Spruch:
Voraussetzungen einer Aufhebung der Ehe wegen arglistiger Täuschung i. S. des § 38 EheG.
Mit Rücksicht auf das in der Ehe notwendige innige Vertrauensverhältnis hat jeder Verlobte Anspruch darauf, alle Umstände, die für die Ehe objektiv von Bedeutung sind, insbesondere derartige die Person des künftigen Ehegatten oder dessen Verwandte betreffende dauernde Zustände, zu kennen.
Auf die Motive für die Täuschung kommt es nicht an; auch wer in der sicheren Erwartung, daß die Ehe glücklich verlaufen werde, dem Verlobten objektiv wesentliche Umstände verschweigt, von denen er annehmen mußte, daß die Kenntnis der wahren Sachlage den Partner von der Eingehung der Ehe abhalten könnte, handelt arglistig.
Entscheidung vom 17. Dezember 1969, 5 Ob 275/69.
I. Instanz: Kreisgericht St. Pölten; II. Instanz: Oberlandesgericht Wien.
Text
Das Erstgericht hob die zwischen den Streitigkeiten am 15. Juni 1968 geschlossene, kinderlos gebliebene Ehe aus dem Verschulden der Beklagten auf. Es stellte folgenden Sachverhalt fest: Im Zeitpunkt der Eheschließung sei die Beklagte 171/2 Jahre alt gewesen. Ende des Sommers 1968 habe sie eine Fehlgeburt gehabt. Die Ehe sei bis zum 20. Jänner 1969 durchaus normal verlaufen. An diesem Tag habe der Kläger durch eine Freundin der Beklagten erfahren, daß die Beklagte in den Jahren 1962 bis 1966 regelmäßig mit ihrem Bruder geschlechtlichen Umgang gehabt habe. Die Beklagte habe diesen Sachverhalt zugegeben. Darauf sei der Kläger aus dem ehelichen Schlafzimmer ausgezogen und habe erklärt, er werde es sich noch überlegen, ob er nunmehr unter der Belastung der Kenntnis des Vorlebens der Beklagten imstande sei, die Ehe fortzusetzen. Am 2. Februar 1969 habe der Kläger der Beklagten mitgeteilt, daß er nach reiflicher Überlegung zur Überzeugung gekommen sei, er könne die Ehe nicht mehr fortsetzen, weil ihm jetzt vor einem ehelichen Verkehr mit der Beklagten ekle. Darauf habe die Beklagte die eheliche Wohnung verlassen. Da der Kläger nach der Entdeckung der Täuschung nicht zu erkennen gegeben habe, daß er die Ehe fortsetzen wolle, sondern eine solche Fortsetzung ausdrücklich verweigert habe, sei der Aufhebungsgrund nach § 38 EheG. gegeben.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Das Erstgericht habe die aufgenommenen Beweise richtig gewürdigt. Die Aufnahme der in der Berufung neu angebotenen Beweise für die Behauptung, daß der Kläger nach erlangter Kenntnis von den Verfehlungen der Beklagten bereit gewesen sei, die Ehe mit ihr fortzusetzen, sei nicht notwendig, weil die Beklagte zugegeben habe, daß bei dem kritischen Gespräch der Streitteile keine Zeugen anwesend gewesen seien. Zur Rechtsrüge der Berufung war die zweite Instanz der Auffassung, daß die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, den Kläger vor der Eheschließung über die jahrelangen Beziehungen zu ihrem Bruder zu unterrichten. In der Nichterfüllung dieser Verpflichtung liege die arglistige Täuschung des Klägers. Es sei nicht wesentlich, daß die Beklagte zu Beginn ihrer Beziehungen zum älteren Bruder dem Kindesalter noch nicht entwachsen gewesen sei und daß ihr Bruder sie vermutlich verführt habe; jedenfalls sei die Beklagte im Zeitpunkt der Eheschließung reif genug gewesen, ihre Mitteilungspflicht erkennen zu