VwGH Ra 2022/16/0097

VwGHRa 2022/16/00973.11.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Thoma sowie den Hofrat Mag. Straßegger und die Hofrätin Dr. Funk‑Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Galli, LL.M., über die Revision des Mag. R K in W, vertreten durch Mag. R K, Rechtsanwalt in W, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. August 2022, W176 2231641‑1/9E, betreffend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (mitbeteiligte Partei: Präsidentin des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien in 1011 Wien, Schmerlingplatz 11), den Beschluss gefasst:

Normen

ABGB §1332
AVG §71 Abs1 Z1
GGG 1984 §1
MRK Art6
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwGG §46
VwGG §46 Abs1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §33
VwRallg
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022160097.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Mit Erkenntnis vom 1. September 2020, W176 2231641‑1/2E, wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Revisionswerbers gegen den Bescheid der Präsidentin des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 27. März 2020, mit welchem dem Revisionswerber die Zahlung der Pauschalgebühr im Grundverfahren X des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien gemäß TP 1 GGG samt Eingebungsgebühr und Mehrbetrag iHv insgesamt 27.945 € vorgeschrieben worden war, als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.

2 Mit Beschluss vom 26. November 2020, E 3547/2020‑6, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis erhobenen Beschwerde des Revisionswerbers ab und trat die Beschwerde über nachträglichen Antrag gemäß Art. 144 Abs. 3 B‑VG mit Beschluss vom 16. Dezember 2020, E 3547/2020-8, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

3 Der Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 16. Dezember 2020, E 3547/2020‑8, wurde dem Revisionswerber im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs am 16. Dezember 2020 übermittelt.

4 Mit Schriftsatz vom 8. August 2022 brachte der Revisionswerber beim BVwG einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Revisionsfrist ein und erhob gleichzeitig Revision gegen das Erkenntnis des BVwG vom 1. September 2020, W176 2231641‑1/2E.

5 Begründend brachte der Revisionswerber zusammengefasst vor, es sei im Fristenverwaltungssystem seiner Kanzlei eine mehrfache Kalendierung von Fristen und Erinnerung der zuständigen Juristen per E-Mail vorgesehen. Dies sei aber im gegenständlichen Fall unterblieben. Die Frist sei weder im Outlook Kalender noch im Fristenbuch eingetragen worden und dem Revisionswerber sei der Beschluss des Verfassungsgerichtshofes nicht bekannt gewesen. Es sei unerklärlich, wieso die sonst sehr gewissenhafte Mitarbeiterin der Kanzlei die Eintragung der Frist für die Einbringung der Revision gerechnet ab Zustellung des Abtretungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes vom 16. Dezember 2020 übersehen habe. Dies lasse sich nur dadurch erklären, dass die Vorweihnachtszeit für Rechtsanwaltskanzleien eine der stressigsten Zeiten sei. Die Auslastung und der Druck liege in dieser Zeit weit über dem Ausmaß des Normalen. Der Beschluss des Verfassungsgerichtshofes sei daher offensichtlich in diesem Stress der Vorweihnachtszeit untergegangen, möglicherweise in Verstoß geraten, näheres sei nicht mehr feststellbar. Dies sei ein geringfügiger Fehler. Der Revisionswerber habe erstmals aus dem Vorhalt der Präsidentin des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 25. Juli 2022, zugestellt mit Wirksamkeit vom 27. Juli 2022, erfahren, dass im Nachgang zu dem Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 16. Dezember 2020 kein Verfahren in der Datenbank des Verwaltungsgerichtshofes registriert sei.

6 Mit dem angefochtenen Beschluss wies das BVwG den Antrag des Revisionswerbers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.

