Spruch:
Auf verkehrsreichen Straßen dürfen Hunde nicht ohne Aufsicht gelassen werden.
Entscheidung vom 30. März 1955, 3 Ob 147/55.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:
Oberlandesgericht Graz.
Text
Die Klägerin kam bei einer Fahrt mit ihrem Fahrrad durch die B.- Gasse in G. am 18. Mai 1953 dadurch zum Sturz, daß ihr der dem Erstbeklagten gehörige Hund in das Vorderrad sprang. Für die dadurch erlittenen Verletzungen begehrt sie vom Erstbeklagten als Eigentümer und Halter des Hundes und von der Zweitbeklagten, der der Hund zur Verwahrung anvertraut war, Schadenersatz. Die Beklagten wendeten ein, daß der Hund vorschriftsmäßig mit einem Beißkorb versehen war, von der Zweitbeklagten zur Unfallszeit begleitet und beaufsichtigt wurde und plötzlich und unvermutet auf die Fahrbahn gelaufen war. Es habe sich um ein gutmütiges Tier gehandelt, mit dem noch nie ein Anstand bestanden hatte. Die Zweitbeklagte sei im Umgang, mit Hunden vollkommen vertraut gewesen.
Das Erstgericht hat mit Zwischenurteil das Klagebegehren als dem Gründe nach zu Recht bestehend erkannt. Nach den Feststellungen war der Hund zur Zeit des Unfalles ohne Aufsicht, weil sich die Zweitbeklagte im Geschäft H. befand und den Hund vor der Geschäftstür gelassen hatte. Das Erstgericht hält dies für eine ungenügende Verwahrung. Gerade dieser Hund wäre, weil er noch jung (etwa ein Jahr alt), ungestüm und tolpatschig war und in Abrichtung stand, besonders streng zu beaufsichtigen gewesen. Es sei für die Zweitbeklagte voraussehbar gewesen, daß der Hund in einer ziemlich frequentierten Straße im Stadtgebiet unvorhergesehen vom Gehsteig springen und einen Verkehrsunfall verursachen konnte, und zwar sogar dann, wenn sie ihn ohne Leine neben sich führte. Über die Haftung des Erstbeklagten als Eigentümers des Hundes äußerte sich das Erstgericht nicht weiter, nahm sie aber, wie sich aus dem Urteilsspruch ergibt, als gegeben an.
Das Berufungsgericht hob das Urteil unter Rechtskraftvorbehalt auf und wies die Sache an das Erstgericht zurück. Es ging davon aus, daß nach herrschender Rechtsprechung vom Tierhalter nur die nach den Umständen gebotenen Vorkehrungen getroffen werden müßten und die Verpflichtung hiezu nicht so weit gehe, daß dadurch jede Möglichkeit, einer Beschädigung ausgeschlossen wird. Das Berufungsgericht hielt daher zunächst die Feststellung für entscheidend, ob der Hund allein und unbeaufsichtigt auf der Straße war oder mit der Zweitbeklagten auf der Straße ging, wie es von dieser behauptet worden war. In dieser Richtung hatte das Berufungsgericht Bedenken gegen die erstrichterliche Beweiswürdigung, aus welchem Gründe zur Aufklärung der Widersprüche und zur Vernehmung des Zeugen Friedrich H. das Urteil aufgehoben und dem Erstgericht neuerliche Feststellungen aufgetragen wurden. Das Berufungsgericht sprach dabei die bindende Rechtsansicht aus, daß die Zweitbeklagte eine Haftung treffe, wenn sie den Hund allein und unbeaufsichtigt ließ, weil nur sehr gut abgerichtete Munde ohne Leine auf längere Zeit "Platz behalten" und nicht unruhig werden. Wenn die Zweitbeklagte aber bei dem Hund gewesen wäre, als der Unfall vor sich ging, wäre zu prüfen, wie sich der Hund sonst im Straßenverkehr verhalten hat, ob er gewohnt war, neben der Zweitbeklagten auf dem Gehsteig zu laufen, weil im Stadtverkehr das Führen des Hundes ohne Leine nur dann am Platze sei, wenn der Hund "bei Fuß" geht und nicht nach allen Richtungen frei herumläuft. Die Haftung des Erstbeklagten könne aber überhaupt nur angenommen werden, wenn er sich bei Überlassung des Hundes an die Zweitbeklagte einer Nachlässigkeit schuldig gemacht hätte, weil sich seine Haftung nur nach § 1315 ABGB. richten könne. Der Erstbeklagte hätte daher zu beweisen, daß die Zweitbeklagte zur Beaufsichtigung des Hundes nicht ungeeignet war.