OGH 2Ob147/51

OGH2Ob147/517.3.1951

SZ 24/67

Normen

ABGB §1294
ABGB §1304
ABGB §1311
Kraftfahrzeugverkehrsgesetz §7
ABGB §1294
ABGB §1304
ABGB §1311
Kraftfahrzeugverkehrsgesetz §7

 

Spruch:

Über den Begriff der Schrecksekunde.

Entscheidung vom 7. März 1951, 2 Ob 147/51.

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:

Oberlandesgericht Graz.

Text

Der Zweitbeklagte, der einen dem Erstbeklagten gehörigen Lastkraftwagen lenkte, überholte den von Josef W. gelenkten Lastkraftwagen des Klägers so unvorsichtig, daß dieser Wagen in den Straßengraben geriet und beschädigt wurde. Der Zweitbeklagte wurde deshalb rechtskräftig der Übertretung des § 431 StG. schuldig erkannt. Der Kläger begehrte die solidarische Verurteilung der Beklagten zum Ersatz seines Schadens.

Das Prozeßgericht erkannte, daß der Klagsanspruch dem Gründe nach zu Recht bestehe.

Das Berufungsgericht bestätigte das erstgerichtliche Urteil.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Untergerichte sind mit dem Sachverständigen übereinstimmend der Meinung, daß hier von einem (Mit-)Verschulden des Chauffeurs W. nicht gesprochen werden könne, weil sowohl der Anprall wie das Verreißen der Lenkung und der Absturz nach den aus den Beweisergebnissen gewonnenen tatsächlichen Feststellungen noch innerhalb der Schrecksekunde in unmittelbarer Aufeinanderfolge sich ereigneten, und daß einem Durchschnittsfahrer, der nicht über besondere Kaltblütigkeit verfügt, eine solche Reflex- und Ausweichbewegung innerhalb der Schrecksekunde als normales Verhalten gegenüber der vom Zweitbeklagten verursachten außergewöhnlichen Gefahrenlage, demnach nicht als Verschulden, zuzurechnen sei.

Die dem Gesetz nicht bekannten, von Wissenschaft und Lehre entwickelten Begriffe "Schrecksekunde", bzw. "Reaktionszeit" sind dahin zu verstehen, daß unter Schrecksekunde jene Zeit zu verstehen ist, innerhalb der der normale Mensch vor Schreck gehindert ist, einen der Verkehrslage entsprechenden Entschluß zu fassen. Reaktionszeit dagegen ist der Zeitraum zwischen dem Erfassen einer Verkehrslage und der Ausführung der ihr entsprechenden Maßnahmen, also Erfordernis eines gewissen Zeitaufwandes zur Verarbeitung des sich bietenden Bildes im Gehirn, Erzeugung und Betätigung eines Entschlusses und Handhabung der Fahrzeugvorrichtungen. Zu Unrecht behauptet die Revision, dem Chauffeur dürfe keine Schrecksekunde zugebilligt werden, weil er besondere Vorsicht in der gegebenen Situation hätte anwenden und den Volant nicht verreißen dürfen, sondern festhalten müssen, bis die Gefahr vorüber war. Damit werden, wie schon die Untergerichte feststellten, ganz unbillige Anforderungen an ihn gestellt. An sich setzt der Begriff der Schrecksekunde Schreckwirkung und das Erkennen einer konkreten Gefahr voraus, die einen Schreck auslöst (VAE. 1937, S. 338, VAE. 1939, S. 377, VAE. 1944, S. 12). Beide Voraussetzungen sind von den Untergerichten festgestellt worden und lagen in dem durch den plötzlichen, unvorhergesehenen und unvorhersehbaren, durch die Verletzung fahrtechnischer Vorschriften durch den Zweitbeklagten verursachten Anprall und dem Erfassen der Gefahr, die erst während des Anpralles erkennbar wurde, und im Zusammenstoß des Vorderteils des Anhängers mit dem klägerischen LKW. in Erscheinung trat, ohne daß ihr ganzer Umfang sogleich hätte überblickt werden können. Nur dort wird die Schrecksekunde nicht zuzubilligen sein, wo der Betroffene auf die Verkehrslage gefaßt sei mußte (VAE. 1936, S. 151, 1937, S. 527, 1939, S. 80, 1944, S. 12 u. a. m.) oder wenn er im Hinblick auf die Verkehrslage in der Nähe seiner Fahrbahn zu angespannter Aufmerksamkeit verpflichtet war. Die Beklagten haben wohl versucht, dem klägerischen Chauffeur anzulasten, daß er auf solche Gefahren hätte gefaßt sein müssen, und sie halten trotz der eingehenden Widerlegung dieser Meinung durch das Berufungsgericht sogar noch in der Revision daran fest, daß W. seine Geschwindigkeit hätte mäßigen und die Bremse in Bereitschaft halten müssen, während das freilich ganz abwegige Argument, er hätte sich mehr nach links zur Straßenmitte halten sollen, das vom Berufungsgericht mit Recht als geradezu mutwillig bezeichnet worden ist (§ 13 StPolG.), nicht mehr aufrechterhalten wird. Allein diese Ausführungen sind völlig verfehlt, weil denjenigen, der von einem in gleicher Richtung fahrenden Fahrzeug überholt wird, nur die Pflicht trifft, nicht etwa seinerseits die Geschwindigkeit zu erhöhen, sondern das Überholen durch Abschwenken gegen den rechten Straßenrand möglich zu machen. Er ist weder verhalten, stehen zu bleiben oder seine Geschwindigkeit zu mäßigen noch die Bremse bereit zu halten, nicht nur weil das Straßenpolizeigesetz dies nicht fordert, sondern auch weil er damit rechnen darf, daß das Überholen ordnungsgemäß und unter Beobachtung der Bestimmungen der §§ 16, 7, 9 StPolG. werde ausgeführt werden. Der überholte Chauffeur konnte nicht vorhersehen, daß der Zweitbeklagte entgegen § 16 Abs. 3 zu früh nach rechts einbiegen und damit den Zusammenstoß verursachen werde.

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