OGH 2Ob32/64

OGH2Ob32/6412.3.1964

SZ 37/38

Normen

Eisenbahnverkehrsordnung §85
Eisenbahnverkehrsordnung §85

 

Spruch:

Die im § 85 (7) Satz 1 EVO. normierte Vermutung tritt ein, wenn die Eisenbahn glaubhaft macht, daß nach den Umständen des Falles die Beschädigung des beförderten Gutes aus der besonderen Gefahr des § 85 (3) lit. a EVO. - Gefahr, verbunden mit der Beförderung in offenen Wagen - entstehen konnte. Daß die Eisenbahn bloß die rein theoretische Möglichkeit der Schadensentstehung aus einer der in § 85 (3) EVO. angeführten Ursachen glaubhaft macht, genügt nicht; sie muß vielmehr die praktische Möglichkeit einer derartigen Schadensentstehung dartun.

Entscheidung vom 12. März 1964, 2 Ob 32/64. I. Instanz:

Landesgericht Linz; II. Instanz: Oberlandesgericht Linz.

Text

Die St. A.G. hat am 20. März 1962 in M. bei Graz einen Waggon mit sechs Stück St. Kleinwagen 500 zur Beförderung durch die ÖBB. an die Spedition W. in Linz aufgegeben. Diese Sendung ist am 22. März 1962 beim Empfänger beschädigt eingelangt. Einer der beförderten Personenkraftwagen wies einen Bruch der Windschutzscheibe und auf der rechten Karosserieseite eine 5 cm tiefe und 20 mal 8 cm große Eindruckbeschädigung auf; die rechte Türe des PKW. war im Ausmaß von 10 mal 5 cm verbeult; in der Mitte dieser Tür war ferner über die gesamte Türbreite und darüber hinaus eine 135 cm lange und 6 cm breite Lack-Scheuerung sichtbar. Der Empfänger dieser Sendung hat alle Ansprüche aus dem Frachtvertrage gegen die Eisenbahn der klagenden Partei übertragen. Diese begehrt nun von der beklagten Partei den Ersatz des Schadens, der durch die Beschädigung des Gutes in der Zeit von der Annahme zur Beförderung bis zur Ablieferung entstanden ist, und zwar wird nach dem Stande vom Schluß der Streitverhandlung der Betrag von 8156 S samt Anhang (Kosten der Reparatur des fabriksneuen Wagens in der Höhe von 5511 S und Ersatz der Wertverminderung von 2645 S begehrt. Die beklagte Partei hat die Haftungsbefreiung nach § 85 (3) lit. a und b EVO. geltend gemacht; der Höhe nach ist der Ersatzbetrag von 8156 S nicht bestritten worden (im Rechtsmittelverfahren ist auf den Haftungsbefreiungsumstand nach § 85 (3) lit. b EVO. nicht mehr Bezug genommen worden).

Das Erstgericht hat die beklagte Partei zur Zahlung des bezeichneten Betrages von 8156 S samt Anhang an die klagende Partei verurteilt.

Der Berufung der beklagten Partei hat das Berufungsgericht Folge gegeben und in Abänderung des Ersturteils das Klagebegehren pcto. 8156 S samt Anhang abgewiesen.

Der Oberste Gerichtshof stellte das erstgerichtliche Urteil wieder her.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach § 85 (1) EVO. haftet die Eisenbahn - unter anderem für den Schaden, der durch Beschädigung des Gutes in der Zeit von der Annahme zur Beförderung bis zur Ablieferung entsteht. Gemäß § 85 (3) lit. a EVO. ist die Eisenbahn - vorbehaltlich der Bestimmungen des Abs. 7 des § 85 EVO. - von dieser Haftung befreit, wenn die Beschädigung aus der mit der Beförderung in offenen Wagen verbundenen besonderen Gefahr entstanden ist. Nach § 85 (7) Satz 1 EVO. wird, wenn die Eisenbahn glaubhaft macht, daß nach den Umständen des Falles eine Beschädigung aus der bezeichneten besonderen Gefahr entstehen konnte, vermutet, daß der Schaden hieraus entstanden ist. Schließlich bestimmt Satz 2 des § 85 (7) EVO., daß dem Berechtigten zur teilweisen oder gänzlichen Entkräftung dieser Vermutung der Nachweis obliegt, daß der Schaden nicht oder nicht ausschließlich aus den von der Eisenbahn zur Begründung der Vermutung glaubhaft gemachten Gefahren entstanden ist.

