Normen
VwGG §63 Abs1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §25 Abs7
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190016.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 13. Februar 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 6. Juni 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ mit Erkenntnis vom 7. November 2019 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Mit Erkenntnis vom 26. Februar 2020, E 188/2020‑11, hob der Verfassungsgerichtshof das Erkenntnis des BVwG hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, des Ausspruchs, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und der Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander auf.
5 Im zweiten Rechtsgang wies das BVwG die Beschwerde des Revisionswerbers mit dem angefochtenen Erkenntnis ‑ ohne Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung ‑ erneut als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
6 Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis erhobenen Beschwerde mit Beschluss vom 24. November 2020, E 3388/2020‑7, ab und trat diese über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom 2. Dezember 2020, E 3388/2020‑9, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
7 In der Folge wurde die gegenständliche außerordentliche Revision eingebracht.
8 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
9 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG habe seine Ermittlungs- und Begründungspflicht verletzt, indem es eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar‑e Sharif angenommen habe. Zudem sei vom BVwG die Verhandlungspflicht verletzt und im Rahmen der Rückkehrentscheidung eine unvertretbare Interessenabwägung vorgenommen worden.
10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa VwGH 20.8.2020, Ra 2020/19/0239, mwN).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung weiters dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. erneut VwGH Ra 2020/19/0239, mwN).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes reicht eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. etwa VwGH 22.9.2020, Ra 2019/19/0414, mwN).
11 Das BVwG traf im vorliegenden Fall auf der Grundlage einschlägiger Länderberichte Feststellungen zur Sicherheits- und zur Versorgungslage in Mazar‑e Sharif. Es setzte sich sowohl mit den UNHCR‑Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 als auch mit dem EASO‑Leitfaden zu Afghanistan vom Juni 2018 sowie vom Juni 2019 auseinander. Bei der Beurteilung einer innerstaatlichen Fluchtalternative ging es davon aus, dass der Revisionswerber gesund, anpassungs- und arbeitsfähig sei. Er verfüge zwar weder über ein Unterstützungsnetzwerk noch über Schulbildung, jedoch über Berufserfahrung als Schweißer, weshalb er schon als Minderjähriger im Iran zum Lebensunterhalt seiner Familie habe beitragen können. Er spreche Dari als Muttersprache und sei trotz längerem Aufenthalt im Iran als Minderjähriger „afghanisch“ sozialisiert worden. Bei einer Rückkehr könne er diverse Unterstützungsprogramme in Anspruch nehmen.
Die Revision, die übersieht, dass das BVwG jene Quellen heranzieht, deren Nichtberücksichtigung sie moniert, zeigt ‑ auch mit dem Hinweis darauf, dass der Revisionswerber als Rückkehrer und im Iran aufgewachsener Afghane einer vulnerablen Gruppe angehören würde ‑ nicht auf, dass die Beurteilung des BVwG, dem Revisionswerber stehe vor diesem Hintergrund in Mazar‑e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative offen, fallbezogen mit einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Rechtswidrigkeit belastet wäre (vgl. etwa VwGH 3.12.2020, Ra 2020/19/0108, siehe zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans auch ohne familiäre Kontakte VwGH 13.2.2020, Ra 2019/19/0406, sowie zu schiitischen Hazara VwGH 27.4.2020, Ra 2019/19/0429, alle jeweils mwN).
12 Mit ihrem Vorbringen zu der durch die Covid-19-Pandemie bewirkten schwierigeren wirtschaftlichen Lage in Afghanistan zeigt die Revision weder auf, dass in Mazar‑e Sharif solche exzeptionellen Umstände vorlägen, die eine Verletzung der nach Art. 3 EMRK garantierten Rechte des Revisionswerbers bewirken würden, noch, dass dem gesunden und arbeitsfähigen Revisionswerber eine Ansiedlung unter Berücksichtigung der aktuellen Lage dort nicht zumutbar wäre (vgl. VwGH 18.12.2020, Ra 2020/20/0416, mwN).
13 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 6.10.2020, Ra 2019/19/0332, mwN).
14 Im vorliegenden Fall hat das BVwG in der Interessenabwägung die für den Revisionswerber sprechenden Umstände mit den gegen ihn sprechenden Umständen abgewogen und ist zum Schluss gekommen, dass die öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Inland überwiegen würden.
15 Auch in Hinblick darauf, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (erst) bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist (vgl. erneut etwa VwGH Ra 2019/19/0332, mwN), zeigt die Revision mit dem allgemeinen Vorbringen, dass der Revisionswerber sich in die österreichische Gesellschaft außergewöhnlich fest integriert habe, keine unvertretbare Interessenabwägung auf.
16 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt in Bezug auf ein Erkenntnis (oder einen Beschluss) eines Verwaltungsgerichtes eine Rechtswidrigkeit vor, wenn das Verwaltungsgericht entgegen der Bestimmung des § 25 Abs. 7 zweiter Satz VwGVG trotz geänderter Zusammensetzung des Senates oder Zuweisung an einen anderen Einzelrichter die Verhandlung nicht wiederholt hat. Dies gilt auch für den Fall der neuerlichen Durchführung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nach einem aufhebenden Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 19.2.2020, Ra 2019/14/0509).
Im vorliegenden Fall fand im ersten Rechtsgang eine mündliche Verhandlung statt. Im zweiten und hier gegenständlichen Rechtsgang wurde das Verfahren derselben Gerichtsabteilung und derselben Richterin zugewiesen. Ausgehend davon gelingt es der Revision nicht darzulegen, inwiefern das BVwG die Verhandlungspflicht verletzt hätte (vgl. zur behaupteten Verletzung der Verhandlungspflicht im zweiten Rechtsgang auch den bereits erwähnten Ablehnungsbeschluss VfGH 3388/2020‑7, mwN).
17 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 10. Februar 2021
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