Normen
ABGB §6
Anti-GesichtsverhüllungsG 2017 §1
Anti-GesichtsverhüllungsG 2017 §2
Anti-GesichtsverhüllungsG 2017 §2 Abs1
Anti-GesichtsverhüllungsG 2017 §2 Abs2
B-VG Art133 Abs6
MRK Art10
MRK Art8
VwGG §25a Abs4
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020010006.J00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Vorgeschichte
1 Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien vom 7. März 2019 (Revisionswerberin) wurde der Mitbeteiligte einer Übertretung von § 2 Abs. 1 des Anti‑Gesichtsverhüllungsgesetzes (AGesVG) schuldig erkannt und mit einer Geldstrafe in der Höhe von € 70,‑ ‑ (Ersatzfreiheitsstrafe: ein Tag und 11 Stunden) bestraft.
2 Ihm wurde zur Last gelegt, am 11. August 2018 an einem näher umschriebenen öffentlichen Ort seine Gesichtszüge durch „Tragen einer Sturmhaube unmittelbar vor einer Auseinandersetzung“ in einer Weise verborgen zu haben, dass er nicht mehr erkennbar gewesen sei.
Angefochtenes Erkenntnis
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen das Straferkenntnis Folge, stellte das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 1 VStG ein und sprach aus, dass die Revision gemäß § 25a Abs. 4 VwGG wegen Verletzung in Rechten nicht zulässig sei; im Übrigen sei die Revision hingegen zulässig.
4 Begründend stellte das Verwaltungsgericht ‑ soweit entscheidungswesentlich ‑ fest, dass der Mitbeteiligte am 11. August 2018, von 23.52 bis 23.57 Uhr, an einem näher beschriebenen Platz innerhalb einer Gruppe von rund 40 größtenteils vermummten Personen eine Sturmhaube getragen habe, um im Zuge einer körperlichen Auseinandersetzung mit Fans eines anderen Fußballclubs die Feststellung seiner Identität zu verhindern.
5 Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, gemäß § 2 Abs. 1 AGesVG begehe eine Verwaltungsübertretung und sei mit einer Geldstrafe bis zu € 150,‑ ‑ zu bestrafen, wer an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise verhülle oder verberge, dass sie nicht mehr erkennbar seien. Das AGesVG kenne keine Legaldefinition der verwendeten Begriffe „verhüllt“ und „verbirgt“. Aus den in § 2 Abs. 2 leg. cit. festgelegten Ausnahmen gehe hervor, dass nicht jede Form der „Verhüllung“ oder „Verbergung“ nach dem AGesVG geahndet werde. Folglich sei der Inhalt dieser Rechtsbegriffe interpretativ zu klären. Jede Gesetzesauslegung habe mit der Erforschung des Wortsinns zu beginnen. Werde auf diesem Weg keine Eindeutigkeit des Gesetzeswortlauts erkannt, sei insbesondere der Regelungszusammenhang, in dem die anzuwendende Norm stehe, zu berücksichtigen. Dabei dürfe einem Gesetz kein anderer Verstand beigelegt werden, als welcher aus der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhang und der klaren Absicht des Gesetzgebers hervorleuchte. Die Absicht des Gesetzgebers lasse sich im gegenständlichen Fall aus den Gesetzesmaterialien erschließen. Im Lichte der ‑ näher dargestellten ‑ Gesetzesmaterialien zum AGesVG komme das Verwaltungsgericht bei historisch‑teleologischer Interpretation der Rechtsbegriffe „verhüllt“ und „verbirgt“ im Sinne des § 2 Abs. 1 AGesVG zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber mit Erlassung dieser Bestimmung allein die „Verhüllung“ bzw. „Verbergung“ von Gesichtszügen aus religiösen Gründen erfassen und ahnden habe wollen. Dieses Ergebnis korrespondiere mit dem Gebot, Verwaltungsstraftatbestände nicht ausdehnend auszulegen. Im konkreten Fall sei die Benützung der Sturmhaube jedoch nicht aus religiösen Gründen erfolgt, sondern habe zur Verhinderung einer Identitätsfeststellung im Zuge einer körperlichen Auseinandersetzung gedient. Dieses Verhalten des Mitbeteiligten sei von § 2 Abs. 1 AGesVG nicht erfasst, eine Bestrafung nach dieser Norm daher nicht zulässig gewesen.
