OGH 1Ob50/46

OGH1Ob50/4629.4.1946

SZ 21/2

Normen

Verbotsgesetz 1945 §4
Verbotsgesetz 1945 §22
ZPO §461
ZPO §464
ZPO §477
ZPO §502 Abs4
ZPO §503 Z1
ZPO §503 Z2
ZPO §503 Z4
Verbotsgesetz 1945 §4
Verbotsgesetz 1945 §22
ZPO §461
ZPO §464
ZPO §477
ZPO §502 Abs4
ZPO §503 Z1
ZPO §503 Z2
ZPO §503 Z4

 

Spruch:

Einer Partei steht nur dann die Einlegung eines Rechtsmittels gegen eine Entscheidung offen, wenn sie ein rechtliches Interesse an der Anfechtung des Spruches der Entscheidung hat. Ein solches Interesse ist nicht gegeben, wenn sich der Rechtsmittelwerber nicht durch den Spruch, sondern nur durch die Begründung der Entscheidung beschwert erachtet. Ein solches Interesse liegt auch dann nicht vor, wenn die dem Begehren der Partei stattgebende Entscheidung des Berufungsgerichtes von dieser Partei aus dem Gründe angefochten wird, weil angeblich die Berufung des Gegners als nicht rechtzeitig eingebracht zurückzuweisen gewesen wäre.

Ein Rechtsmittel gegen eine bereits verkundete Entscheidung kann auch vor deren Zustellung rechtswirksam eingebracht werden.

Ungeachtet der Vorschrift des § 502, Abs. 4 ZPO., wonach die Parteien den Revisionsgrund der Nichtigkeit in einem Kündigungsstreit über mietengeschützte Räume nicht geltend machen dürfen, ist der Oberste Gerichtshof berechtigt und verpflichtet, die Frage der Nichtigkeit des Verfahrens oder des Urteiles von Amts wegen zu prüfen.

Bei Entscheidungen über einen Unterbrechungsantrag kann das Gericht auch durch einverständliche Anträge der Parteien nicht gebunden werden, soferne das Gesetz nicht ausdrücklich eine solche Bindung vorsieht.

Entscheidung vom 29. April 1946, 1 Ob 50/46.

I. Instanz: Bezirksgericht Hernals; II. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtsachen Wien.

Text

Die Klägerin hatte dem Beklagten dessen Wohnung aus dem Gründe des § 22 VerbotsG. 1945 aufgekundigt. Während des Verfahrens vor dem Erstgerichte hatte der Beklagte die Unterbrechung des Verfahrens bis zur Erledigung seines Gesuches um Nachsicht von der Registrierung gemäß § 4 VerbotsG. 1945 beantragt. Die Klägerin hatte zu diesem Unterbrechungsantrag die Erklärung abgegeben, gegen die Unterbrechung des Verfahrens aus diesem Gründe eine Einwendung nicht erheben zu wollen.

Gegen das die Kündigung aufrecht erhaltende Urteil des Erstgerichtes, das am Ende der Streitverhandlung verkundet worden war, hatte der Beklagte noch vor Zustellung der Urteilsausfertigung Berufung eingebracht. In der Berufungsverhandlung hatte die Klägerin die Zurückweisung der Berufung aus diesem Gründe beantragt, weil nach ihrer Rechtsansicht vor Zustellung der angefochtenen Entscheidung nicht rechtswirksam ein Rechtsmittel dagegen ergriffen werden konnte.

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichtes, das der Berufung nicht Folge gebeben hat, hatten beide Teile Revision ergriffen. Die Revision der Klägerin machte u. a. Nichtigkeit des Berufungsverfahrens aus dem Gründe geltend, weil das Berufungsgericht über eine Berufung entschieden habe, die vor Zustellung des erstgerichtlichen Urteils, also nach Meinung der Revision nicht innerhalb der Berufungsfrist eingebracht wurde. In der Revision des Beklagten war u. a. geltend gemacht, daß das Berufungsgericht ebenso wie das Erstgericht das Verfahren bis zur Erledigung des Gesuches des Beklagten um Nachsicht von der Registrierung zu unterbrechen gehabt hätte. Dieser Ansicht der Revision des Beklagten hat sich auch die Klägerin in ihrer Revisionsbeantwortung angeschlossen und auch ihrerseits beantragt, das Verfahren bis zur Erledigung des erwähnten Gesuches zu unterbrechen. Ein anderer Antrag war in der Revisionsbeantwortung der Klägerin nicht gestellt.