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der beiden Beklagten Folge und trug dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Der Oberste Gerichtshof tritt zunächst der Ansicht des Berufungsgerichtes bei, daß für den Fall, als der Hund ohne Aufsicht allein auf der Straße gelassen worden ist, eine Haftung der Zweitbeklagten angenommen werden muß. Auf verkehrsreichen Straßen dürfen Hunde nicht ohne Aufsicht gelassen werden, weil sie die Sicherheit des Verkehrs gefährden (RG. 30. Jänner 1933, JW. 1933 S. 832). Folgt man den Feststellungen des Erstgerichtes, daß der Hund zur Zeit des Unfalls herrenlos und ohne Aufsicht war, so Ware die Sache hinsichtlich der Haftung der Zweitbeklagten spruchreif. Das Berufungsgericht äußerte aber Bedenken gegen die Beweiswürdigung des Erstgerichtes und lehnt es ab, sie zu übernehmen. In diesem Falle hat das Berufungsgericht aber die vom Erstgericht aufgenommenen Beweise selbst zu wieder holen, weil die Aufhebung insofern zu keinem Ergebnis führen kann, als es das Erstgericht ausdrücklich ablehnte, der Parteiaussage der Zweitbeklagten Glauben zu schenken, und nur den Aussagen der Unfallzeugen R. und W. folgte. Das Berufungsgericht muß sich daher selbst den unmittelbaren Eindruck der Glaubwürdigkeit dieser Zeugen und der Zweitbeklagten als Partei verschaffen, wenn es der Beweiswürdigung des Erstgerichtes nicht zu folgen vermag. Eine Aufhebung des erstrichterlichen Urteils aus diesem Gründe konnte nicht erfolgen. Sie konnte auch nicht dadurch gerechtfertigt werden, daß das Erstgericht den vom Eugen H. genannten Unfallszeugen Friedrich H. nicht vernommen hat. Dieser Zeuge wurde von den Streitteilen nicht geführt. Wenn die dem Gericht zustehende Prozeßleitungsbefugnis auch so weit gegangen wäre, daß die Vernehmung dieses Zeugen, wenn die Parteien dagegen nicht Widerspruch erhoben hätten, hätte veranlaßt werden können, so kann in der Unterlassung der Zeugenvernehmung doch keine Mangelhaftigkeit des Verfahrens erblickt werden, die zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils führen könnte.
Das Berufungsgericht wird daher zunächst nach Beweiswiederholung die notwendigen Feststellungen selbst zu treffen haben. Sollte es dabei abweichend vom Erstgericht zur Ansicht kommen, daß der Hund von der Zweitbeklagten zur Unfallszeit begleitet worden ist und nicht allein auf der Straße war, dann wird weiter festzustellen sein, ob der Hund gewohnt war, mit der Zweitbeklagten auf der Straße auch ohne Leine zu gehen, wie er sich dabei regelmäßig verhielt, ob er ihr gehorchte und sie in der Lage war, auf ihn entsprechend einzuwirken. Es kann der Ansicht des Berufungsgerichtes nicht gefolgt werden, daß ein Hund auf jeden Fall an der Leine zu führen ist, wenn er nicht darauf abgerichtet ist, bei Fuß zu gehen. Die wenigsten Hunde haben eine solche Abrichtung mitgemacht. Sie sind aber bei entsprechender Gewöhnung an den Verkehr soweit erzogen, daß sie von ihm nicht nervös gemacht werden, den Gehsteig nicht unnötig verlassen und einem entsprechenden Zuruf ihres Herrn Folge leisten. Ein solches Verhalten des Hundes muß im allgemeinen als genügend angesehen werden.
Was die Haftung des Erstbeklagten betrifft, der unbestritten als Eigentümer und Halter des Hundes anzusehen ist, folgt der Oberste Gerichtshof der Ansicht des Berufungsgerichtes, daß er nur nach der Bestimmung des § 1315 ABGB. in Anspruch genommen werden kann, wenn er die Aufsicht über den Hund an eine dritte Person übertragen hat. Eine Haftung nach § 1313a ABGB. kommt in Fällen allgemeiner Schadenshaftung nach § 1320 ABGB. nicht in Betracht (vgl. JB. 50 neu sowie 1 Ob 857/52 und 1 Ob 3/55). Es muß daher dem Erstbeklagten eingeräumt werden, zu beweisen, daß er seine Beaufsichtigungspflicht dadurch nicht verletzte, daß er den Hund der Zweitbeklagten zur Verwahrung übergeben hat. Er hatte bereits in der Klagebeantwortung unter Beweis gestellt, daß die Zweitbeklagte schon zehn Jahre lang einen Boxer gehalten hatte, mit den Eigenarten des Rundes vollkommen vertraut war und damit Unzukömmlichkeiten schon von vornherein so weit als möglich ausgeschaltet worden seien. Darüber fehlen die notwendigen Feststellungen. Die Feststellungsmängel werden sich aber anläßlich der Beweiswiederholung ohne Schwierigkeit beheben lassen.
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