Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180071.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und stellte am 8. August 2007 den ersten Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.
2 Mit Bescheid vom 19. Februar 2008 wies das Bundesasylamt (BAA) den Antrag ab und sprach zugleich die Ausweisung des Revisionswerbers in die Russische Föderation aus.
3 Am 29. Mai 2008 stellte der Revisionswerber seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, der letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 19. Jänner 2011 abgewiesen wurde. Er befindet sich nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) seit 20. Dezember 2008 durchgehend in Strafhaft und wurde in Österreich fünf Mal rechtskräftig strafrechtlich verurteilt.
4 Der Revisionswerber stellte am 17. Juni 2020 aus dem Stande der Strafhaft den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er zusammengefasst vor, dass ihm in der Russischen Föderation Verfolgung aufgrund seiner Verurteilung in Österreich wegen Vergewaltigung einer transsexuellen Person drohe, weil ihm deshalb unterstellt werden würde, homosexuell zu sein.
5 Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 16. November 2020 zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Russische Föderation zulässig sei, legte keine Frist für die freiwillige Ausreise fest, erließ gegen den Revisionswerber ein unbefristetes Einreiseverbot und erkannte einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab.
6 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ‑ mit einer hier nicht wesentlichen Maßgabe und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ ab, wies den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung zurück und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.
7 Begründend führte das BVwG ‑ soweit für das gegenständliche Revisionsvorbringen relevant ‑ aus, dass dem Revisionswerber im Zusammenhang mit seiner Verurteilung in Österreich aufgrund einer Vergewaltigung keine Verfolgung in seinem Herkunftsstaat drohe. Selbst für den Fall, dass seine Familie aufgrund der von ihm begangenen Vergewaltigung bzw. der ihm deshalb unterstellten Homosexualität Rache an ihm nehmen wolle, stehe dem Revisionswerber die Möglichkeit offen, sich in einem anderen Landesteil niederzulassen. Hinsichtlich der Erlassung einer Rückkehrentscheidung führte das BVwG aus, der Revisionswerber, der seit 2008 durchgehend in Haft sei, habe 2017 eine Ehe nach konfessionellem islamischen Ritus mit einer in Österreich asylberechtigten russischen Staatsbürgerin geschlossen. Es bestehe kein gemeinsamer Haushalt und kein Abhängigkeitsverhältnis, zudem gebe es keine gemeinsamen Kinder. Der Revisionswerber und seine Lebensgefährtin hätten regelmäßigen telefonischen sowie Besuchskontakt. Ausgehend davon liege kein schützenswertes Familienleben im Bundesgebiet vor. Einen Eingriff in das Privatleben des Revisionswerbers erachtete das BVwG ‑ nach Durchführung einer näher dargestellten, zu Ungunsten des Revisionswerbers ausfallenden Interessenabwägung - als zulässig.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vorbringt, das BVwG habe eine unvertretbare Beweiswürdigung in Zusammenhang mit der Verfolgungsgefahr aufgrund der Verurteilung des Revisionswerbers wegen Vergewaltigung vorgenommen und sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur legalen und sicheren Erreichbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen. Zudem habe das BVwG entgegen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung das Vorliegen eines Familienlebens des Revisionswerbers mit seiner Ehegattin ausgeschlossen und sei in mehreren Punkten von der Verhandlungspflicht nach § 21 Abs. 7 BFA‑VG abgewichen.
9 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.
10 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
12 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
13 Wenn die Revision moniert, das BVwG habe eine unvertretbare Beweiswürdigung in Zusammenhang mit der Verfolgungsgefahr aufgrund der Verurteilung des Revisionswerbers wegen Vergewaltigung vorgenommen, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung der Verwaltungsgerichte eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vorliegt, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 21.1.2021, Ra 2020/18/0433, mwN).
14 Das BVwG setzte sich in seiner umfangreichen Beweiswürdigung eingehend mit dem Vorbringen des Revisionswerbers auseinander und legte nachvollziehbar dar, weshalb es - wie auch das BFA - die Behauptungen des Revisionswerbers, wonach die russischen Behörden bzw. seine Familie aus Zeitungsartikeln von seiner Verurteilung erfahren hätten und nunmehr annehmen würden, dass er homosexuell sei, als nicht glaubhaft erachtete. Der Revision gelingt es mit ihrem Vorbringen nicht aufzuzeigen, dass diese Beweiswürdigung an einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Unvertretbarkeit leidet.