können. Sie habe dem Kläger ihre früheren Verfehlungen nicht gestanden, weil sie gewußt habe, daß er sie in Kenntnis der wahren Sachlage nicht heiraten werde. Die Aufhebung der Ehe sei auch nicht nach § 38 (2) EheG. ausgeschlossen, weil der Kläger noch unter dem Eindruck der Mitteilung der Verfehlungen der Beklagten das eheliche Schlafzimmer verlassen habe und es seither nicht zur Fortsetzung der Ehe gekommen sei. Dieses Verhalten des Klägers rechtfertige den Schluß, daß er über das Gehörte nicht hinweggekommen sei und daß er nur deshalb die Ehe nicht mehr fortsetzen wolle. Es spiele keine Rolle, ob er in dieser Haltung allenfalls von seiner Ziehmutter bestärkt worden sei; die dafür angebotenen Beweise müßten deshalb nicht aufgenommen werden. Schließlich komme es nicht darauf an, ob die Aufhebung der Ehe mit Rücksicht auf die bisherige Gestaltung des ehelichen Lebens sittlich gerechtfertigt sei, weil dieser Ausschließungsgrund nur im § 37 (2) EheG. vorgesehen sei, im vorliegenden Fall aber die Ehe nach § 38 EheG. aufgehoben werde.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Soweit die Revision eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens darin erblickt, daß die Beziehungen der Beklagten zu ihrem Bruder nicht näher erörtert wurden und daß darüber mit Ausnahme der Parteienvernehmung keine Beweise aufgenommen wurden, ist ihr entgegenzuhalten, daß der in diesem Zusammenhang maßgebende Sachverhalt durch die aufgenommenen Beweise hinreichend geklärt wurde. Im vorliegenden Fall handelt es sich nicht um die Beurteilung der Schwere und Bedeutung der diesbezüglichen Verfehlungen der Beklagten, sondern allein darum, ob der vom Kläger geltend gemachte Aufhebungsgrund gegeben ist. Die für die Behauptung der Beklagten, daß der Kläger nach Aufklärung über das Vorleben der Beklagten erklärt habe, die Ehe fortsetzen zu wollen, angebotenen Beweise wurden vom Berufungsgericht aber mit Recht als unerheblich betrachtet, da diese angebliche Äußerung des Klägers jedenfalls mit seinem übrigen an den Tag gelegten Verhalten (Auszug aus dem gemeinsamen Schlafzimmer der Streitteile und Erklärung, er müsse es sich noch überlegen, ob er nunmehr die Ehe fortzusetzen imstande sei) im Widerspruch stand und daher, selbst wenn er eine solche Erklärung den Eltern der Beklagten gegenüber abgegeben haben sollte, nicht als Bestätigung der Ehe im Sinne einer Erklärung seiner Bereitschaft zur Fortführung eines normalen Ehelebens (vgl. Schwind in Klang-Komm.[2] I/1 669 f.) angesehen werden könnte. Der Kläger hat allerdings zunächst die Scheidung der Ehe verlangt und dort ausgeführt, daß die Ehe durch den nunmehr hervorgekommenen Sachverhalt so schwer zerrüttet worden sei, daß er mit der Beklagten nicht mehr zusammenleben könne, obwohl er sich darum bemüht habe. Da der Kläger mit diesen Ausführungen keinesfalls eine Eheverfehlung der Beklagten behauptete, war sein Scheidungsbegehren gewiß verfehlt. Es kann aber dahingestellt bleiben, ob dieses Vorbringen allenfalls einem Tatbestand nach § 37 EheG. unterstellt werden könnte, denn seine weiteren Ausführungen zur Begründung des nunmehr auf Aufhebung der Ehe zielenden Begehrens lassen deutlich erkennen, daß der Aufhebungsgrund der arglistigen Täuschung (§ 38 EheG.) geltend gemacht wurde.
