Normen
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §44 Abs1
VwGVG 2014 §44 Abs2
VwGVG 2014 §44 Abs3
VwGVG 2014 §44 Abs4
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021020167.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Das Land Niederösterreich hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vom 27. April 2021 wurde dem Revisionswerber zur Last gelegt, er habe am 13. Juli 2020 um 15:24 Uhr an einer näher bezeichneten Stelle im Ortsgebiet die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h (nach Abzug der Messtoleranz) um 46 km/h überschritten. Der Revisionswerber habe dadurch „§ 20 Abs. 2 StVO 1960 idF BGBl. I Nr. 52/2005, § 99 Abs. 2e StVO 1960 idF BGBl. I Nr. 39/2013“ verletzt, weshalb über ihn gemäß § 99 Abs. 2e StVO 1960 idF BGBl. I Nr. 39/2013 eine Geldstrafe in Höhe von € 370,‑‑ (sowie eine Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt sowie ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens in Höhe von € 37,‑‑ festgesetzt wurde.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (LVwG) die dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab, setzte einen Beitrag zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens in Höhe von € 74,‑‑ fest und erklärte eine ordentliche Revision gegen dieses Erkenntnis für nicht zulässig.
3 Das LVwG begründete seine Entscheidung unter Verweis auf den von ihm festgestellten „relevanten Verordnungstext“ sowie Fotografien vom Tatort im Wesentlichen damit, dass der Text der gegenständlichen Verordnung bezogen auf den Beginn des Ortsgebietes ‑ entgegen dem Beschwerdevorbringen - eindeutig sei und nicht nachvollzogen werden könne, „inwieweit es sich hiebei um keine exakte Fixierung des Ortsgebiets handeln soll“. Auch ein Kundmachungsmangel „bedingt durch die Situierung der Ortstafel mehr als 5 m vom geplanten Aufstellungsort“ könne ‑ wie aus den Fotos ersichtlich sei - nicht erkannt werden. Somit liege kein Grund vor, die Verordnung nicht anzuwenden bzw. ein „Normprüfungsverfahren“ beim Verfassungsgerichtshof zu initiieren.
4 Zum Unterbleiben der mündlichen Verhandlung führte das LVwG aus, der Revisionswerber sei anwaltlich vertreten und habe in seiner Beschwerde keinen Antrag auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung gestellt, sodass das LVwG von einem konkludenten Verzicht ausgehe.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis unter Kostenzuspruch wegen „inhaltlicher Rechtswidrigkeit, hilfsweise wegen ergebnisrelevanter Verfahrensfehler“ aufzuheben.
6 Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurückweisung der Revision als unzulässig, in eventu ihre Abweisung als unbegründet sowie den Zuspruch von Aufwandersatz.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
8 Die Revision erweist sich im Hinblick auf ihr Vorbringen, wonach das LVwG von der (näher zitierten und zu Verwaltungsstrafsachen ergangenen) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen sei, als zulässig und begründet. Soweit in der Revisionsbeantwortung von der belangten Behörde Überlegungen zu § 24 VwGVG angestellt werden, ist auf diese aufgrund des in Verwaltungsstrafsachen anzuwendenden § 44 VwGVG nicht weiter einzugehen.
9 Das Verwaltungsgericht hat nämlich gemäß § 44 Abs. 1 VwGVG in Verwaltungsstrafsachen grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. In den Abs. 2 bis 5 leg. cit. finden sich zulässige Ausnahmen von der Verhandlungspflicht. Ein Absehen von der Verhandlung ist nach dieser Bestimmung zu beurteilen und zu begründen (vgl. VwGH 14.9.2020, Ra 2020/02/0162, mwN).
10 Ein Absehen von der Verhandlung nach § 44 Abs. 2 und 4 VwGVG kommt nicht in Betracht, weil das LVwG die Beschwerde mit Erkenntnis als unbegründet abgewiesen hat. Auch ein ausdrücklicher Verzicht auf die Durchführung einer Verhandlung im Sinn des § 44 Abs. 5 VwGVG ist nicht ersichtlich (vgl. VwGH 26.4.2019, Ra 2018/02/0260, mwN).
11 Wenn das LVwG mangels eines entsprechenden Antrages von einem konkludenten Verzicht ausgeht, übersieht es, dass der Revisionswerber in seiner Beschwerde explizit „eine mündliche Verhandlung zur Durchführung eines Ortsaugenscheins“ beantragt hat, sodass das Unterbleiben einer Verhandlung auch nicht auf die Tatbestände des § 44 Abs. 3 VwGVG gestützt werden konnte (vgl. hierzu VwGH 22.3.2021, Ra 2020/17/0132, wonach die in § 44 Abs. 3 VwGVG normierten Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen).
12 Das LVwG wäre somit gemäß § 44 Abs. 1 VwGVG verpflichtet gewesen, die beantragte öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen und hat durch das Absehen von der Verhandlung das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.
13 Nach der ständigen hg. Rechtsprechung führt ein Verstoß des Verwaltungsgerichtes gegen die aus Art. 6 EMRK abgeleitete Verhandlungspflicht auch ohne nähere Prüfung einer Relevanz dieses Verfahrensmangels zur Aufhebung des Erkenntnisses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG (vgl. VwGH 14.12.2020, Ra 2019/02/0225, mwN).
14 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
15 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 16. September 2021
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