Normen
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190406.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte ist Staatsangehöriger Afghanistans und stammt aus der Provinz Ghazni. Er stellte am 29. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Begründend brachte er vor, er sei gemeinsam mit seinem Vater von den Taliban überfallen und mit dem Tod bedroht worden. 3 Mit Bescheid vom 17. Oktober 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei.
4 Mit Erkenntnis vom 9. November 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab, erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
5 Mit Erkenntnis vom 5. April 2018, Ra 2017/19/0616, hob der Verwaltungsgerichtshof dieses Erkenntnis hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der Erteilung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes auf. Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof aus, die Annahme des BVwG, dem Mitbeteiligten drohe unter Berücksichtigung seiner individuellen Umstände (fehlende Unterstützung durch seinen Vater oder seinen Onkel) im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan auch in Kabul die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK, sei eine rechtliche Beurteilung, die in den Feststellungen keine Deckung finde. Eine tragfähige Begründung für die Annahme, dem Mitbeteiligten sei die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul nicht zumutbar, sei nicht zu erkennen.
6 Im fortgesetzten Verfahren erkannte das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - dem Mitbeteiligten neuerlich den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt A.I.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A.II.) und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).
7 Das BVwG stellte - soweit hier maßgeblich - zur Person des Mitbeteiligten fest, dieser sei in der Provinz Ghazni aufgewachsen, habe von einem Mullah Lesen und Schreiben gelernt und in der Landwirtschaft geholfen. Über den Aufenthaltsort seines Vaters, der von den Taliban entführt worden sei, wisse er nicht Bescheid. Mit seiner übrigen Familie stehe er nicht in Kontakt. Er schulde seinem Onkel, der ihm bei der Ausreise geholfen habe, Geld.
8 Zur allgemeinen Lage in Afghanistan traf das BVwG Feststellungen unter Heranziehung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, eines näher genannten Gutachtens für das Verwaltungsgericht Wiesbaden, eines Berichtes des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom Mai 2018 und der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018. Nach diesen Richtlinien sei eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul nicht verfügbar.
9 In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG, die aktuelle Situation in Afghanistan sei unverändert weder sicher noch stabil, doch variiere die Sicherheitslage regional. Die Herkunftsprovinz des Mitbeteiligten (Ghazni) zähle zu den volatilen Provinzen und sei nicht hinreichend sicher, sodass ihm bei einer Rückkehr dorthin die reale Gefahr einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK drohen würde. Dem Mitbeteiligten sei auch die Übersiedlung in andere Landesteile Afghanistans nicht zumutbar. Er wäre bei einer Rückkehr vorerst auf sich alleine gestellt. Zwar sei er ein junger Mann mit Schulbildung und etwas Berufserfahrung, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln stelle sich jedoch insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne jeglichen familiären Rückhalt meist nur unzureichend dar. Der Revisionswerber wäre daher gezwungen, allenfalls in Kabul nach einem Wohnraum und einer Arbeitsstelle zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Eine ausreichende staatliche Unterstützung sei sehr unwahrscheinlich. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass er von seiner Familie hinreichend finanziell unterstützt werden könne. Der vom UNHCR für die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative geforderte Zugang zu Unterkunft, wesentlichen Grundleistungen und Erwerbsmöglichkeiten sei daher nicht ersichtlich.
10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision der belangten Behörde. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von der - näher zitierten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen, insbesondere auch von dem im ersten Rechtsgang ergangenen Erkenntnis Ra 2017/19/0616. Das BVwG hätte sich auch damit auseinandersetzen müssen, ob dem Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative in anderen Regionen Afghanistans, wie etwa Mazar-e Sharif oder Herat-Stadt, offen stehe.
12 Die Revision ist zulässig und auch begründet.
13 Das BVwG hat seiner Beurteilung zur Person des Mitbeteiligten und zur allgemeinen Lage in Afghanistan im Wesentlichen vergleichbare Annahmen wie in jener Entscheidung, die mit hg. Erkenntnis Ra 2017/19/0616 aufgehoben wurde, zu Grunde gelegt, bezieht sich im angefochtenen Erkenntnis aber insbesondere auch auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018.
14 Der Verwaltungsgerichtshof hat auch zu dieser Berichtslage wiederholt ausgeführt, dass einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist und die Möglichkeit hat, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden kann, und dass selbst der Umstand, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht hindere (vgl. zuletzt etwa VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309, mwN).
15 Auch geht das BVwG zwar davon aus, dass dem Mitbeteiligten im (gesamten) Herkunftsstaat Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe, beurteilt aber nur das Vorliegen einer solchen in Kabul. Dem Verwaltungsgerichtshof ist es daher nicht möglich, das angefochtene Erkenntnis hinsichtlich der Annahme zu überprüfen, ob dem Mitbeteiligten tatsächlich im gesamten Staatsgebiet Afghanistans keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0221).
16 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 13. Februar 2020
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