15 Die Revision bemängelt weiters, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur legalen und sicheren Erreichbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen, weil es keine Feststellungen zu den aufgrund der Covid‑19‑Pandemie verhängten Lockdown-Maßnahmen in der Russischen Föderation getroffen habe. Diesem Vorbringen ist zu entgegnen, dass das BVwG primär schon eine asylrelevante Verfolgung des Revisionswerbers mangels Glaubhaftigkeit des Vorbringens, die sich aus den umfassenden beweiswürdigenden Erwägungen des BVwG ergibt, verneint hat. Auf die lediglich in einer Alternativbegründung angestellten Überlegungen, dass der Revisionswerber durch eine Verlegung seines Aufenthaltsortes einer möglichen Verfolgung entgehen könne, weil nicht anzunehmen sei, dass die Familienangehörigen des Revisionswerbers in der Lage seien, ihn in der gesamten Russischen Föderation, insbesondere einer größeren Stadt, aufzuspüren, kommt es somit nicht an (vgl. zur Unzulässigkeit einer Revision bei einer tragfähigen Alternativbegründung etwa VwGH 10.8.2020, Ra 2020/18/0158, mwN).
16 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG (vgl. VwGH 21.2.2021, Ra 2020/18/0538, mwN).
17 Bei der Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK begründet, ist auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen abzustellen, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. VwGH 11.11.2020, Ra 2020/18/0432, mwN).
18 Wenn die Revision vorbringt, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es das Vorliegen eines Familienlebens auf Grund eines einzelnen Umstandes, nämlich der Haft des Revisionswerbers, ausgeschlossen habe, ist dazu auszuführen, dass das BVwG im Rahmen der Rückkehrentscheidung dazu vor dem Hintergrund der zitierten hg. Rechtsprechung nachvollziehbar zu dem Ergebnis kam, dass die Beziehung des Revisionswerbers aufgrund der Umstände, dass kein gemeinsamer Haushalt, kein Abhängigkeitsverhältnis und auch keine gemeinsamen Kinder vorlägen, kein nach Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben darstelle.
19 Zum gerügten Verstoß gegen die Verhandlungspflicht ist festzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof zwar bereits wiederholt ausgesprochen hat, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Daraus ist aber noch keine „absolute“ (generelle) Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Verfahren über aufenthaltsbeendende Maßnahmen abzuleiten. In eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann auch eine beantragte Verhandlung unterbleiben (vgl. VwGH 21.2.2021, Ra 2020/18/0507, mwN). Zudem kann ‑ trotz Vorliegen eines diesbezüglichen Antrages ‑ (ausnahmsweise) von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter anderem dann abgesehen werden, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint (vgl. VwGH 28.2.2019, Ra 2019/18/0063, mwN).
20 Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall gegeben. Die vom Revisionswerber in der Beschwerde ins Treffen geführte Beziehung mit einer in Österreich asylberechtigten russischen Staatsbürgerin wurde bereits vom BFA gewürdigt und auch das BVwG legte dieses Vorbringen seinem Erkenntnis zugrunde. Da zum Familien- oder Privatleben in der Beschwerde kein zusätzlicher relevanter Sachverhalt behauptet wurde und das BVwG die diesbezüglichen Angaben des Revisionswerbers zudem als wahr unterstellte, konnte insofern von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA‑VG ausgegangen werden. Vor diesem Hintergrund konnte das BVwG von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung Abstand nehmen.
21 Auch hinsichtlich des Vorbringens, das BVwG hätte in Bezug auf die im Rahmen der Erlassung des Einreiseverbotes durchzuführenden Gefährdungsprognose eine mündliche Verhandlung durchführen müssen, liegt ein im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung eindeutiger Fall vor. Zum einen stellt der Aufenthalt des Revisionswerbers durch die hohe Zahl der Straftaten über einen mehrjährigen Zeitraum, sowie die Art der begangenen Verbrechen (u.a. Raub, versuchter schwerer Raub sowie Vergewaltigung in Haft) in Zusammenschau mit der vom BFA und BVwG beschriebenen Persönlichkeitsstruktur fallbezogen bereits eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Mit dem lediglich abstrakt gehaltenen Vorbringen zur Verhandlungspflicht legt die Revision auch nicht dar, dass das BVwG von den Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofes zu § 21 Abs. 7 BFA‑VG abgewichen wäre oder welche Umstände das BVwG bei der Zukunftsprognose konkret zu berücksichtigen gehabt hätte, die zu einer anderen Prognoseentscheidung hätten führen können.
22 Wenn die Revision die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung in Bezug auf die sichere Erreichbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative moniert, wird auf die obigen Ausführungen zum Vorliegen einer Alternativbegründung verwiesen.
23 In der Revision werden demnach keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 29. März 2021
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