OGH 2Ob270/49

OGH2Ob270/496.7.1949

SZ 22/103

Normen

Kraftfahrzeugverkehrsgesetz §7
Reichshaftpflichtgesetz §1
Sachschadenhaftpflichtgesetz vom 29. April 1940. DRGBl. I S. 691 §2
Kraftfahrzeugverkehrsgesetz §7
Reichshaftpflichtgesetz §1
Sachschadenhaftpflichtgesetz vom 29. April 1940. DRGBl. I S. 691 §2

 

Spruch:

Zur Frage der höheren Gewalt im Sinne der Haftpflichtgesetze.

Entscheidung vom 6. Juli 1949, 2 Ob 270/49.

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:

Oberlandesgericht Wien.

Text

Ein die Straße überquerender Passant wurde von einem vorüberfahrenden Personenkraftwagen bedrängt und fast gestreift, so daß er gezwungen war, schnell auf das Geleise der Straßenbahn auszuweichen, wenn er nicht niedergeführt werden wollte. Auf dem Geleise der Straßenbahn näherte sich im selben Zeitpunkte ein Straßenbahnzug, der nicht mehr vor dem Kläger zum Halten gebracht werden konnte, so daß der Kläger überfahren und verletzt wurde.

Das Erstgericht hatte dem Kläger gegenüber der Straßenbahnunternehmung den Ersatz des begehrten Schadens zugesprochen. Das Berufungsgericht hatte das Klagebegehren mit der Begründung abgewiesen, daß bei dem gegebenen Tatbestand von höherer Gewalt gesprochen werden müsse.

Der Oberste Gerichtshof hat der Revision des Klägers Folge gegeben und das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach § 1 des Reichshaftpflichtgesetzes haftet die beklagte Partei für den durch den Unfall entstandenen Schaden, sofern sie nicht beweist, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eigenes Verschulden des Klägers verursacht worden ist.

Zur Frage des von der beklagten Straßenbahn behaupteten Verschuldens des Klägers hat der Erstrichter festgestellt, daß der Kläger von einem vorüberfahrenden Auto bedrängt und fast gestreift worden ist und daß er daher auf das Geleise der Straßenbahn ausgewichen ist, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Die Untergerichte haben übereinstimmend ein Verschulden des Klägers verneint. Hierin kann eine unrichtige rechtliche Beurteilung nicht erblickt werden.

Dagegen pflichtet der Oberste Gerichtshof dem Berufungsgericht nicht bei, insofern es in dem gegebenen Sachverhalt eine höhere Gewalt erblickt. Der Begriff der höheren Gewalt ist in Lehre und Rechtsprechung sehr bestritten. Bei Auslegung des Begriffes der höheren Gewalt darf jedoch nicht übersehen werden, daß die besonderen Haftpflichtgesetze - demnach auch das Reichshaftpflichtgesetz - dafür sorgen wollen, daß die aus dem Betrieb eines trotz seiner Gefährlichkeit gestatteten Unternehmens entstehenden Schäden ersetzt werden. Die Tendenz der Haftpflichtgesetze spricht daher gegen eine weite Auslegung des Ausdruckes höhere Gewalt. Der Oberste Gerichtshof schließt sich der vom Reichsgericht vertretenen Meinung an, daß höhere Gewalt dann nicht vorliegt, wenn es sich um einen Zufall handelt, der im Verlaufe des Gewerbsunternehmens als diesem eigentümlich mehr oder weniger häufig vorzukommen pflegt und auf den der Unternehmer gefaßt sein muß, den er also in Kauf nehmen muß. Zum Begriff der höheren Gewalt genügt es demnach nicht, daß das Ereignis von außen einwirkt und unabwendbar ist, es muß vielmehr noch ein außergewöhnliches Ereignis sein (vgl. Geigel, Der Haftpflichtprozeß, S. 129 ff., und die dort angeführten Entscheidungen).

Der vom Erstgericht als erwiesen angenommene Sachverhalt stellt einen Unfall dar, der beim Betrieb von Straßenbahnen vorzukommen pflegt; er kann nicht als außergewöhnliches Ereignis angesehen werden und fällt demnach nicht unter den Begriff der höheren Gewalt.

Der Revision war daher Folge zu geben und das Urteil des Erstrichters wiederherzustellen.

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