Der Oberste Gerichtshof hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen und der Revision des Beklagten nicht Folge gegeben.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Die Revision der Klägerin war als unzulässig zurückzuweisen. Lehre und Rechtsprechung haben stets daran festgehalten, daß nur demjenigen die Einlegung eines Rechtsmittels gegen eine gerichtliche Entscheidung offenstehen darf, der ein rechtliches Interesse an der Anfechtung der Entscheidung hat, daß ein solches Interesse aber nicht gegeben ist, wenn der Spruch der angefochtenen Entscheidung dem Antrage oder dem Begehren des Rechtsmittelwerbers recht gegeben hat. Die Anfechtung einer Entscheidung aus dem Gründe, weil sich der Rechtmittelwerber nicht durch ihren Spruch, sondern nur durch ihre Begründung beschwert erachtet, ist stets für unzulässig erklärt worden (siehe die Ausführungen in Sperl's Lehrbuch des Zivilprozesses und Neumann's Kommentar zu § 461 ZPO., die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 4. November 1925, SZ. VII/353 und andere).

Der Rechtsmittelwerber muß also durch sein Rechtsmittel eine Entscheidung erzielen wollen, deren Spruch für ihn günstiger ist als der Spruch der angefochtenen Entscheidung. Im vorliegenden Falle hat das Berufungsgericht der Berufung des Gegners der Klägerin nicht Folge gegeben, hat also das Urteil des Erstgerichtes bestätigt, das dem Begehren der Klägerin vollinhaltlich stattgegeben hat. Eine günstigere Entscheidung ist für die Klägerin nicht denkbar. Auch die von der Revision der Klägerin angestrebte Nichtigerklärung des Berufungsverfahrens und Zurückweisung der Berufung des Beklagten hätte nur zur Folge, daß das erstgerichtliche Urteil in Rechtskraft erwächst, welches Urteil ohne dies vom Berufungsgerichte aufrechterhalten worden ist. Die Revision der Klägerin, die sich nur gegen die Begründung der angefochtenen Berufungsentscheidung richtet, war daher schon aus diesem Gründe als unzulässig zurückzuweisen.

Die Unzulässigkeit der Revision der Klägerin folgt aber auch daraus, daß in dieser Revision nur die Revisionsgrunde nach § 503, Z. 1 und 2 ZPO. geltend gemacht werden, während in Kündigungsstreitigkeiten aus Mietverhältnissen, die dem Mietengesetz unterliegen, die Revision nur aus dem Gründe des § 503, Z. 4 ZPO. erhoben werden darf (§ 502, Abs. 4 ZPO.).

Gleichwohl muß sich der Oberste Gerichtshof mit der in dieser Revision aufgeworfenen Frage der Nichtigkeit des Berufungsurteils und des Berufungsverfahrens befassen, da eine allfällige Nichtigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen ist. An dieser Wahrnehmung wird das Revisionsgericht auch nicht dadurch gehindert, daß das Berufungsurteil von den Parteien nicht wegen Nichtigkeit angefochten werden darf. Der Oberste Gerichtshof hat bereits einmal in der Entscheidung vom 27. März 1928, SZ. X/80, den Grundsatz ausgesprochen, daß auch in Kündigungsstreitigkeiten gemäß dem Mietengesetz im Revisionsverfahren eine Nichtigkeit von Amts wegen zu berücksichtigen ist, wenn über eine vom Berufungsgericht für zulässig erklärte Revision zu entscheiden ist. Es besteht kein Anlaß, von diesem bereits ausgesprochenen Grundsatz wieder abzuweichen. Der Oberste Gerichtshof hat sich daher aus Anlaß der vom Beklagten eingebrachten zulässigen Revision auch mit der Frage der allfälligen Nichtigkeit des Berufungsurteiles zu beschäftigen.

