Spruch:
Im judicium rescissorium ist das wiederaufgenommene Verfahren völlig neu durchzuführen. Auf die Beweisergebnisse des Vorprozesses ist nicht Bedacht zu nehmen. Weder sind die Parteien an ihr Vorbringen im Vorprozeß, noch das Gericht an die früheren Beweisergebnisse gebunden.
Entscheidung vom 18. Juli 1951, 1 Ob 516/51.
I. Instanz: Bezirksgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:
Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz.
Text
Die Wiederaufnahmsbeklagten haben die Wiederaufnahmskläger im Vorprozeß 7 C ./47 des Bezirksgerichtes für Zivilrechtssachen G. auf Herausgabe einer Badezimmereinrichtung geklagt. Der Klage wurde rechtskräftig stattgegeben. Die Wiederaufnahmskläger behaupten nun, ein neues Beweismittel aufgefunden zu haben, nämlich die Zeugenaussage ihrer gemeinsamen Verwandten, Frau Helene Z., die bestätigen könne, daß der verstorbene Erstbeklagte ihr mitgeteilt habe, daß er die Badezimmereinrichtung den Wiederaufnahmsklägern ausgefolgt habe, woraus gefolgert werden müsse, daß die Feststellung im Vorprozeß, der Erstbeklagte habe die Anordnung der Ausfolgung der Badezimmereinrichtung in einem Zustand geistiger Unzurechnungsfähigkeit unterschrieben, unrichtig sei.
Das Erstgericht hat das Klagebegehren, die Wiederaufnahme des Verfahrens 7 C ./47 zu bewilligen, abgewiesen, im wesentlichen mit der Begründung, daß die Aussage der Zeugin Helene Z. nicht geeignet sei, die Beweisergebnisse im Vorprozeß zu erschüttern.
Das Berufungsgericht hat dieses Urteil mit der Maßgabe bestätigt, daß es zu lauten habe, "die Wiederaufnahme des Verfahrens in der Rechtssache 7 C./47 werde bewilligt"; die Beklagten wurden jedoch neuerlich zur Herausgabe der Badezimmereinrichtung verurteilt.
Aus der Begründung des angefochtenen Urteils ergebe sich, daß der Erstrichter den von den Klägern geltend gemachten Wiederaufnahmegrund, nämlich das Wissen der Zeugin Helene Z., als geeignetes Beweismittel angesehen habe, um abstrakt die Möglichheit für eine Änderung der Entscheidung zugunsten der Kläger zu bilden. Es ergebe sich aber gleichzeitig aus den Urteilsgrunden, daß der Erstrichter die Durchschlagskraft der Aussage dieser Zeugin im Zusammenhalte mit den übrigen Beweisergebnissen nicht als hinreichend angesehen habe, um zu einer andern als der ursprünglichen Entscheidung zu gelangen. Der Erstrichter habe daher, wie sich deutlich erkennen lasse, mit dem vorliegenden Urteil nicht nur über den Grund und die Zulässigkeit der Wiederaufnahmsklage (§ 541 Abs. 1 ZPO.) entschieden, sondern auch, ohne dies allerdings durch einen besonderen Beschluß anzuordnen, die Verhandlung zur Hauptsache durchgeführt und darüber erkannt (§ 542 Abs. 1 ZPO.). Der Erstrichter habe in Wirklichkeit die Wiederaufnahmsklage der klagenden Parteien bewilligen und ein neues Urteil in der Hauptsache fällen wollen, durch welches nach Außerkraftsetzung des früheren Urteils durch die Bewilligung allerdings dem Klagebegehren neuerlich in der Hauptsache stattgegeben werde. Der Erstrichter habe offenbar die für die Bewilligung der Wiederaufnahme erforderliche Möglichkeit einer günstigen Entscheidung für die Wiederaufnahmsklage durch das neu geltend gemachte Beweismittel bejaht. Er habe sich aber in dem Urteil nicht nur mit der Erledigung dieser Frage begnügt, sondern auch gleichzeitig die Würdigung dieser Aussage in Verbindung mit den anderen Beweismitteln vorgenommen und darüber entschieden, ob durch diese neuen Beweismittel die Feststellungen, auf welche sich das Urteil im Hauptprozeß grundet, erschüttert worden sind. Bei dieser Sachlage sei er zu dem Ergebnis gekommen, daß "das Urteil in der Hauptsache der Sach- und Rechtslage auch unter Anwendung des als Wiederaufnahmegrund geltend gemachten neuen Beweismittels, der Aussage der Zeugin Helene Z. gestützt sei".