Nach dieser Gesetzesstelle kann die Aufhebung der Ehe verlangen, wer durch arglistige Täuschung seitens des Ehepartners oder mit dessen Kenntnis durch einen Dritten über Umstände in der Person des Partners - mit Ausnahme seiner Vermögensverhältnisse - in Irrtum geführt wurde und diese Täuschung für die Eheschließung kausal war. Soweit der Aufhebungsgrund in der Geheimhaltung oder Verschweigung wahrer Tatsachen erblickt wird, kann von einer arglistigen Täuschung allerdings nur gesprochen werden, wenn der angeblich Getäuschte im Zeitpunkt der Eheschließung Anspruch auf Mitteilung des wahren Sachverhaltes hatte, dieser objektiv für die Gestaltung der Ehe von Bedeutung ist und der Täuschende die Tragweite seines Stillschweigens erkannte, daran aber in der Absicht festhielt, zu verhindern, daß der Partner von seinem Entschluß zur Ehe Abstand nehme. Mit Rücksicht auf das in der Ehe notwendige innige Vertrauensverhältnis hat jeder Verlobte Anspruch darauf, alle Umstände, die für die Ehe objektiv von Bedeutung sind, insbesondere derartige die Person des künftigen Ehegatten oder dessen Verwandte betreffende dauernde Zustände zu kennen. Einmalige in der Vergangenheit liegende Ereignisse können für die Zukunft nur dann eine solche entscheidende Bedeutung gewinnen, wenn sie der Anfang eines noch in das eheliche Leben hineinwirkenden Zustandes geworden sind (vgl. Schwind a.a.O. 689).
Durch Jahre hindurch unterhaltene geschlechtliche Beziehungen einer dem Kindesalter kaum entwachsenen Frau mit ihrem leiblichen Bruder sind nun keineswegs als ein einmaliges Ereignis zu bezeichnen. Vielmehr handelt es sich hiebei um Handlungen, die ohne Rücksicht auf die Verantwortlichkeit der Beteiligten auf beiden Seiten solche Eigenschaften erkennen lassen, die für die Gestaltung eines künftigen Ehelebens von bleibender Bedeutung sind. Das Berufungsgericht war daher mit Recht der Auffassung, daß die Beklagte unter diesen Umständen verpflichtet gewesen wäre, dem Kläger vor der Eheschließung von ihren diesbezüglichen Erlebnissen Mitteilung zu machen. Daß die Beklagte im kritischen Zeitpunkt die Tragweite ihres Stillschweigens erkannte, hat das Berufungsgericht aus der Feststellung erschlossen, daß die Beklagte dem Kläger ihre Verfehlungen deshalb nicht gestanden habe, weil sie gewußt habe, daß er sie in Kenntnis der wahren Sachlage nicht heiraten werde. Diesbezüglich handelt es sich um die Feststellung einer Tatsache, da die Beantwortung der Frage, welche Gedanken bestimmten Handlungen oder Unterlassung einer Person zugrunde lagen, also die Feststellung des inneren Seelenzustandes dieser Person zu einer gegebenen Zeit, nur auf Grund der Wertung der äußeren Umstände ihrer Handlungen oder Unterlassungen aufgenommenen Beweisen erfolgt. Nur wenn bei dieser Wertung die natürlichen Denkgesetze verletzt wurden, was hier jedoch keinesfalls zutrifft, könnte von einer rechtlichen Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes gesprochen werden. Der Oberste Gerichtshof ist daher an die Feststellung der Absicht der Beklagten, von der sie sich bei der Verschweigung des wahren Sachverhaltes leiten ließ, gebunden. Es muß deshalb der Versuch der Revision, diese Feststellung unter Hinweis auf die Glaubwürdigkeit der Parteiaussage des Klägers zu erschüttern, erfolglos bleiben. Auf die Motive für die Täuschung kommt es nicht an; auch derjenige, der in der sicheren Erwartung, daß die Ehe glücklich verlaufen werde, dem Verlobten objektiv wesentliche Umstände verschweigt, von denen er annehmen mußte, daß die Kenntnis der wahren Sachlage den Partner von der Eingehung der Ehe abhalten könnte, handelt arglistig (Schwind a. a.O. 688). Einen solchen Sachverhalt haben die Untergerichte aber festgestellt. Die Behauptung der Beklagten, daß sie im Zeitpunkt der Eheschließung die lange zurückliegenden Ereignisse vergessen und schon deshalb nicht arglistig gehandelt habe, widerspricht den Feststellungen der Untergerichte. In der rechtlichen Beurteilung dieses Sachverhaltes durch die Untergerichte, daß der geltend gemachte Aufhebungsgrund gegeben ist, kann somit ein Rechtsirrtum nicht erblickt werden. Nach § 42 (2) EheG. war auch das Verschulden der Beklagten auszusprechen.
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