Spruch:
Wenn das Berufungsgericht die Klage abweist, ohne die- Beweisrüge des Beklagten zu erledigen, gewinnt diese bei Erledigung der Revision des Klägers wieder Bedeutung, so daß das Berufungsurteil aufgehoben und die Rechtssache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden muß
OGH 12. November 1970, 2 Ob 367/70 (LG Innsbruck 2 R 651/69; BG Hopfgarten C 157/68 )
Text
Am 16. Juni 1967 nachmittags stießen im Gegenverkehr der Kläger als Motorradfahrer und der von der Erstbeklagten gelenkte PKW (Mercedes) des Zweitbeklagten auf der Straße im Windautal zusammen.
Der Kläger begehrte Schadenersatz im Betrage von 12.176.30 S wegen Alleinverschuldens der Erstbeklagten.
Die Beklagten beantragten Klagsabweisung wegen alleinigen Verschuldens des Klägers; außerdem machten sie Reparaturkosten von 3000 S hilfsweise zur Aufrechnung geltend.
Das Erstgericht erkannte, daß die Gegenforderung nicht zu Recht bestehe, und verurteilte die Beklagten zur ungeteilten Hand, dem Kläger 9684.80 S s A zu bezahlen; das Mehrbegehren von 2421.20 S wies es ab (diese Abweisung blieb unangefochten, ebenso der Ausspruch hinsichtlich des Nichtbestehens der Gegenforderung).
Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Klägers Folge; er hob das Berufungsurteil insoweit auf, als es das Klagebegehren mit mehr als 2421.20 S samt 4% Zinsen seit 25. Juli 1968 abwies.
Die Rechtssache wurde im Umfang dieser Aufhebung zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Das Erstgericht stellte folgendes fest:
Der Unfall ereignete sich auf der 2.60 m breiten, mit tiefen Fahrrillen an den beiden Rändern versehenen W-Landesstraße in einer unübersichtlichen Kurve zwischen dem Haus Nr 8 und dem sogenannten Faßlschneideranwesen. Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad in der mindestens 15 cm tiefen rechten Fahrrille. Die Erstbeklagte fuhr ihm mit dem PKW entgegen, hielt dabei jedoch nicht ihren äußersten rechten Fahrbahnrand ein. Sie hatte auf den entgegenkommenden Kläger eine Sicht von 20 bis 25 m und hielt auch noch bei Ansichtigwerden des Klägers einen Abstand von mindestens 60 cm vom rechten Fahrbahnrand ein. Beide Lenker fuhren mit mäßiger Geschwindigkeit. Die Erstbeklagte lenkte den PKW viel zu spät und erst unmittelbar vor dem Unfall ganz an den rechten Rand heran. Der Kläger bremste nicht und fuhr weiter, obwohl er erkannt haben mußte, daß ihm der PKW nicht genügend weit ausweiche. Er rechnete damit, daß die Erstbeklagte doch noch genügend weit ausweichen werde. Da sich die Erstbeklagte jedoch nicht erwartungsgemäß verhielt, konnte der Kläger infolge der Fahrbahnenge und der hindernden Rille nicht mehr ausweichen und stieß mit dem linken Knie gegen den Kotflügel des PKW, sodaß er mit seinem Motorrad seitlich in den Wiesengrund geschleudert wurde.
Das Erstgericht führte aus, daß die Erstbeklagte gegen § 10 Abs 1 StVO 1960 verstoßen habe, weil sie auf der schmalen Fahrbahn dem Kläger nicht rechtzeitig ausreichend nach rechts ausgewichen sei. Der Kläger aber habe § 10 Abs 2 StVO 1960 mißachtet, weil er, obwohl er nicht ausweichen konnte, nicht angehalten habe. Sein Verschulden sei weitaus geringer als das der Erstbeklagten, da von ihr als Lenkerin eines breiten PKWs wegen der größeren Gefährlichkeit eine erheblich gesteigerte Pflichtbeachtung zu erwarten gewesen wäre. Der Schade wurde somit im Verhältnis von 1 zu 4 zu Gunsten des Klägers aufgeteilt.
Das Berufungsgericht erledigte die wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Tatsachenfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Berufung der Beklagten dahin, daß schon auf Grund der Feststellungen des Erstgerichtes das Alleinverschulden des Klägers feststehe. Angesichts der Fahrbahnbreite von 2.60 m und der Breite des PKW von über 1.70 m sei der Kläger verpflichtet gewesen, auf halbe Sicht zu fahren und sofort bei Ansichtigwerden des Gegenfahrzeugs abzubremsen und anzuhalten. Eine Begegnung beider Fahrzeuge wäre nämlich ohne diese Maßnahme und ohne Aneinander-Vorbeitasten nicht möglich gewesen. Da der Erstbeklagten ein Seitenabstand von zirka 50 cm vom rechten Fahrbahnrand zugestanden werden müsse, seien dem Kläger nur mehr etwa 40 cm zur Verfügung gestanden. Überdies habe sich der Kläger in der Rille bewegt, aus der er sich nicht ohne weiters befreien konnte; diese sei auch nicht an seinem äußersten rechten Fahrbahnrand verlaufen. Wenn der Kläger, ohne zu bremsen, weiterfuhr, sei er der Erstbeklagten in deren Anhalte- und Reaktionsweg hineingefahren. Der Verstoß des Klägers gegen § 10 Abs 1 StVO 1960 sei daher allein maßgebend. Der Erstbeklagten könne kein Vorwurf gemacht werden, da sie sogleich, soweit als möglich, nach rechts ausgewichen sei und angehalten habe. Bei diesen Umständen sei auch die Halterhaftung nach den Bestimmungen des EKHG zu verneinen.
Der Revisionswerber macht geltend, daß die Erstbeklagte nach § 7 Abs 2 StVO 1960 verpflichtet gewesen wäre, am äußersten rechten Fahrbahnrand zu fahren. Dann wäre für den Kläger ein 90 cm breiter Fahrbahnstreifen übriggeblieben, der eine gefahrlose Begegnung ermöglicht hätte.
Dem Revisionswerber ist zuzugeben, daß der vom Erstgericht festgestellte und vom Berufungsgericht seiner Entscheidung hypothetisch zu Gründe gelegte Sachverhalt die Annahme eines Alleinverschuldens des Klägers nicht rechtfertigt.
Das Berufungsgericht hat, von dieser unzutreffenden Rechtsansicht ausgehend, das Klagebegehren abgewiesen, ohne auf die anderen von den Beklagten geltend gemachten Berufungsgrunde einzugehen.
Es erweist sich deshalb als notwendig, das Berufungsurteil insoweit aufzuheben, als die Abweisung des Klagebegehrens noch strittig ist, und die Rechtssache im Umfang dieser Aufhebung zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dem Ermessen der Berufungsinstanz bleibt vorbehalten, die Berufungsverhandlung zu ergänzen.
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