6 Zur Zulässigkeit der Revision führte das Verwaltungsgericht abschließend aus, dass die ordentliche Revision ‑ ungeachtet des § 25a Abs. 4 VwGG in Bezug auf eine Revision wegen Verletzung in Rechten gemäß Art. 133 Abs. 6 Z 1 B‑VG ‑ zulässig sei, weil es an höchstgerichtlicher Judikatur zu § 2 Abs. 1 AGesVG fehle.
7 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende Amtsrevision mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben. Der Mitbeteiligte beantragt in seiner Revisionsbeantwortung der Revision kostenpflichtig nicht Folge zu geben.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zulässigkeit
8 Eine Verwaltungsübertretung gemäß § 2 Abs. 1 AGesVG ist mit einer Geldstrafe von bis zu € 150,‑ ‑, im Falle ihrer Uneinbringlichkeit gemäß § 16 Abs. 2 VStG mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen zu bestrafen, weshalb die Voraussetzungen des § 25a Abs. 4 Z 1 VwGG nicht erfüllt sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfasst die „Bagatellgrenze“ des § 25a Abs. 4 VwGG jedoch nicht Amtsrevisionen, sodass eine Amtsrevision zur Sicherung der Einheit und Gesetzmäßigkeit der Vollziehung unabhängig von der Höhe der verhängten Strafe und des Strafrahmens möglich ist (vgl. etwa VwGH 9.8.2018, Ra 2018/22/0102, Rn. 7; 27.9.2019, Ra 2019/02/0008, Rn. 10, jeweils mwN). Die vorliegende Amtsrevision ist daher nicht absolut unzulässig.
9 Vielmehr ist die Amtsrevision im Sinne der Zulassungsbegründung des Verwaltungsgerichts zulässig; sie ist auch berechtigt.
Rechtslage
10 Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit (Anti‑Gesichtsverhüllungsgesetz ‑ AGesVG), BGBl. I Nr. 68/2017, lauten:
„Ziel
§ 1. Ziele dieses Bundesgesetzes sind die Förderung von Integration durch die Stärkung der Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens in Österreich. Integration ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, dessen Gelingen von der Mitwirkung aller in Österreich lebenden Menschen abhängt und auf persönlicher Interaktion beruht.
Verhüllungsverbot
§ 2. (1) Wer an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise verhüllt oder verbirgt, dass sie nicht mehr erkennbar sind, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 150 Euro zu bestrafen. Die Verwaltungsübertretung kann durch Organstrafverfügung gemäß § 50 VStG in der Höhe von bis zu 150 Euro geahndet werden. Öffentliche Orte oder öffentliche Gebäude sind Orte, die von einem nicht von vornherein beschränkten Personenkreis ständig oder zu bestimmten Zeiten betreten werden können, einschließlich der nicht ortsfesten Einrichtungen des öffentlichen und privaten Bus‑, Schienen‑, Flug‑ und Schiffsverkehrs.
(2) Ein Verstoß gegen das Verhüllungsverbot gemäß Abs. 1 liegt nicht vor, wenn die Verhüllung oder Verbergung der Gesichtszüge durch Bundes‑ oder Landesgesetz vorgesehen ist, im Rahmen künstlerischer, kultureller oder traditioneller Veranstaltungen oder im Rahmen der Sportausübung erfolgt oder gesundheitliche oder berufliche Gründe hat.“
Verhüllungsverbot iSd § 2 AGesVG
11 § 2 Abs. 1 AGesVG setzt unter Strafe, wer an einem öffentlichen Ort oder in öffentlichen Gebäuden seine Gesichtszüge (durch Kleidung oder andere Gegenstände) in einer Weise verhüllt oder verbirgt, dass sie nicht mehr erkennbar sind.