Unter diesen Beweislastverteilungsgrundsätzen muß zunächst das Prozeßvorbringen der Parteien vor dem Erstgericht geprüft werden, wenn die Voraussetzungen für die Annahme einer Beförderung des beschädigten Personenkraftwagens "im offenen Wagen" (im Sinne des § 85 (3) lit. a EVO.) - die Revisionswerberin hält ihren Standpunkt aufrecht, daß diese Voraussetzungen nicht gegeben seien - zu bejahen sind. In letzterer Hinsicht ist die Rüge der Revisionswerberin nicht gerechtfertigt, vielmehr mit beiden Vorinstanzen - diesbezüglich liegt eine übereinstimmende Beurteilung der Untergerichte vor - die Beförderung des Gutes durch die Eisenbahn im offenen Wagen anzunehmen. Der Hinweis der Revisionswerberin auf internationale Übereinkommen greift nicht durch, weil die gegebene Beförderung ausschließlich in Österreich erfolgt ist; es kommt also Absatz 1 des § 1 EVO. zur Anwendung und nicht die Vorschrift des Absatzes 2 der bezogenen Norm über den Geltungsbereich. Auch die Meinung der Klägerin, daß durch die Vereinbarung zwischen der Absenderin und den ÖBB. (über die Beförderung der Personenkraftwagen durch Spezialwaggons "JF"; vgl. die Außerstreitstellung in den Prozeßakten) die Haftungsbefreiung nach § 85 (3) lit. a EVO. beseitigt worden sei, ist abzulehnen. Daß die Vereinbarung als solche auf diese Haftungsbefreiung gelautet hätte, hat die Klägerin vor dem Erstgerichte selbst nicht behauptet. Es liegt offensichtlich ein Mißverständnis der Revisionswerberin vor. In § 85 (3) lit. a EVO. heißt es wörtlich: "Beförderung in offenen Wagen nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes (EVO.) oder des Tarifes oder nach einer in den Frachtbrief aufgenommenen Vereinbarung mit dem Absender". Nun ist zwar im vorliegenden Frachtbrief eine diesbezügliche Vereinbarung nicht ersichtlich; zutreffend hat aber die beklagte Partei schon vor dem Erstgericht auf den Tarif verwiesen, zumal in § 68 (3) EVO. normiert ist, daß die Eisenbahn im Tarif bestimme, welche Wagen als offen und welche als gedeckt gelten. In § 14b des maßgeblichen Österreichischen Eisenbahn-Gütertarifes heißt es aber: "Als gedeckt gelten alle Wagen mit wasserdichter Bauart und mit Vorrichtungen zum Anbringen von Vorhängeschlössern und Plomben zur Sicherung der beförderten Güter (z. B. Wagen ... mit dem Hauptgattungszeichen ... sowie Kesselwagen, Topfwagen und Milchtankwagen); alle anderen Wagen gelten als offen". Bei diesen Umständen sind die Vorinstanzen zutreffend von einer Beförderung des Gutes im offenen Wagen ausgegangen.