7 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, die Ausführungen des Revisionswerbers, wonach der Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 16. Dezember 2020 „völlig untergegangen“ und „möglicherweise in Verstoß geraten sei“, wobei „näheres nicht mehr abschließend feststellbar“ sei, könnten in Zusammenhang mit dem sonstigen Vorbringen nur so verstanden werden, dass nicht eruierbar sei, ob der elektronisch hinterlegte Beschluss des Verfassungsgerichtshofes zwar abgeholt worden sei, das betreffende Schriftstück dann aber „unterging“, oder ob schon die Abholung des Beschlusses unterblieben sei. Vor diesem Hintergrund könne jedoch nicht gesagt werden, dass der Revisionswerber in seiner Kanzlei ein ‑ wie von der näher dargestellten Rechtsprechung gefordert ‑ wirksames Überwachungssystem eingerichtete habe. Somit sei nicht anzunehmen, dass der Revisionswerber durch ein unabwendbares oder unvorhergesehenes Ereignis gehindert gewesen sei, die Frist zur Einbringung einer Revision zu wahren, ohne dass ihm ein ‑ den minderen Grad des Versehens übersteigendes ‑ Verschulden anzulasten sei. Dem Antrag auf Wiedereinsetzung sei daher gemäß § 46 VwGG keine Folge zu geben.

8 Gegen diesen Beschluss brachte der Revisionswerber die vorliegende Revision ein, die das BVwG dem Verwaltungsgerichtshof unter Anschluss der Akten des Verfahrens vorlegte.

9 Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Auf Beschlüsse der Verwaltungsgerichte ist Art. 133 Abs. 4 B‑VG sinngemäß anzuwenden (Art. 133 Abs. 9 B‑VG).

10 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

11 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

12 Der Revisionswerber bringt zur Begründung der Zulässigkeit der Revision zunächst vor, das BVwG weiche von näher dargestellter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, indem es dem Revisionswerber ein nicht bloß geringfügiges Verschulden an der Versäumung der Revisionsfrist unterstelle, ohne jemals Beweise aufgenommen und ohne die eigene Sachkunde von Anwaltssoftware oder die eigenen Kenntnisse von der Arbeit in einer Anwaltskanzlei thematisiert zu haben. Es bestehe in der Kanzlei des Revisionswerbers ein umfangreiches, mehrfach abgesichertes Kontrollsystem. Der gegenständlich unterlaufene Fehler beruhe daher auf einem geringfügigen Verschulden, weshalb dem Antrag auf Wiedereinsetzung stattzugeben gewesen sei. Zudem hätte das BVwG von Amts wegen eine mündliche Verhandlung durchführen müssen, zumal der Revisionswerber seine eigene Einvernahme als Beweismittel beantragt habe. Das BVwG hätte den Ausführungen des Revisionswerbers nicht einen Sinngehalt unterstellen dürfen.

13 Die Frage, ob das Verwaltungsgericht fallbezogen zu Recht das Vorliegen eines minderen Grades des Versehens verneint hat, ist grundsätzlich keine Rechtsfrage, der über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG zukommt. Eine solche Rechtsfrage läge nur dann vor, wenn die Beurteilung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise vorgenommen worden wäre (vgl. VwGH 27.2.2019, Ra 2019/05/0044; VwGH 22.3.2018, Ra 2018/01/0107, mwN).

14 Ein Verschulden des Vertreters einer Partei an der Fristversäumung ist dem Verschulden der Partei selbst gleichzuhalten. Das Versehen einer Kanzleiangestellten eines Rechtsanwalts ist dem Rechtsanwalt (und damit der Partei) dann als Verschulden anzulasten, wenn er die ihm zumutbare und nach der Sachlage gebotene Überwachungspflicht gegenüber der Kanzleiangestellten verletzt hat. Ein berufsmäßiger Parteienvertreter hat die Organisation seines Kanzleibetriebes so einzurichten, dass auch die richtige Vormerkung von Terminen und damit die fristgerechte Setzung von ‑ mit Präklusion sanktionierten ‑ Prozesshandlungen gesichert erscheint. Dabei ist durch entsprechende Kontrollen u.a. dafür vorzusorgen, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind (vgl. VwGH 13.12.2021, Ra 2020/15/0130, mwN).

