VwGH Ra 2020/22/0205

VwGHRa 2020/22/020522.11.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der P M, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 6. August 2020, LVwG‑750835/2/ER/AO, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Landeshauptstadt Linz), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37
AVG §45 Abs3
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §24 Abs1
VwGVG 2014 §24 Abs4
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220205.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1. Mit Bescheid vom 15. April 2020 wies der Bürgermeister der Landeshauptstadt Linz (im Folgenden: Behörde) den Erstantrag der Revisionswerberin, einer nigerianischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem in Österreich lebenden, über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügenden Ehemann, einem nigerianischen Staatsangehörigen, ab.

Die Behörde führte ‑ soweit hier von Bedeutung ‑ begründend aus, die Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG sei nicht erfüllt. Der erforderliche Unterhaltsbetrag für ein Ehepaar belaufe sich auf € 1.472,‑‑, dem stünden Lohneinkünfte des für den Unterhalt allein aufkommenden Ehemanns der Revisionswerberin von € 1.418,72 monatlich gegenüber. Aufgrund von Kreditschulden des Ehemanns sei bis vor kurzem in den Lohnzetteln eine Pfändung ausgewiesen gewesen. Für Februar 2020 scheine zwar eine Pfändung nicht mehr auf, es sei jedoch mangels eines Nachweises über die Abdeckung der Schulden bzw. die Einstellung des Exekutionsverfahrens davon auszugehen, dass der Lohn weiterhin gepfändet werde. In welcher Höhe die Kreditschulden derzeit abgestattet würden, sei nicht bekannt; die Behörde könne sich daher kein konkretes Bild von der finanziellen Situation des Ehemanns verschaffen. Es sei davon auszugehen, dass bei „Einbeziehung einer Pfändung“ das Einkommen nicht ausreiche, um die erforderlichen Unterhaltsmittel zu gewährleisten.

2. Die Revisionswerberin erhob gegen den Bescheid Beschwerde und brachte unter anderem vor, ihr Ehemann habe nachgewiesen, dass er mehr als € 1.700,‑‑ monatlich verdiene. Dem stehe lediglich eine Kreditrückzahlung von € 150,‑‑ monatlich entgegen, sodass hinreichende Unterhaltsmittel vorhanden seien.

Die Revisionswerberin legte diverse Unterlagen vor, darunter zwei Anwaltsschreiben der Kreditgläubigerin vom Mai 2020. Laut dem einen Schreiben sei eine zwangsweise Einbringung der Kreditschulden zuletzt im Jänner 2020 erfolgt und hafte per 7. Mai 2020 eine Forderung von insgesamt € 15.798,37 unberichtigt aus. Laut dem anderen Schreiben sei der Ehemann der Revisionswerberin um einen aktuellen Einkommensnachweis ersucht worden, erst im Anschluss daran könne über eine Ratenvereinbarung in Höhe von € 120,‑‑ entschieden werden.

3.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 6. August 2020 wies das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich die Beschwerde der Revisionswerberin ‑ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab.

Das Verwaltungsgericht stellte ‑ soweit hier von Bedeutung ‑ fest, die Revisionswerberin habe keine eigenen Einkünfte, sondern berufe sich auf den Unterhalt von ihrem Ehemann. Dieser beziehe aus einer unselbständigen Erwerbstätigkeit ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von € 1.702,24. Für Wohnungsmiete habe er € 176,19 monatlich aufzuwenden. Weiters habe er offene Kreditschulden (per 7. Mai 2020) von € 15.798,37, wovon ein Teil bereits eingeklagt und insofern im Februar 2018 die Fahrnis‑ und Gehaltsexekution bewilligt worden sei, sowie der andere Teil bereits im Juli 2016 fällig gestellt worden sei. Eine Vereinbarung über die Rückzahlung der Kreditschulden in bestimmten monatlichen Raten bestehe nicht.

In der Beweiswürdigung führte das Verwaltungsgericht aus, Widersprüche bestünden lediglich in Bezug auf die Rückzahlung der Kreditschulden, zumal die Revisionswerberin eine Ratenvereinbarung von € 150,‑‑ monatlich behauptet habe. Allerdings habe sie auch einen Mailverkehr vorgelegt, wonach eine von ihrem Ehemann angebotene Ratenvereinbarung von € 120,‑‑ monatlich von der Bank noch nicht akzeptiert worden sei. Auf „telefonische Anfragen“ des Verwaltungsgerichts vom 29. Juni und 6. August 2020 hätten die Gläubigeranwälte mitgeteilt, dass es „dieses Ansuchen auf Ratenvereinbarung“ gegeben habe, allerdings sei „eine solche“ nicht zustande gekommen.

Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht ‑ soweit hier von Belang ‑, zur Erfüllung der Voraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG müssten Einkünfte in Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes für im gemeinsamen Haushalt lebende Ehegatten von € 1.472,‑‑ monatlich vorliegen. Da die Revisionswerberin keine eigenen Einkünfte habe, sei auf das Einkommen ihres Ehemanns von € 1.702,24 monatlich abzustellen, wovon die regelmäßigen Aufwendungen abzuziehen seien. Was die vom Ehemann zu leistende Wohnungsmiete von € 176,19 betreffe, so liege diese unter dem Wert der freien Station und sei daher nicht einkommensmindernd zu berücksichtigen. Was die Kreditschulden anbelange, so habe das Ermittlungsverfahren ergeben, dass die behaupteten Ratenzahlungen von € 120,‑‑ bzw. € 150,‑‑ ein bloßes Anbot gewesen seien. Tatsächlich sei für einen Teil der Kreditschulden bereits Fahrnis- und Gehaltsexekution bewilligt worden, sodass eine Pfändung jederzeit in Betracht komme, auch der andere noch nicht eingeklagte Teil sei bereits fällig gestellt. Die Revisionswerberin bzw. ihr Ehemann müssten daher nachweisen, dass trotz der fälligen Kreditschulden von insgesamt mehr als € 15.000,‑‑ der erforderliche Unterhalt gewährleistet sei. Dieser Nachweis sei nicht erbracht worden, sodass die Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG nicht erfüllt sei. Die Gewährung des Aufenthaltstitels sei (aus näher erörterten Gründen) auch nicht gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten.

3.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, in der als Verfahrensmangel - unter anderem - geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht hätte eine mündliche Verhandlung zur Klärung des wesentlichen Sachverhalts durchführen müssen.

4.2. Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag auf Zurück- bzw. Abweisung der Revision.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat ‑ erwogen:

Die Revision ist ‑ entgegen dem den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Verwaltungsgerichts (§ 34 Abs. 1a VwGG) ‑ aus dem geltend gemachten Grund (Punkt 4.1.) zulässig und auch begründet.

6.1. Rechtsfragen des Verfahrensrechts sind dann von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechts auf dem Spiel stehen bzw. wenn die in der angefochtenen Entscheidung getroffene Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt ist und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Ergebnis geführt hat (vgl. VwGH 20.10.2020, Ra 2019/22/0135, Pkt. 5.1.).

Eine solche Rechtswidrigkeit ist dem Verwaltungsgericht hier unterlaufen, weil es die fallbezogen gebotene Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen hat.

6.2. Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

Die Akten lassen dann im Sinn des § 24 Abs. 4 VwGVG erkennen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, wenn von vornherein absehbar ist, dass die mündliche Erörterung nichts zur Ermittlung der materiellen Wahrheit beitragen kann. Dies ist der Fall, wenn in der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet wird und auch keine Rechtsfragen aufgeworfen werden, deren Erörterung in einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erforderlich wäre (vgl. etwa VwGH 29.6.2021, Ra 2021/22/0047, Rn. 11; 24.6.2020, Ro 2020/22/0006, Rn. 12).

Indessen hat ein Verwaltungsgericht im Sinn des § 24 Abs. 4 VwGVG in Verbindung mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC auch ohne Antrag eine mündliche Verhandlung von Amts wegen durchzuführen, wenn es dies für erforderlich hält, wobei die Abhaltung der Verhandlung nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen steht (vgl. VwGH 26.7.2021, Ra 2019/22/0121, Pkt. 11.1.). Dies ist unter anderem dann anzunehmen, wenn ein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet oder die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde substanziiert bekämpft wird (vgl. VwGH 9.8.2018, Ra 2018/22/0160, Rn. 8). In einem solchen Fall hat das Verwaltungsgericht daher grundsätzlich eine Verhandlung abzuhalten, um eine unmittelbare Klärung der strittigen Fragen durch mündliche Erörterung und Vornahme der gebotenen Beweisaufnahmen herbeizuführen. Das Verwaltungsgericht hat weiters auch das rechtliche Gehör grundsätzlich im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einzuräumen (vgl. zum Ganzen VwGH 30.1.2019, Ra 2018/03/0131, Rn. 10).

7.1. Vorliegend führte die Behörde zur strittigen Erteilungsvoraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 NAG aus, dass aufgrund offener Kreditschulden des Ehemanns der Revisionswerberin bis vor kurzem eine Lohnpfändung vollzogen worden sei. Ab Februar 2020 scheine zwar eine Pfändung nicht mehr auf, es sei jedoch davon auszugehen, dass der Lohn weiterhin gepfändet werde. In welcher Höhe die Kreditschulden derzeit abgestattet würden, sei nicht bekannt, die Behörde könne sich daher kein konkretes Bild von der finanziellen Situation des Ehemanns verschaffen; es sei davon auszugehen, dass bei „Einbeziehung einer Pfändung“ keine hinreichenden Unterhaltsmittel vorhanden seien.