12 Das Verwaltungsgericht vertritt die Rechtsansicht, die Norm müsse historisch‑teleologisch einschränkend ausgelegt werden. Der Gesetzgeber habe mit Erlassung dieser Bestimmung allein das Verhüllen bzw. Verbergen von Gesichtszügen aus religiösen Gründen erfassen und ahnden wollen. Andere Formen der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit (wie etwa im vorliegenden Fall durch das Tragen einer Sturmhaube, um im Zuge einer körperlichen Auseinandersetzung mit Fans eines anderen Fußballclubs die Feststellung der Identität zu verhindern) seien von § 2 Abs. 1 AGesVG nicht erfasst.
13 Die Amtsrevision macht dagegen zusammengefasst geltend, das AGesVG untersage nicht nur das Tragen konservativ‑islamischer Schleier, sondern auch jede andere unbegründete Form der öffentlichen Verhüllung. Aus dem Vorliegen von Ausnahmetatbeständen, unter denen die Verhüllung zulässig sei, ergebe sich im Umkehrschluss, dass nicht nur das Tragen eines religiösen Schleiers verboten sei. Den Erläuterungen der Regierungsvorlage zum Gesetz sei zu entnehmen, dass die Zielsetzung die Ermöglichung zwischenmenschlicher Kommunikation als einer wesentlichen Funktionsbedingung für ein friedliches Zusammenleben in einem demokratischen Rechtsstaat gewesen sei. Für Kommunikation bilde das Erkennen des Anderen bzw. dessen Gesichts eine notwendige Voraussetzung. Aus historisch‑teleologischer Sicht habe der Gesetzgeber somit nicht nur die „Verhüllung“ aus religiösen Gründen, sondern jede Form derselben, die ein „Nichterkennen unmöglich“ [gemeint offenbar: ein Erkennen unmöglich] mache, erfassen wollen.Eine Verhüllung des Gesichtes, die den Verdacht aufkommen lassen könne, dass damit der Zweck des unerkannten Begehens von (gerichtlichen) Straftaten verfolgt werde, weil derjenige, der sein Gesicht verhülle, eben Erkennbarkeit und persönliche, zwischenmenschliche Kommunikation zu verhindern suche, liege im Bereich des Regelungszwecks des AGesVG.
14 Demgegenüber erwidert der Mitbeteiligte in der von ihm erstatteten Revisionsbeantwortung, dass weder die Wortinterpretation noch eine systematische Auslegung der Gesetzesbegriffe „Verhüllung“ und „Verbergung“ klären könnten, was unter diesen Begriffen zu verstehen sei. Es bleibe daher nichts anderes übrig, als den Sinn des Gesetzes zu ermitteln, was das Verwaltungsgericht zutreffend getan habe. Die Amtsrevision ignoriere völlig den Zusammenhang, in welchen der Gesetzgeber das gewünschte friedliche Zusammenleben gestellt habe. Es sei ihm dabei nicht um das Zusammenleben von Anhängern von Fußballclubs gegangen, sondern um jenes von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion in einer pluralistischen Gesellschaft. Der Gesetzgeber habe nicht das friedliche Zusammenleben per se schützen wollen, sondern das friedliche Zusammenleben zwischen Menschen verschiedener Religionen. Dabei sei er davon ausgegangen, dass dieses Zusammenleben durch religiöse Verschleierung gefährdet werde. Die vermeintlich „neutrale“ Formulierung des Gesetzestextes stehe im krassen Widerspruch zu den Gesetzesmaterialien, die als Ziel keine anderen außer integrativen Gründen ins Treffen führe.
