OGH 2Ob336/68

OGH2Ob336/6821.11.1968

SZ 41/160

Normen

Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz §9 (1)
Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz §9 (1)

 

Spruch:

Eine unvorhergesehene Ohnmacht oder Bewußtseinsstörung des Lenkers ist kein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 (1) EKHG. Wer zu Schmerzanfällen neigt, muß sich des Lenkens eines Kraftfahrzeuges nur dann enthalten, wenn er mit einer Ohnmacht zu rechnen hat.

Entscheidung vom 21. November 1968, 2 Ob 336/68.

I. Instanz: Landesgericht Innsbruck; II. Instanz: Oberlandesgericht Innsbruck.

Text

Der Erstbeklagte Friedrich M. geriet am 26. Dezember 1964 gegen 8 Uhr 45 vormittags als Lenker eines vom Zweitbeklagten Hermann S. (Halter) ausgeliehenen PKWs Opel-Caravan auf der Fahrt aus der Richtung Kundl gegen Rattenberg auf der geraden und übersichtlichen, jedoch schneeglatten Bundesstraße 1 auf die linke Straßenseite und stieß dort frontal mit einem entgegenkommenden Volkswagen zusammen, dessen Lenker und Halter ein Bruder des heutigen Klägers namens Richard H. war. Bei diesem Zusammenstoß wurden beide Kraftfahrzeuge beschädigt und ihre Insassen verletzt. Unter den Verletzten befand sich insbesondere der Kläger, der im Volkswagen neben dem Lenker gesessen war. Das Strafverfahren wurde gegen den VW-Lenker Richard H. gemäß § 90 StPO. eingestellt; gegen den Lenker des Opel-Caravan (den Erstbeklagten) endete es mit Freispruch.

Mit der vorliegenden Klage forderte der Kläger wegen des angeblichen Alleinverschuldens des Erstbeklagten Ersatz für Heilungskosten, Sachschaden, Verdienstentgang und Schmerzengeld im Betrage von 2835.02 DM samt 4% Zinsen zum Tageskurs der Wiener Börse, Devise - Ware, Frankfurt am Main.

Die Beklagten beantragten kostenpflichtige Abweisung der Klage, weil der Erstbeklagte die Herrschaft über den Wagen nicht infolge überhöhter Geschwindigkeit auf glatter Fahrbahn, sondern infolge einer kurzen Ohnmacht mit Bewußtseinsstörung verloren habe. Es gebe hier auch keine Haftung nach dem Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz, weil der Ohnmachtsanfall des Erstbeklagten ein unabwendbares Ereignis darstelle.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Der Erstbeklagte hatte ungefähr ein Jahr vor dem Unfall erstmals kolikartige Schmerzen im linken Unterbauch, die in der Folgezeit in mehr oder weniger großen Abständen immer wieder auftraten. Diese Schmerzen kamen plötzlich, waren aber jeweils nur von kurzer Dauer. Nach einigen Körperdrehungen waren sie wieder weg. Beim Auftreten solcher Bauchschmerzen wurde dem Erstbeklagten weder schwarz vor den Augen noch wurde er bewußtlos, wohl aber wurde ihm dabei leicht schwindlig. Mit dem Schmerz verging auch der leichte Schwindel. Die Schmerzen bei diesen Anfällen waren nicht immer gleich stark. Sie traten auch nicht in regelmäßigen Abständen auf. Es kam vor, daß der Erstbeklagte im Monat zwei solcher Anfälle hatte, dann einen oder zwei Monate keinen mehr. Wegen der Schmerzen und der damit verbundenen Schwindelzustände war der Erstbeklagte im Jahre 1964 mehrmals bei Dr. G. in M. in ärztlicher Behandlung. Auch am Unfallstag stellten sich beim Erstbeklagten Beschwerden der beschriebenen Art ein. Er war mit dem Kraftwagen, in dem auch seine Mutter und sein Stiefvater Platz genommen hatten, gegen 7 Uhr früh von M. in Richtung I. abgefahren. Als der Erstbeklagte die Ortschaft J. passierte, spürte er plötzlich einen heftigen, schmerzhaften Stich in der rechten Bauchseite, der einige Augenblicke andauerte. Der Erstbeklagte glaubte, daß die Schmerzen auf einen zu knappen Sitz seiner Hose zurückzuführen seien. Er hielt das Fahrzeug an, stieg kurz aus und lockerte den Hosenbund. Zu diesem Zeitpunkt waren die Bauchschmerzen schon wieder vorbei. Dann fuhr der Erstbeklagte weiter. Vor der Unfallstelle hielt er eine Geschwindigkeit von 50 km/h ein. Mit dieser Geschwindigkeit geriet der Wagen, ohne zu schleudern, nach links in die Fahrbahn des entgegenkommenden Volkswagens. Die Ursache für das Abkommen des Erstbeklagten von seiner Straßenhälfte muß ein kurzfristiger Ohnmachtsanfall gewesen sein. Ein solcher Ohnmachtsanfall würde sich gut mit der Diagnose vertragen, die auf Grund der Beschwerden des Erstbeklagten zu stellen ist. Nach dem Gutachten des ärztlichen Sachverständigen litt er an einer Zwerchfellhernie. Eine solche vermag kurze, für Augenblicke andauernde Bauchschmerzen hervorzurufen. Die auftretenden Schmerzen bei einem solchen Anfall können ein Schwarzwerden vor den Augen und Schwinden des Bewußtseins zur Folge haben. In Fällen der letzterwähnten Art muß der Schmerz nicht einmal verspürt werden, denn er kann im Schwinden des Bewußtseins untergehen.