15 Es besteht eine Verpflichtung des Wiedereinsetzungswerbers zur Konkretisierung aller Umstände, die es ermöglichen, das Vorliegen eines Wiedereinsetzungsgrundes zu beurteilen. Der Wiedereinsetzungswerber hat von sich aus initiativ alles vorzubringen, was die Annahme eines die Rechtzeitigkeit der Vornahme einer Prozesshandlung hindernden Umstandes begründen kann (VwGH 20.11.2015, Ra 2015/02/0209, mwN). Dazu zählt auch die Darstellung des in der Kanzlei des Rechtsvertreters eingerichteten Kontrollsystems zur Sicherstellung, dass dem Vertreter tatsächlich die gesamte eingehende Post rechtzeitig vorgelegt wird. Fehlt es an einer derartigen Darstellung im Wiedereinsetzungsantrag, kann die belangte Behörde bzw. das VwG vom Fehlen solcher Kontrollmaßnahmen und Anordnungen ausgehen, und es kann am Vorliegen eines (dem Wiedereinsetzungswerber zuzurechnenden) den Grad minderen Versehens übersteigenden Verschuldens des Vertreters kein Zweifel bestehen (vgl. VwGH 27.7.2020, Ra 2020/11/0102; 19.4.2007, 2007/09/0019, jeweils mwN).

16 Die Behörde (hier: das Bundesverwaltungsgericht) ist auf Grund der Antragsbedürftigkeit des Wiedereinsetzungsverfahrens ausschließlich an die vom Wiedereinsetzungswerber (rechtzeitig) vorgebrachten tatsächlichen Gründe gebunden. Es ist ihr verwehrt, von sich aus weitere Gesichtspunkte in die Prüfung miteinzubeziehen. Eine amtswegige Prüfung, ob sonstige vom Antragsteller nicht geltend gemachte Umstände die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen könnten, hat nicht zu erfolgen (vgl. VwGH 3.2.2021, Ra 2020/05/0056, mwN).

17 Das BVwG ging auf Grund der Darstellung der Kanzleiorganisation des Revisionswerbers in seinem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und der vom Revisionswerber dargelegten fehlenden Kenntnis von Zustellung und Vormerkung des Beschlusses des Verfassungsgerichtshofes vom 16. Dezember 2020 davon aus, dass der Revisionswerber in seiner Kanzlei kein wirksames Überwachungssystem eingerichtet habe und ihm daher ein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden an der Versäumung der Frist für die Einbringung der Revision anzulasten sei. Der Revisionswerber zeigt mit seinem Vorbringen nicht auf, dass diese Beurteilung des BVwG fallbezogen unvertretbar wäre.

18 Soweit der Revisionswerber das Unterbleiben von weiteren Ermittlungen und den Entfall der mündlichen Verhandlung rügt, ist darauf hinzuweisen, dass, wenn Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt werden, auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden muss. Dies setzt voraus, dass ‑ auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. VwGH 25.1.2022, Ra 2020/16/0050, mwN).

19 Zwar ist bei behaupteter Verletzung des Rechtes auf Durchführung einer Verhandlung im Anwendungsbereich des Art. 6 MRK sowie des Art. 47 GRC eine Relevanzdarstellung nicht erforderlich. Der Grund dafür liegt darin, dass die Rechtsprechung des EGMR zum Erfordernis der mündlichen Verhandlung nach Art. 6 MRK eine solche Relevanzprüfung nicht vorsieht, was entsprechend auch auf das auf Art. 47 GRC gestützte Recht auf mündliche Verhandlung zu übertragen ist (VwGH 23.1.2013, 2010/15/0196; zur Übertragung dieser Judikatur auf das Verfahren vor dem VwG vgl. VwGH 27.5.2015, Ra 2014/12/0021). Außerhalb des Anwendungsbereiches des Art. 6 MRK und des Art. 47 GRC ist es aber weiterhin Sache des Revisionswerbers, die Relevanz der unterbliebenen mündlichen Verhandlung aufzuzeigen (vgl. etwa VwGH 18.10.2021, Ra 2018/22/0067, mwN).

20 Angelegenheiten der Gerichtsgebühren fallen nicht in den Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK („civil rights“ ‑ vgl. VwGH 26.9.2022, Ra 2022/16/0057, mwN).

21 Eine solche ‑ nach der zitierten Rechtsprechung erforderliche ‑ Darstellung der Relevanz der vorgebrachten Verfahrensfehler ist der Revision nicht zu entnehmen.

22 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 3. November 2022

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