Die in Rede stehende Vorschrift müsse vielmehr auch verfassungskonform ausgelegt werden. Das AGesVG sei in mehrfacher Weise grundrechtlich, und damit auch verfassungsrechtlich problematisch. In diesem Zusammenhang verweist der Mitbeteiligte zunächst auf das Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 13 StGG, Art. 10 EMRK). Der Anlassfall sei zwar keine Form typischer Meinungskundgebung, er betreffe aber doch die Wahl der Kleidung und falle somit unter die Meinungsfreiheit. Darüber hinaus sei das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) betroffen. Das Gesetz in seiner derzeitigen Ausgestaltung, sei nicht verfassungskonform: Weder bestehe ein öffentliches Interesse im Sinn des Art. 10 Abs. 2 EMRK, das Verhüllen von Gesichtszügen in der Öffentlichkeit allgemein zu verbieten, noch wäre dieses Verbot verhältnismäßig. Auch bestehe kein öffentliches Interesse im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK, dieses Grundrecht derart pauschal einzuschränken, wie es das AGesVG vorsehe. Das Gesetz sei auch gleichheitswidrig, weil es in § 2 Abs. 2 leg. cit. nur bestimmte Formen der Verhüllung zulasse, es aber keine Ausnahmeregelung gebe, dass eine Verhüllung der Gesichtszüge aus anderen Gründen erlaubt sei. Bei verfassungskonformer Interpretation des § 2 Abs. 1 AGesVG hätte der Mitbeteiligte nicht bestraft werden dürfen.
15 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes findet die Methode der verfassungskonformen Interpretation ‑ wie auch jede andere Auslegungsmethode ‑ ihre Grenze im eindeutigen Wortlaut des Gesetzes (vgl. etwa VwGH 13.3.2009, 2005/12/0240; 29.6.2011, 2009/12/0141; 24.2.2016, Ro 2016/10/0005, 0006). Dies bedeutet bei Auslegung von Gesetzen einen Vorrang der Wortinterpretation in Verbindung mit der grammatikalischen und der systematischen Auslegung sowie äußerste Zurückhaltung gegenüber der Anwendung sogenannter „korrigierender Auslegungsmethoden“ (vgl. etwa VwGH 3.10.2018, Ro 2018/12/0014; 22.3.2019, Ra 2018/04/0089). Können allerdings auf Grund des eindeutigen und klaren Wortlautes einer Vorschrift Zweifel über den Inhalt der Regelung nicht aufkommen, dann ist eine Untersuchung, ob nicht etwa eine andere Auslegungsmethode einen anderen Inhalt ergeben würde, nicht möglich. Auch die verfassungskonforme Auslegung hat dann zurückzutreten, denn nur im Zweifelsfalle gilt die Regel, der verfassungskonformen Auslegung sei der Vorzug zu geben; ist der Wortlaut einer Regelung eindeutig, liegt ein solcher Zweifelsfall nicht vor (vgl. VwGH 26.4.2006, 2005/12/0251, mwN).
16 § 2 Abs. 1 AGesVG knüpft die Strafsanktion nach seinem klaren Wortlaut nur daran, dass die Gesichtszüge der beschuldigten Person durch Verhüllen oder Verbergen mittels Kleidung oder anderen Gegenständen nicht mehr erkennbar sind. Nicht entscheidend ist nach § 2 Abs. 1 AGesVG hingegen, ob und welche Gründe dem Verhüllen bzw. Verbergen der Gesichtszüge zugrunde liegen. Insbesondere beruht das Verbot nicht auf der religiösen Konnotation der verhüllenden oder verbergenden Kleidungsstücke. Maßgeblich ist nur der Umstand, dass dadurch die Gesichtszüge der betroffenen Person nicht mehr erkennbar sind.
17 In § 2 Abs. 2 AGesVG werden anschließend Ausnahmen von diesem Verhüllungsverbot festgelegt. Zu Recht weist die Amtsrevision darauf hin, dass diese Ausnahmetatbestände nur dann einen Sinn ergeben, wenn § 2 Abs. 1 AGesVG als allgemeines Verhüllungsverbot in der Öffentlichkeit verstanden wird. Wäre nämlich das Verhüllungsverbot, wie das Verwaltungsgericht vermeint, auf die Verhüllung bzw. das Verbergen von Gesichtszügen aus religiösen Gründen beschränkt, bedürfte es der Ausnahmen des Abs. 2 leg. cit. nicht, läge doch bei einer Verhüllung des Gesichts etwa aus gesundheitlichen, beruflichen oder sportlichen Gründen von vornherein kein religiöser Hintergrund vor. Dass es das Gesetz aber für notwendig befand, derartige Ausnahmen vom Verhüllungsverbot des § 2 Abs. 1 AGesVG festzulegen, zeigt dessen umfassenden Geltungsbereich.
