VwGH Ra 2020/18/0152

VwGHRa 2020/18/015215.9.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A S, vertreten durch Mag. Karin Leitner, Rechtsanwältin in 8700 Leoben, Mühltalerstraße 29, als bestellte Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Mag.a Sarah Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Schießstattgasse 30/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. März 2020, W209 2175118‑1/8E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §45 Abs3
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180152.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung (Abweisung der Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der darauf aufbauenden Spruchpunkte) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von 1.106,40 EUR binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 10. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 4. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.

4 Begründend führte das BVwG ‑ soweit für das Revisionsverfahren relevant ‑ zur Nichtgewährung subsidiären Schutzes aus, dass die Heimatprovinz des Revisionswerbers als unsicher zu werten sei, dem Revisionswerber jedoch eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif und Herat offenstehe.

5 Die vorliegende außerordentliche Revision wendet sich unter anderem gegen die Nichtgewährung subsidiären Schutzes und bringt unter Verweis auf näher dargestellte Berichte zusammengefasst vor, das BVwG habe sich nicht mit der Lage im Herkunftsstaat des Revisionswerbers unter Berücksichtigung der Covid-19-Pandemie auseinandergesetzt. Die Covid‑19‑Pandemie habe massive Auswirkungen auf die medizinische Versorgung in den Städten, die Verfügbarkeit von Arbeit und Nahrungsmitteln, die hygienischen Zustände in den Unterkünften und die Bewegungsmöglichkeiten innerhalb des Landes, weshalb dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat und Mazar‑e Sharif nicht zumutbar sei.

6 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 2 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig und begründet.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach erkannt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 7.5.2020, Ra 2019/18/0488, mwN).

10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat (auch) das BVwG seiner Entscheidung die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Zutreffend verweist die Revision darauf, dass bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben können (vgl. etwa VwGH 21.7.2020, Ra 2020/18/0088, mwN). Eine Verletzung dieser Vorgabe stellt einen Verfahrensmangel dar (vgl. VwGH 26.2.2020, Ra 2020/20/0049, mwN).

11 Ein derartiger Verfahrensfehler ist dem BVwG im vorliegenden Fall unterlaufen.

12 Dem angefochtenen Erkenntnis sind keinerlei Feststellungen zur Covid‑19‑Pandemie oder rechtliche Erwägungen zu deren Auswirkung auf die Frage der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative für den Revisionswerber in Herat und Mazar-e Sharif zu entnehmen.

13 Vor dem Hintergrund der Ausbreitung der Covid-19-Pandemie in Afghanistan sowie der vom BVwG festgestellten ohnehin schon angespannten Versorgungs‑, Wohnungs- und Arbeitsmarktsituation in Mazar‑e Sharif und Herat hätte sich das BVwG ‑ worauf die Revision unter Zitierung näher angeführter Berichte zu Recht hinweist ‑ mit der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Covid‑19‑Pandemie in Afghanistan sowie unter Einbeziehung von zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderinformationen unter Wahrung des Parteiengehörs auseinandersetzen müssen.

14 Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG daher die entsprechenden Feststellungen zur aktuellen Lage in Afghanistan im Hinblick auf die Covid‑19‑Pandemie unter Einräumung von Parteiengehör an den Revisionswerber zu treffen haben.

15 Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensmängel zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16 Der Kostenzuspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. September 2020

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