7.2. Dem hielt die Revisionswerberin in der Beschwerde entgegen, dass sich die Kreditrückzahlung ihres Ehemanns auf lediglich € 150,‑‑ monatlich belaufe, sodass hinreichende Unterhaltsmittel vorhanden seien. Sie brachte damit (auch) zum Ausdruck, dass der - wenngleich in der Vergangenheit fällig gestellte und zum Teil bereits exekutiv betriebene Kredit - fortan in Raten zurückzuzahlen sei, die Kreditschulden daher nicht sogleich zur Gänze zu bedienen seien und insbesondere auch die zwangsweise Einbringung nicht (mehr) fortgeführt werde. Die Revisionswerberin legte auch Korrespondenz zwischen ihrem Ehemann und den Gläubigeranwälten vor, wonach die Lohnpfändung zuletzt im Jänner 2020 vollzogen und in der Folge eine Ratenvereinbarung (genannt wird dabei ein Betrag von € 120,‑‑ monatlich) verhandelt wurde.

7.3. Mit dem aufgezeigten Vorbringen erstattete die Revisionswerberin ein über das behördliche Ermittlungsverfahren hinausgehendes konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen, das auch entscheidungswesentlich ist. Im Hinblick darauf wäre das Verwaltungsgericht jedoch ‑ nach der bereits erörterten Rechtsprechung (Punkt 6.2.) ‑ bei pflichtgemäßer Ermessensübung verhalten gewesen, auch ohne Antrag eine Verhandlung von Amts wegen durchzuführen, um eine unmittelbare Klärung durch mündliche Erörterung und Vornahme der erforderlichen Beweisaufnahmen (etwa durch zeugenschaftliche Vernehmung des Ehemanns der Revisionswerberin und eines informierten Vertreters der Kreditgläubigerin) herbeizuführen.

7.4. Das Verwaltungsgericht berief sich zwar im angefochtenen Erkenntnis darauf, dass es zu dem betreffenden Beschwerdevorbringen (ohnehin) Ermittlungen angestellt habe. So habe es am 29. Juni und am 6. August 2020 „telefonische Anfragen“ bei den Gläubigeranwälten durchgeführt, wobei mitgeteilt worden sei, dass es „dieses Ansuchen“ auf Ratenvereinbarung (offenbar gemeint das in Rede stehende Anbot von € 120,‑‑) gegeben habe, „eine solche“ Vereinbarung aber nicht zustande gekommen sei.

Die vom Verwaltungsgericht geschilderten Erhebungen begegnen jedoch Bedenken: So haben die telefonischen Anfragen in den Akten keinerlei Niederschlag gefunden, diesbezügliche Aktenvermerke sind nicht ersichtlich, die Vornahme und das konkrete Ergebnis der Anfragen ist daher objektiv nicht nachvollziehbar. Weiters ist nicht klar, ob sich die durch die Gläubigeranwälte mitgeteilte Ablehnung einer Ratenvereinbarung nur auf das Anbot von € 120,‑‑ oder ebenso auf ein höheres Anbot (in der Beschwerde ist von € 150,‑‑ die Rede) bezog. Ferner wurde den Parteien zu den Ermittlungsergebnissen des Verwaltungsgerichts auch kein Parteiengehör eingeräumt.

Im Hinblick darauf bestehen Bedenken auch gegen die ‑ auf die telefonischen Erhebungen gestützten ‑ Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis, wonach eine Vereinbarung über die Kreditrückzahlung in monatlichen Raten nicht bestehe und infolge Fälligkeit der gesamten Kreditschulden die erforderlichen Unterhaltsmittel nicht gewährleistet seien.

8. Das Verwaltungsgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren eine mündliche Verhandlung durchzuführen haben, um - im Sinn der vorangehenden Erörterungen - das Beschwerdevorbringen einer nachvollziehbaren Klärung durch mündliche Erörterung und Vornahme der gebotenen Beweisaufnahmen zuzuführen.

Eine solche Verhandlung wird der Revisionswerberin auch Gelegenheit bieten, die erstmals in der Revision aufgestellten Behauptungen, wonach ihr Ehemann ein weiteres Einkommen aus einer zweiten Beschäftigung beziehe und zudem über Ersparnisse verfüge, geltend zu machen und unter Beweis zu stellen.

9. Indem das Verwaltungsgericht die Durchführung der gebotenen mündlichen Verhandlung unterließ, belastete es daher seine Entscheidung mit einem erheblichen Verfahrensmangel.

Das angefochtene Erkenntnis war deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und lit. c VwGG aufzuheben.

10. Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 22. November 2021

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