18 Überdies sind die Ausnahmen in § 2 Abs. 2 AGesVG nicht derart weit gefasst, dass der Geltungsbereich des Verhüllungsverbots des Abs. 1 leg.cit. sich letztlich hauptsächlich auf die Verhüllung des Gesichts aus religiösen Gründen beschränkt, wie etwa auch der vorliegende Sachverhalt der Vermummung im Zuge einer körperlichen Auseinandersetzung zwecks Verhinderung der Identitätsfeststellung zeigt, der ausgehend vom Wortlaut des § 2 AGesVG den Tatbestand des § 2 Abs. 1 AGesVG erfüllt.
19 Die vom Verwaltungsgericht und vom Mitbeteiligten vorgenommene Auslegung des § 2 Abs. 1 AGesVG entfernt sich daher vom eindeutigen Wortlaut der Norm und der Systematik des Gesetzes. Für eine weitergehende (historisch-teleologische oder verfassungskonforme) Auslegung bleibt damit nach dem bisher Gesagten kein Raum.
20 Daran ändert auch ein Blick auf die Erläuterungen zur Regierungsvorlage zu diesem Gesetz (1586 BlgNR 25. GP , 11 f) nichts, in denen es (u.a.) wörtlich heißt:
„Zu Artikel 2 (Anti‑Gesichtsverhüllungsgesetz)
Zu § 1 (Ziel)
Dieses Bundesgesetz zielt auf die Förderung der Integration durch die Stärkung der Teilhabe am gesellschaftlichen Zusammenleben ab. Gleichzeitig dient es der Sicherung des friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion in einer pluralistischen Gesellschaft. Die Regelung stützt sich kompetenzrechtlich auf Art. 10 Abs. 1 Z 7 B‑VG (Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit einschließlich der ersten allgemeinen Hilfeleistung, jedoch mit Ausnahme der örtlichen Sicherheitspolizei). Die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Kompetenzbestimmung bezeichnet nicht die Rechtsordnung, sondern die äußerliche Ordnung, d.h. ‚die Gesamtheit jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Befolgung als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen angesehen wird‘ (VwSlg 543 A/1948). Der Verfassungsgerichtshof fasst unter den Begriff der öffentlichen Ordnung ‚Regelungen, die für das Funktionieren des Zusammenlebens der Menschen im Staate wesentlich sind‘ (VfSlg 15394). Die Ermöglichung zwischenmenschlicher Kommunikation ist eine wesentliche Funktionsbedingung für ein friedliches Zusammenleben in einem demokratischen Rechtsstaat. Für Kommunikation bildet das Erkennen des Anderen bzw. dessen Gesichts eine notwendige Voraussetzung.
Zu § 2 (Verhüllungsverbot)
Als öffentlicher Ort gemäß Abs. 1 ist jeder Ort zu verstehen, der von einem nicht von vornherein beschränkten Personenkreis ständig oder zu bestimmten Zeiten betreten werden kann, einschließlich der nicht ortsfesten Einrichtungen des öffentlichen und privaten Bus‑, Schienen‑, Flug‑ und Schiffsverkehrs; darunter ist jedenfalls der öffentliche Raum (Straße, etc.) zu verstehen. Zu den öffentlichen Gebäuden zählen insbesondere jene Räumlichkeiten, die zu Unterrichts‑ und Fortbildungszwecken und Verhandlungszwecken verwendet werden. Dazu zählen beispielsweise die Amtsgebäude, schulischen oder anderen Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche beaufsichtigt, aufgenommen oder beherbergt werden, die Hochschulen und Einrichtungen der beruflichen Bildung, die der Darbietung von Vorführungen oder Ausstellungen dienenden Einrichtungen, die Einrichtungen des öffentlichen und privaten Bus‑, Schienen‑, Flug‑ und Schiffverkehrs, alle Geschäftslokale, Einkaufszentren, Büroräume oder ähnliche Räume mit Kunden‑ bzw. Parteienverkehr, die Hallenbäder, Fitnesscenter, Sporthallen u.v.m.
