Spruch:
Besitzer im Sinne des § 1319 ABGB. ist derjenige, der in der Lage ist, die Gefahr eines Schadens durch Einsturz oder Ablösung von Teilen eines Bauwerkes rechtzeitig abzuwenden und hiezu auch durch eine Beziehung zu dem Bauwerk verpflichtet ist.
Mangels einer Einantwortung tritt ein erbrechtlicher Erwerb nicht ein; wohl aber können beim Unterbleiben einer Abhandlung die zur Erbschaft Berufenen in eine Art Besitzverhältnis zu den Nachlaßgegenständen gelangen.
Entscheidung vom 17. Feber 1954, 3 Ob 83/54.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:
Oberlandesgericht Wien.
Text
Auf dem Dornbacher Friedhof in Wien ist im September 1951 auf das dem Kläger gehörige Grabmal der Grabstein einer Nachbargrabstelle gefallen. Der Kläger macht die beiden Beklagten für den an seinem Grabmal angerichteten Schaden verantwortlich und begehrt, sie als Benützer der benachbarten Grabstelle zur ungeteilten Hand zur Zahlung des Ersatzbetrages in der Höhe von 7110.80 S zu verurteilen. Die benachbarte Grabstelle samt dem dazugehörigen Grabstein habe die Mutter der beiden Beklagten von dem ursprünglich Benützungsberechtigten gekauft.
Die Verlassenschaft nach der Mutter der Beklagten wurde mangels eines Nachlaßvermögens nicht abgehandelt.
Das Erstgericht hat das Klagebegehren abgewiesen, weil die Mutter der Beklagten nach der Begräbnis- und Gräberordnung für die Friedhöfe der Stadt Wien das Benützungsrecht an der Grabstelle nicht rechtsgeschäftlich habe erwerben können.
Das Berufungsgericht hat das Ersturteil aufgehoben und hat die Rechtssache unter Rechtskraftvorbehalt an das Erstgericht zurückverwiesen.
Der Oberste Gerichtshof hat den gegen den Aufhebungsbeschluß des Berufungsgerichtes gerichteten Rekursen der beiden Beklagten nicht Folge gegeben.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Der Oberste Gerichtshof teilt die Auffassung des Berufungsgerichtes, daß das Benützungsrecht an einer Grabstelle und das Recht sowie der Besitz an dem zugehörigen Grabstein nicht zusammenzufallen brauchen. Dies ergibt sich auch aus § 22 der Begräbnis- und Gräberordnung, woraus mit aller Deutlichkeit hervorgeht, daß der Benützungsberechtigte nicht Eigentümer des Grabsteins zu sein braucht, der Grabstein vielmehr im Eigentum eines anderen als des Benützungsberechtigten stehen kann.
Der Meinung der Beklagten, daß sie mangels einer Einantwortung ohne Verletzung der Vorschrift des § 797 ABGB. gar nicht den Besitz am Grabstein hätten erlangen können, falls diesen Grabstein ihre Mutter bei Lebzeiten erworben hätte, kann nicht gefolgt werden. Mangels einer Einantwortung könnte allerdings kein erbrechtlicher Erwerb durch die Beklagten angenommen werden. Wohl aber können die zur Erbschaft Berufenen, wenn eine Abhandlung unterbleibt, in eine Art Besitzverhältnis zu den Nachlaßgegenständen kommen. Dieser Besitznahme würde auch, weil eben die Abhandlung unterbleibt, § 797 ABGB. nicht im Wege stehen (vgl. erläuternde Bemerkungen zum Gesetz BGBl. 636/1923; Prey - Antoni "Verfahren außer Streitsachen" S. 458/459). Die Beklagten irren auch bei der Auslegung des Begriffes "Besitz" in § 1319 ABGB. Der Oberste Gerichtshof hat in den Entscheidungen SZ. XIV/251 und SZ. XVII/121 ausgesprochen, daß das Wort "Besitzer" in § 1319 nicht im Sinne des § 309 ABGB. zu verstehen sei. Im Sinne des § 1319 ist nach diesen Entscheidungen Besitzer derjenige, der in der Lage war, durch die erforderlichen Vorkehrungen die Gefahr rechtzeitig abzuwenden und, das muß erganzend beigefügt werden, hiezu auch durch eine Beziehung zu dem Gebäude oder Werk verpflichtet war.
Ob diese Voraussetzungen bei den Beklagten gegeben sind, muß geprüft werden und deshalb ist die Aufhebung des Ersturteils am Platze. Dabei wird insbesondere in Betracht kommen, ob die Beklagten schon vor dem Schadensfall wegen Restaurierung des Grabsteines Schritte unternommen haben; dagegen werden reine Akte der Pietät, wie Anzunden eines Grablichtes, Ausschmückung des Grabes und dergleichen nicht als zur Herstellung eines Besitzverhältnisses hinreichend angesehen werden können.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)