Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z5
FrPolG 2005 §67 Abs1
FrPolG 2005 §67 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210100.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine im März 1968 geborene tschechische Staatsangehörige, hält sich seit Anfang März 2017 in Österreich auf. Ihr wurde am 25. August 2017 eine Anmeldebescheinigung ausgestellt. Sie war in Österreich beginnend ab 13. März 2017 ‑ abgesehen von zwei Unterbrechungen in der Dauer von etwa drei Monaten ‑ im Wesentlichen durchgehend bis 6. September 2019 als Arbeiterin beschäftigt. Nach dem kurzfristigen Bezug von Arbeitslosengeld arbeitet die Revisionswerberin nunmehr seit 20. September 2019 bei einem Unternehmen der Gastronomiebranche. Sie verfügt in L. über eine Mietwohnung. In dieser Stadt wohnen auch ihre zwei erwachsenen Töchter mit deren je drei Kindern und ihren Lebensgefährten.
2 Mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 25. September 2018 wurde die Revisionswerberin wegen des Vergehens des (teilweise versuchten) Diebstahls durch Einbruch gemäß §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1, 2 und 3; § 15 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwölf Monaten rechtskräftig verurteilt. Diesem Schuldspruch lag (zusammengefasst) zugrunde, die Revisionswerberin habe im Zusammenwirken mit ihrem Ehemann im Zeitraum 13. Jänner 2017 bis 6. Juni 2017 in sieben Angriffen bei Zugängen zu Duschen auf verschiedenen Rastplätzen angebrachte Münztresore aufgebrochen und daraus insgesamt ca. 600 € gestohlen. Auf ähnliche Art hätten sie in der Nacht zum 25. Mai 2017 ca. 600 € aus Münzboxen von zwei auf dem Areal einer Tankstelle befindlichen Waschautomaten gestohlen und überdies einen solchen (erfolglos gebliebenen) Versuch bei einer anderen Tankstelle unternommen. Schließlich wurden der Revisionswerberin und ihrem Ehemann noch zwei weitere Versuche von Einbruchsdiebstählen, und zwar am 5. April 2017 in Bezug auf (Kupfer‑)Kabel und am 2. Juni 2017 in Bezug auf Wertgegenstände in einem Imbissstand, zur Last gelegt. Bei der Strafbemessung wertete das Strafgericht die Faktenvielzahl als erschwerend, mildernd hingegen das teilweise Tatsachengeständnis und den Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben sei, sowie die bisherige Unbescholtenheit, weshalb die Freiheitsstrafe zur Gänze bedingt nachgesehen habe werden können.
3 Im Hinblick auf diese Straftaten erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ‑ nachdem die Revisionswerberin im Rahmen des schriftlich eingeräumten Parteiengehörs am 24. Juni 2019 eine Stellungnahme erstattet hatte ‑ gegen sie mit Bescheid vom 21. August 2019 gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein mit zwei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.
4 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 11. Februar 2020 als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens ‑ Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet ‑ erwogen hat:
6 Die Revision erweist sich ‑ wie sich aus den weiteren Ausführungen ergibt ‑ entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG als zulässig und auch als berechtigt.
7 Die Revisionswerberin hatte in ihrer (erkennbar selbst verfassten) Stellungnahme vom 24. Juni 2019 sinngemäß vorgebracht, sie habe am 1. September 2019 in L. von einer Wohnungsanlagen‑Gesellschaft eine Wohnung zur Verfügung gestellt bekommen. In Tschechien habe sie keine Wohnung; dort wäre sie obdachlos und habe „gar nichts“. Ihr Lebensmittelpunkt sei hier in Österreich.
8 Zur Frage der bei einer Rückkehr nach Tschechien erwartbaren Verhältnisse hielt das BFA in seinem Bescheid vom 21. August 2019 nur fest, die Revisionswerberin sei arbeitsfähig und gesund. Es sei ihr auch vor der Niederlassung in Österreich möglich gewesen, „außerhalb Österreichs“ zu leben. Deshalb sei davon auszugehen, dass sie ihren Lebensunterhalt „außerhalb Österreichs“ bestreiten könne. Es lägen daher keine außergewöhnlichen Umstände vor, die ein Abschiebungshindernis bilden könnten.
9 In der Beschwerde verwies die Revisionswerberin demgegenüber neuerlich darauf, dass sie in Tschechien weder einen „Wohnsitz“ noch Verwandte habe. Sie sei „damals“ ‑ offenbar gemeint: vor ihrer Niederlassung in Österreich ‑ in ihrer „ehemaligen Heimat“ obdachlos gewesen und habe deshalb die Reise nach Österreich zu ihren beiden Töchtern angetreten.
