Behauptungen der Klägerin darüber bedurft, warum sie jedem einzelnen Geschädigten, etwa wegen dessen besonders schlechter finanzieller Lage, sofortige Hilfe anbieten mußte. Eine solche Beweisführung war umsoweniger entbehrlich, als feststeht, daß nur ein geringer Teil der Schäden von der Klägerin sofort behoben wurde, die anderen aber erst im Laufe der nächsten Wochen, und mindestens einzelne Geschädigte, wie etwa die K-Genossenschaft, sich offenbar in gesicherter finanzieller Lage befanden, so daß ihre sozialen und persönlichen Verhältnisse eine sofortige Befriedigung offenbar nicht erforderten.

Dazu kommt der bereits dargestellte Umstand, daß sich die Forderungen gerade der Hauptgläubiger nicht im vollen Umfang als berechtigt herausgestellt haben. Damit waren aber die von diesen geschädigten Dritten geltend gemachten Forderungen nicht offensichtlich begrundet. Die volle Befriedigung einer solchen Forderung durfte durchaus ohne den Vorwurf offenbarer Unbilligkeit abgelehnt werden. Nur wenn die materielle oder seelische Not des Anspruchstellers so groß gewesen wäre, daß es immer noch jedem sittlich denkenden Menschen zum Vorwurf gereicht hätte, wenn er nicht wenigstens jenen Teil der Haftpflichtforderung, der erkennbar begrundet war, befriedigte oder anerkannte, könnte dem Versicherungsnehmer insoweit der Schutz des § 154 Abs. 2 VersVG zugesprochen werden. Eine derart krasse Ausnahmesituation, die den Versicherungsnehmer zu einem solchen Handeln auch bei nur teilweise begrundeter Forderung ermächtigt hätte (Bruck - Möller - Johannsen a. a. O., 265), hat die Klägerin aber in keiner Weise behauptet. Zusammenfassend ist ihr vielmehr eine Rechtfertigung des Verstoßes gegen die zum Vertragsinhalt gemachte Verpflichtung des Art. 7 I Abs. 8 AHVB 1963, ohne vorherige Zustimmung des Versicherers den Haftpflichtanspruch weder ganz noch zum Teile anzuerkennen oder zu befriedigen, in objektiver Beziehung nicht gelungen. Die Revisionsgegnerin wäre verpflichtet gewesen, der Beklagten die Schadensabwicklung zu überlassen (§§ 149 f. VersVG, Art. 1 Abs. 1 und Art. 7 I Abs. 7 AHVB). Von einer Verweisung der Geschädigten auf eine Direktklage gegen den Versicherer, so daß sie bewußt irregeführt hätten werden sollen, kann hingegen keine Rede sein.

Damit ist die Sache jedoch noch nicht im Sinne einer Klagsabweisung spruchreif. Es bleibt vielmehr zu prüfen, ob und in welchem Maße die Verletzung der Obliegenheit der Klägerin subjektiv zur Last fällt. Die Rechtsfolgen richten sich gemäß § 6 Abs. 3 VersVG nach dem Maße dieser Schuld, wobei die Beweislast für ein geringeres Maß derselben den Versicherungsnehmer trifft (Wahle, VersR 1960, 82; VersR 1965, 170; SZ 47/44 u. a.). Beide Vorinstanzen haben dieser Frage infolge ihrer unrichtigen Rechtsansicht keine Bedeutung beigemessen, und der Erstrichter hat Feststellungen zum Verschuldensgrad ausdrücklich nicht getroffen. Andererseits ist der widerlegten Behauptung der Klägerin, daß sie die Befriedigung der Geschädigten nicht ohne offenbare Unbilligkeit verweigern habe können, ohne weiteres der zusätzliche Inhalt einer Bestreitung wenigstens der vorsätzlichen Begehung der Obliegenheitsverletzung zuzuerkennen.

Im allgemeinen genügt es allerdings für die Annahme vorsätzlicher Obliegenheitsverletzung, daß das die Obliegenheitsverletzung begrundende Verhalten im Bewußtsein des Vorhandenseins der Verhaltensnorm gewollt war (SZ 47/89 u. v. a.). Schon bedingt vorsätzliche Verletzung der Obliegenheit reicht aus, wenn also der Versicherungsnehmer in Kauf nimmt, daß sein Verhalten möglicherweise eine Obliegenheitsverletzung darstelle (Bruck - Möller, VersVG [8] I, 197; VersR 1975, 554). Für die Leistungsfreiheit des Versicherers genügt es aber nicht, daß der Versicherungsnehmer das Befriedigungsverbot kennt, wenn er zugleich ohne dolus eventualis glaubt, daß die Voraussetzungen des § 154 Abs. 2 VersVG gegeben seien. Bei einer gesetzlich anerkannten Ausnahme kann sich nämlich der Versicherungsnehmer über deren Grenzen mit einer den Vorsatz ausschließenden Wirkung irren, auch und gerade wenn er die allgemeine Regel kennt. Es ist dann eine weitere Tatfrage, ob der Irrtum auf grober oder leichter Fahrlässigkeit beruht (Bruck - Möller - Johannsen a. a. O., 269; Stiefel - Wussow - Hofmann a. a. O., 334; Prößl - Martin a. a. O., 699 f.; BGH VersR 1966, 153; SZ 42/40). Vorsatz wäre allerdings anzunehmen, wenn der Versicherungsnehmer bewußt ein durch den Sachverhalt nicht gedecktes Anerkenntnis abgab (SZ 42/40).

Nach dem Schlußsatz des Art. 7 I Abs. 8 AHVB soll der Versicherungsnehmer durch irrtümliche Annahme des Vorliegens einer gesetzlichen Haftpflicht oder der Richtigkeit der erhobenen Ansprüche oder der behaupteten Tatsachen nicht entschuldigt werden können. Bei Anwendung des gemäß § 15a VersVG zugunsten des Versicherungsnehmers zwingenden § 6 Abs. 3 VersVG kommt einer derartigen Bestimmung aber keine Bedeutung zu (Ehrenzweig, Versicherungsvertragsrecht, 369; Bruck - Möller - Johannsen a. a. O., 270; Prölß - Martin a. a. O., 701; vgl. auch Wussow, AHB, 483).

Das Verfahren erweist sich damit auch im Umfang des angefochtenen Teilurteils insofern als ergänzungsbedürftig, als es des Nachtrags einer Feststellung darüber bedarf, ob die Klägerin die objektiv feststehende Obliegenheitsverletzung mit einem geringeren Verschuldensgrad begangen hat, indem sie weder die übermäßige Befriedigung erkannte noch in Kauf nahm, durch die unmittelbare Befriedigung der Geschädigten das vereinbarte Befriedigungsverbot zu verletzen; sowie im Falle fehlenden Vorsatzes, welche Umstände ihren Irrtum hervorriefen, so daß beurteilt werden kann, ob grobe oder leichte Fahrlässigkeit, vorliegt (vgl. hiezu Bruck - Möller - Johannsen a. a. O., 269). Nur im letzteren Fall wäre die Revisionswerberin voll leistungspflichtig, während sich ihre Deckungspflicht im Falle groben Verschuldens der Klägerin nach dem Maß des § 6 Abs. 3 zweiter Satz VersVG richten würde. Für jede Einschränkung der infolge objektiver Obliegenheitsverletzung zunächst anzunehmenden Leistungsfreiheit,ist der Versicherungsnehmer beweispflichtig.

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