Das Erstgericht war der Ansicht, daß dem Erstbeklagten nicht ein Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit, sondern überhaupt das Weiterfahren nach dem Zwischenfall in J. als schuldhafte Handlung zur Last falle. Angesichts seiner schon ein Jahr andauernden Beschwerden hätte er damit rechnen müssen, daß bei der Weiterfahrt ein neuerlicher Anfall, allenfalls auch Schwindel oder eine Bewußtseinstrübung, auftreten könnte. Er hätte daher seine Fahrt unterbrechen müssen. Weil er diese Vorsicht unterlassen habe, müsse er für die Folgen seines Ohnmachtsanfalles aus dem Titel der Verschuldenshaftung einstehen. Aus denselben Erwägungen könne sich der Zweitbeklagte nicht auf die Haftungsbefreiung wegen eines unabwendbaren Ereignisses berufen; er hafte vielmehr gemäß § 19 (2) EKHG. für das Verschulden des Erstbeklagten.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil aus folgenden Überlegung:

Der Erstbeklagte hätte sich, solange sein ihm bekanntes Leiden bestand, von der Führung eines Kraftfahrzeuges zurückhalten müssen. Dies umsomehr bei der Unglücksfahrt, da ihn sein Kolikanfall in J. eindringlich daran erinnern mußte, daß sein Leiden noch akut war. Der Erstbeklagte könne auch nicht darauf hinweisen, er habe nicht an eine Ohnmacht gedacht, weil er noch nie ohnmächtig geworden sei, denn die Ohnmacht, die zum Unfall geführt, hatte, sei nach den Ausführungen des ärztlichen Sachverständigen genau auf der Linie des Leidens des Erstbeklagten gelegen. Damit bestehe zwischen der Nachlässigkeit des Erstbeklagten, trotz herabgesetzter physischer und psychischer Eignung ein Kraftfahrzeug zu lenken, und dem Schadenseintritt eine typischer, also adäquater Kausalzusammenhang.

Abgesehen davon würde der Zweitbeklagte als Halter auch dann haften, wenn dem Erstbeklagten kein Verschulden zur Last zu legen wäre, weil eine plötzliche Ohnmacht des Lenkers kein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 EKHG. sei.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der beklagten Partei Folge, hob die Urteile beider Untergerichte auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Die Revisionswerber machen zum Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend, daß die Schmerzen, vor denen sich der Erstbeklagte zu hüten hatte, kein so weitgehendes Übel gewesen seien, daß er eine Ohnmacht voraussehen hätte müssen. Er habe bis zu dem gegenständlichen Unfall nur gewußt, daß er gelegentlich kolikartige Bauchschmerzen bekomme, die bei gewissen Bewegungen sofort wieder nachlassen und verschwinden. Es liege also ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 EKHG. vor, zumindest aber könne man dem Erstbeklagten kein Verschulden anlasten.

Die Rechtsansicht der Untergerichte, daß eine unvorhergesehene Ohnmacht oder Bewußtseinsstörung des Lenkers kein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 (1) EKHG. darstelle, ist - wie der Oberste Gerichtshof bereits in der Entscheidung ZVR. 1959, Nr. 266, dargelegt hat - zutreffend (vgl. auch BGHZ. 23, 90 und ZVR. 1966 Nr. 87).

Den Untergerichten kann aber insofern nicht gefolgt werden, als sie dem Erstbeklagten bloß aus der Tatsache, daß er trotz seiner gelegentlichen Beschwerden überhaupt mit einem Kraftfahrzeug gefahren oder trotz der kurz vor dem Unfall aufgetretenen Bauchschmerzen wieder weitergefahren sei, einen Schuldvorwurf machen. Dies wäre nur dann möglich, wenn der Erstbeklagte auch mit dem Auftreten einer Bewußtseinsstörung rechnen hätte müssen. Dafür hat sich aber bisher kein Anhaltspunkt ergeben. Der ärztliche Sachverständige, dessen Gutachten das Erstgericht folgte, legte vielmehr dar, der plötzlich auftretende Schmerz bei einem Anfall, wie ihn der Erstbeklagte vor dem gegenständlichen Unfall hatte, beeinträchtige die Fahreigenschaft nicht in der Weise, daß man deswegen allein unfähig sei, das Fahrzeug zu lenken. Wenn ein derartiger Schmerz auftrete, werde der Fahrer sein Fahrzeug zum Stehen bringen. Daß nach dem Gutachten des Sachverständigen solche Schmerzzustände auch zu einer Ohnmacht führen können, ist eine dem Sachverständigen geläufige Überlegung, die aber nicht dem Erstbeklagten bekannt sein mußte. Nur wenn er damit rechnen mußte, daß er auch gelegentlich ohnmächtig und damit fahrunfähig werden könnte, wäre die Schlußfolgerung gerechtfertigt, daß er sich des Autofahrens überhaupt zu enthalten gehabt hätte, um andere nicht zu gefährden. Hierüber liegen aber keine Feststellungen vor, sodaß eine abschließende rechtliche Beurteilung derzeit noch nicht möglich ist.

Die Revisionswerber rügen daher mit Recht - wenn auch fälschlich unter dem Gesichtspunkte einer Mangelhaftigkeit des Verfahrens, anstatt unter dem der unrichtigen rechtlichen Beurteilung (Entscheidung SZ. XXIII 175, RiZ. 1966, S, 165) - den Feststellungsmangel und, daß nicht insbesondere auch der von ihnen als Zeuge beantragte behandelnde Arzt des Erstbeklagten, Dr. G., darüber vernommen wurde, welche Verhaltensmaßregeln er dem Erstbeklagten wegen seines Leidens gegeben habe.

Dies macht die Aufhebung der Urteile beider Unterinstanzen notwendig.

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