Die von der Klägerin behauptete Nichtigkeit soll darin liegen, daß das Berufungsgericht über eine Berufung verhandelt hat, die vor Zustellung des erstgerichtlichen Urteiles, also nach Meinung der Klägerin nicht innerhalb der Berufungsfrist eingebracht wurde. Das Berufungsgericht hätte nach Meinung der Klägerin diese Berufung zurückweisen sollen. Aber abgesehen von der in der Lehre umstrittenen Frage, ob die Nichtigkeitsgrunde in § 477 ZPO. erschöpfend aufgezählt sind und ob daher in dem obigen Sachverhalt überhaupt eine Nichtigkeit erblickt werden könnte, ist dem Berufungsgerichte darin beizustimmen, wenn es die vor Zustellung des Urteiles, aber nach dessen Verkundung eingebrachte Berufung als beachtlich angesehen hat. Ist eine Entscheidung den Parteien bereits in mündlicher Verhandlung verkundet worden, so bindet sie das Gericht, mag auch die volle Rechtswirksamkeit den Parteien gegenüber erst mit deren Zustellung eintreten. Es liegt daher bereits eine anfechtbare Entscheidung vor; es kann dem durch diese Entscheidung Beschwerten nicht verwehrt werden, noch vor Zustellung dieser bereits vorliegenden Entscheidung ein Rechtsmittel einzubringen. Dieses Recht wird ihm auch im Gesetze nirgends abgesprochen. Den gleichen Rechtsstandpunkt vertreten Neumann's Kommentar zu § 464 ZPO. und die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 12. Dezember 1898, GIUNF. 425.

Der von der Klägerin angeführten Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 17. Jänner 1939, 1 Ob 800/38, ist zwar die entgegegesetzte Rechtsmeinung zugrunde gelegt; der Oberste Gerichtshof kann aber die dort vertretene Rechtsansicht nicht aufrechterhalten. Im übrigen wäre auch nach der letztangeführten Entscheidung im vorliegenden Falle die Berufung beachtlich, da in dieser Entscheidung ausgeführt wird, der Rechtsmittelwerber, der ein Rechtsmittel vor Zustellung der angefochtenen Entscheidung einbringt, müsse nach Zustellung der angefochtenen Entscheidung erklären, daß er sein Rechtmittel aufrechterhalte, widrigenfalls ein Verzicht auf das verfrüht eingebrachte Rechtsmittel anzunehmen wäre. Im vorliegenden Falle hat aber der Beklagte bei der Berufungsverhandlung ausdrücklich erklärt, seine Berufung aufrechterhalten zu wollen und hat die in der Berufungsschrift gestellten Anträge wiederholt. Die Berufung könnte daher auch im Sinne der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 17. Jänner 1939 nicht zurückgewiesen werden.

Eine Unterbrechung des Verfahrens bis zur Erledigung des Registrierbefreiungsgesuches des Beklagten durch die Verwaltungsbehörde ist von den Untergerichten mit Recht abgelehnt worden. In diesem Belange hat auffallenderweise die Klägerin vor dem Erstgerichte erklärt, gegen den Unterbrechungsantrag des Beklagten keine Einwendung zu erheben; sie hat vor dem Berufungsgerichte sogar ausdrücklich (in Übereinstimmung mit dem Beklagten) die Unterbrechung des Verfahrens beantragt und pflichtet auch in ihrer Revisionsbeantwortung der Meinung des Beklagten bei, daß das Verfahren bis zur Erledigung des erwähnten Gesuches zu unterbrechen wäre. Auf dem Gebiete des Prozeßrechtes können aber Parteivereinbarungen oder gleichgerichtete Anträge beider Teile das Gericht nicht binden, abgesehen von den wenigen Fällen, in denen das Gesetz selbst ausdrücklich von diesem Grundsatz Ausnahmen zuläßt (z. B. beim Ruhen des Verfahrens oder dem Ausschluß der Vernehmung bestimmter Zeugen). Findet die klagende Partei, daß die Weiterführung und Beendigung des Rechtsstreites aus irgendeinem Grund ihren Interessen zuwiderläuft, so muß sie sich beim Beklagten um eine Vereinbarung des Ruhens des Verfahrens oder um die Zustimmung zur Rückziehung der Klage bemühen. Sie kann aber nicht durch Zustimmung zu einem unbegrundeten Antrag des Beklagten auf Unterbrechung des Verfahrens das Gericht zwingen, die Erledigung eines entscheidungsreifen Rechtsstreites hinauszuschieben. Die Zustimmung der klagenden Partei hat daher auf die Überprüfung der Berechtigung eines Unterbrechungsantrages des Beklagten keinen Einfluß.

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