10 Mit diesem Vorbringen setzte sich das BVwG im angefochtenen Erkenntnis nicht auseinander, obwohl bei der nach § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Interessenabwägung gemäß Abs. 2 Z 5 dieser Bestimmung insbesondere auch der Gesichtspunkt „Bindungen zum Heimatstaat“ zu berücksichtigen ist (vgl. etwa VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0097, Rn. 23; siehe beispielsweise auch VwGH 26.4.2018, Ra 2018/21/0024, Rn. 13, mwN). Würde das Vorbringen der Revisionswerberin, dass sie bei einer Rückkehr nach Tschechien (wieder) der Obdachlosigkeit ausgesetzt sei und dort über keine ausreichende Lebensgrundlage verfüge, zutreffen, dann wäre selbst mit dem vorliegend verhängten zweijährigen Aufenthaltsverbot, das gleichzeitig den Verlust ihrer Wohnung und ihres Arbeitsplatzes in Österreich zur Folge hätte, ein gravierender Eingriff in ihre privaten Interessen verbunden. Angesichts dessen ist nicht ausgeschlossen, dass das BVwG unter Einbeziehung der ins Treffen geführten Situation bei einer Rückkehr in den Heimatstaat bei der Interessenabwägung insgesamt zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, zumal zu berücksichtigen ist, dass die Straftaten, mögen sie auch ‑ wie das BVwG zu Recht ins Treffen führte ‑ durch ihre mehrfache Wiederholung in einem Zeitraum von etwa fünf Monaten und deren Verübung (teilweise) trotz der schon in Österreich ausgeübten Beschäftigung gekennzeichnet sein, zuletzt vor mehr als zweieinhalb Jahren begangen wurden und der Revisionswerberin insofern ein Wohlverhalten zugute zu halten ist. In diesem Zusammenhang ist im Übrigen noch anzumerken, dass die vom BVwG ergänzend herangezogenen Bestrafungen wegen (nicht einmal in § 53 Abs. 2 Z 1 FPG genannten) Verkehrsdelikten nicht maßgeblich zu einer Verstärkung der nach § 67 Abs. 1 FPG zu treffenden Gefährdungsprognose beitragen können.
11 Das Unterbleiben der in der Beschwerde beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG damit, dass der Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA‑VG aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt sei. Dabei nahm das BVwG ‑ wie in der Revision im Ergebnis zutreffend gerügt wird ‑ jedoch nicht auf die zu dieser Bestimmung ergangene ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Bedacht, wonach bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Nur in „eindeutigen Fällen“ könne auch eine beantragte Verhandlung unterbleiben (vgl. etwa VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0267, Rn. 7, mwH).
12 Vom Vorliegen eines solchen eindeutigen Falles ist das BVwG aber gar nicht ausgegangen; wie sich schon aus den Ausführungen in Rn. 10 ergibt, wäre das bei Einbeziehung des Vorbringens der Revisionswerberin zu ihrer Situation bei einer Rückkehr nach Tschechien auch nicht gerechtfertigt gewesen. Das BVwG hätte sich daher von der Revisionswerberin, der auch vor dem BFA nur eine schriftliche Äußerungsmöglichkeit eingeräumt worden war, einen persönlichen Eindruck verschaffen müssen. Im Übrigen lag in Bezug auf die behauptete Rückkehrsituation auch deshalb kein geklärter Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA‑VG vor, weil der auf keinen Ermittlungsergebnissen und keinem entsprechenden Tatsachensubstrat beruhenden, nur unter dem Gesichtspunkt eines allfälligen „Abschiebungshindernisses“ vorgenommenen Unterstellung des BFA zum Vorliegen einer ausreichenden Lebensgrundlage „außerhalb Österreichs“ in der Beschwerde fallbezogen ausreichend entgegen getreten wurde. Das diesbezügliche Vorbringen insbesondere zu einer infolge des Aufenthaltsverbotes drohenden Obdachlosigkeit hätte daher einer näheren Klärung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bedurft und in diesem Zusammenhang auch das Verhältnis der Revisionswerberin zu ihrem Ehemann ‑ das BVwG ging bloß aufgrund der Meldedaten von einer Trennung aus ‑ geprüft werden können. Gleiches gilt für die Beziehung der Revisionswerberin zu ihren Töchtern und den Enkelkindern, wozu sich das BVwG in seiner Begründung auf die Verneinung eines gemeinsamen Haushalts und eines Abhängigkeitsverhältnisses beschränkte, auf das Vorbringen in der Beschwerde zur Unterstützung bei der Kinderbetreuung jedoch nicht konkret einging.
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher aus den dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
14 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 16. Juli 2020
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