Das Berufungsgericht habe nun das angefochtene Urteil nicht nur nach dem Wortlaut des Spruches, sondern auch so zu behandeln, wie es tatsächlich gemeint gewesen sei und wie der Spruch nach der Richtigstellung durch das Berufungsgericht zu lauten habe. Die Bewilligung der Wiederaufnahme des Verfahrens durch das Berufungsgericht komme daher nicht als neu in Frage, weil, diese nach dem Gesagten schon vom Erstrichter gewollt oder praktisch vorgenommen worden sei. Es sei vielmehr zu prüfen, ob das Urteil, soweit es sich mit der Hauptsache beschäftigte (judicium rescissorium) fehlerfrei sei. Soweit sich die Berufung nur gegen die Beweiswürdigung des Erstrichters wende, sei zu sagen, daß Bedenken gegen die Beweiswürdigung des Erstrichters und die daraus gezogenen Feststellungen nach der Aktenlage nicht gegeben seien, weshalb auch das Berufungsgericht die vom Erstrichter gemachten tatsächlichen Feststellungen übernahm. Aber auch die Rechtsrüge gehe fehl. Der Erstrichter habe mit Recht angenommen, daß eine Änderung des Urteils im Hauptverfahren durch die Aussage der Zeugin Helene Z. nicht herbeigeführt worden sei und daß die Voraussetzungen, auf welche das Urteil, dessen Abänderung nach erfolgter Wiederaufnahme verlangt werde, sich stütze, nicht erschüttert erscheinen. Es sei nach wie vor von den Klägern nicht bewiesen, daß ihnen ein Recht an der streitgegenständlichen Badezimmereinrichtung überhaupt zustehe.
Der Oberste Gerichtshof hob das Berufungsurteil auf.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Die Mängelrüge ist begrundet. Das Berufungsgericht verkennt die Bedeutung und Aufgaben des sogenannten judicium rescissorium und gelangt daher zu einer verfehlten Beurteilung der vorliegenden erstrichterlichen Entscheidung. Die Aufgabe des judicium rescissorium besteht nicht in der Entscheidung, ob, wie das Berufungsgericht irrig annimmt, durch das neue Beweismittel die Feststellungen, auf die sich das Vorurteil grundet, erschüttert worden sind. Das ist Aufgabe des judicium rescindens; ist einmal die Wiederaufnahme bewilligt, so ist damit das Vorurteil überhaupt beseitigt und ist daher vollkommen neu zu verhandeln. Es ist daher auch nicht auf die Beweisergebnisse des Vorprozesses Bedacht zu nehmen, vielmehr sind die Beweise neu durchzuführen, wobei weder die Parteien an ihr Vorbringen im Vorprozeß noch das Gericht an seine Beweisbeschlüsse gebunden ist. Die Benützung im Vorprozeß aufgenommener Beweise wäre eine Verletzung des Unmittelbarkeitsprinzips.
Wird die erstrichterliche Entscheidung von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, so ergibt sich, daß es unrichtig ist, wenn das Berufungsgericht annimmt, das Erstgericht habe die Wiederaufnahme bereits bewilligt, aber das Begehren neuerdings abgewiesen. Das Erstgericht hat vielmehr das Wiederaufnahmebegehren (judicium rescindens) abgewiesen, weil der neu vorgebrachte Beweis nicht geeignet sei, eine andere Entscheidung herbeizuführen. Das Erstgericht würdigt von dieser Auffassung aus die Aussage Helene Z., erklärt sie für unglaubwürdig und nicht geeignet, die Beweiskraft der vorliegenden Beweise zu erschüttern, insbesondere könne sie das Verhalten des Johann K. in keiner Weise beeinträchtigen.
Ob diese Entscheidung richtig war, hat der Oberste Gerichtshof in diesem Stadium nicht zu untersuchen, insbesondere muß er derzeit die Frage offen lassen, ob im judicium rescindens bereits die abstrakte Möglichkeit, eine andere Entscheidung herbeizuführen, genügt, oder ob in diesem Stadium das neu hervorgekommene Beweismittel bereits konkret im Zusammenhang mit den übrigen Beweisergebnissen im Vorprozesse zu würdigen ist, wie es das Erstgericht getan hat. Das mag richtig sein oder nicht; jedenfalls ist das Erstgericht über den Rahmen, ob die Wiederaufnahme zu bewilligen ist oder nicht, nicht hinausgegangen. Das Berufungsgericht hat daher die bestehenden Verfahrensgrundsätze verletzt, wenn es, statt die Richtigkeit des Ausspruches des Erstgerichtes zu überprüfen, davon ausgegangen ist, daß die Wiederaufnahme bewilligt sei, und sich in eine meritorische Überprüfung des Urteils im Vorprozeß eingelassen hat in der irrigen Meinung, das sei die Aufgabe des judicium rescissorium.
Es mußte demnach der Revision Folge gegeben und der Ausspruch in der Hauptsache als gesetzwidrig aufgehoben werden; es war aber auch die angebliche Bestätigung der Bewilligung der Wiederaufnahme aufzuheben, weil es unrichtig ist, daß das Erstgericht bereits in diesem Sinne entschieden hat, und weil das Berufungsgericht verpflichtet gewesen wäre, zunächst die Richtigkeit der erstrichterlichen Entscheidung zu überprüfen, was es bisher, von einer unrichtigen Rechtsauffassung ausgehend, unterlassen hat. Würde der Oberste Gerichtshof diesen Ausspruch bestehen lassen, so kämen die Berufungsgegner um das Revisionsrecht, weil sie mit Rücksicht auf die Abweisung des Begehrens in der Hauptsache keine Veranlassung hatten, den angeblich bestätigenden Punkt 1 des berufungsgerichtlichen Urteils anzufechten.
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