Gegenüber dem Schadenersatzbegehren der klagenden Partei hat die beklagte Partei vor dem Erstgericht zur Anwendung des § 85 (3) lit. a und (7) EVO. zunächst vorgebracht, daß die Beschädigung auf der Strecke zwischen G. und S. erfolgt sei; es werde die Haftungsbefreiung des § 85 (3) lit. a EVO. geltend gemacht. Dann hat die klagende Partei wörtlich ausgeführt: "Zweifelsohne konnte die ... Beschädigung durch einen Steinschlag, Steinwurf eines Dritten, durch Aufprallen eines vom Wind gebrochenen und getragenen Astes oder Astteiles, durch Anstreifen an die Wand einer Bahnunterführung, durch Herabfallen von Mauerwerk entstanden sein; selbst Einwirkungen des Bahnbetriebes, wie z. B. Herabfallen einzelner Sendungsstücke von einem offenen Wagen eines am Nachbargleis vorbeifahrenden Zuges oder die Lockerung einer Ladung infolge der Beförderungserschütterung und ihr auf der Strecke eingetretenes Herausragen aus dem Lademaß, auf welche Umstände die Klägerin ... selbst verweist, obwohl für solche keine Hinweise vorhanden sind, konnten die Beschädigung verursacht haben ...". In der Streitverhandlung hat die beklagte Partei zu dieser Frage noch vorgebracht, daß der Schaden auf dem Transport zwischen G. und S. auf Grund der besonderen Gefahren entstanden sei, die beim Transport mit offenen Wagen gegeben seien.

Die in § 85 (7) Satz 1 EVO. normierte Vermutung hat die Glaubhaftmachung seitens der Eisenbahn zur Voraussetzung, daß nach den Umständen des Falles die Beschädigung aus der besonderen Gefahr des § 85 (3) lit. a EVO. entstehen konnte. Eine Vermutung dahin, daß eine Beförderung im offenen Wagen ohne weiteres eine Gefahr für das beförderte Gut bedeutet, besteht nicht; vielmehr muß die Eisenbahn, wenn auch nur mit den an einen prima facie-Beweis zu stellenden Anforderungen, das Vorhandensein einer sich aus dem Tatbestande des § 85 (3) lit. a EVO. ergebenden besonderen Beförderungsgefahr beweisen (vgl. bei wesentlich gleichen Rechtsgrundlagen Finger, Eisenbahn-Verkehrsordnung, 3. Auflage, S. 466 f., sowie die Entscheidungen des Reichsgerichtes vom 29. Mai 1937, I 236/36, RGZ. 155, S. 193 ff., und des Bundesgerichtshofes vom 16. Dezember 1955, I ZR. 65/54, BGHZ. 19, S. 276 ff.). Es genügt nicht, daß die Eisenbahn bloß die rein theoretische Möglichkeit der Schadensentstehung aus einer der in § 85 (3) EVO. angeführten Ursachen glaubhaft macht, sie muß vielmehr die praktische Möglichkeit einer derartigen Schadensentstehung dartun (vgl. Finger, a. a. O., S. 467). Wird bei der Beurteilung diese Rechtslage berücksichtigt, dann muß dem Schadenersatzbegehren der Klägerin gemäß § 85 (1) EVO. schon deswegen Erfolg beschieden sein, weil die beklagte Partei jedwede konkrete Glaubhaftmachung im Sinne des § 85

(7) Satz 1 EVO. unterlassen hat. Soweit sie nämlich nicht überhaupt nur ganz allgemein auf besondere Beförderungsgefahren nach § 85 (3) lit. a EVO. verwiesen hat (vgl. die obige Darstellung über das Prozeßvorbringen der beklagten Partei in erster Instanz), hat sie wahllos und unsubstanziiert auf verschiedene, einander zum Teil ausschließende Gefahren verwiesen und - in Verkennung der ihr obliegenden Glaubhaftmachung im bezogenen Sinne - sogar vorgebracht, daß für gewisse Gefahren "keine Hinweise vorhanden seien". Schon nach diesem Prozeßvorbringen der beklagten Partei vor dem Erstgerichte ist die - allerdings gegen die klagende Partei gerichtete - Vermutung nicht eingetreten. Abgesehen davon, konnte nach den - im Berufungsverfahren nicht bekämpften - Sachverhaltsfeststellungen der ersten Instanz von einer der Eisenbahn gelungenen Glaubhaftmachung als der Grundlage der die Klägerin treffenden Vermutung des § 85 (7) Satz 1 EVO. nicht die Rede sein.

Schon aus diesen Erwägungen erweist sich die Revision der klagenden Partei als gerechtfertigt; die Erörterung des weiteren Revisionsvorbringens war entbehrlich.

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