Durch den Verweis auf § 50 VStG wird klargestellt, dass die Bestimmungen über eine Organstrafverfügung zulässig und auf diese Fälle anwendbar sind.
In Abs. 2 werden die Tatbestände aufgezählt, bei deren Erfüllung keine Verwaltungsübertretung vorliegt. Als Verhüllung der Gesichtszüge, die durch Bundes‑ oder Landesgesetz vorgesehen ist, wird etwa das Tragen eines Sturzhelms bei Personenbeförderung mit bestimmten Kraftfahrzeugen aufgrund der Sturzhelmpflicht in § 106 Kraftfahrgesetz 1967, BGBl. Nr. 267 verstanden. Dabei ist etwa ein Herabsteigen vom Kraftfahrzeug zum Zwecke der Betankung vom zeitlichen Rahmen der Ausnahmeregelung umfasst. Bei künstlerischen, kulturellen oder traditionellen Veranstaltungen handelt es sich etwa um Verhüllungen zu Feiertagen (beispielsweise zu Faschingsfeierlichkeiten, Perchtenläufe etc.) oder Verhüllungen, die im Rahmen künstlerischer Darbietungen (Theater, Kunstinstallationen etc.) vorgenommen werden. Die Verhüllung der Gesichtszüge im Rahmen der Sportausübung betrifft Sportarten, bei denen zum Beispiel das Tragen eines Helms aus Schutzgründen (Motorsport) vorgesehen ist. Verhüllungen aus gesundheitlichen Gründen umfassen Mund‑ und Nasen‑Schutz‑ sowie Atemschutzmasken, aufgrund von Infektionsgefahr oder Luftverschmutzung. Beim Tragen von Verhüllungen aus beruflichen Gründen handelt es sich um Gesichtsverhüllungen, die etwa aus arbeitsschutzrechtlichen, hygienischen oder sicherheitstechnischen Vorschriftennotwendig sind. Darüber hinaus sind jene Verhüllungen oder Verbergungen der Gesichtszüge vom Tatbestand des Abs. 1 ausgenommen, die aufgrund witterungsbedingter Umstände (etwa als Schutz vor Frost) und somit zum Schutz der körperlichen Gesundheit vorgenommen werden. Die Nötigung einer Person zur vollständigen Verhüllung ihrer Gesichtszüge ist nach geltenden strafrechtlichen Bestimmungen zu ahnden.“
21 Selbst wenn das in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage und nach der Zielbestimmung des § 1 AGesVG vorrangig dargelegte Ziel, die Integration durch die Stärkung der Teilhabe am gesellschaftlichen Zusammenleben zu fördern und das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion in einer pluralistischen Gesellschaft zu sichern, speziell religiös konnotierte Gesichtsverhüllungen betreffen sollte, ist das Verbot in § 2 Abs. 1 AGesVG nach dem Wortsinn und der Systematik eindeutig nicht auf diese Personengruppe oder diesen Zweck eingeschränkt. Das Ziel friedlichen Zusammenlebens von Menschen in einer demokratischen Gesellschaft ist auch nicht nur auf Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugung beschränkt, sondern verallgemeinerungsfähig, mag dem AGesVG auch primär ein integrationsfördernder Ansatz zugrunde gelegen sein.
Verfassungsrechtliche Bedenken des Mitbeteiligten gegen § 2 AGesVG
22 Die vom Mitbeteiligten vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die in Rede stehende Norm veranlassen den Verwaltungsgerichtshof im gegenständlichen Fall nicht dazu, einen Gesetzesprüfungsantrag gemäß Art. 140 Abs. 1 B‑VG beim Verfassungsgerichtshof zu stellen.
23 Dabei wird nicht übersehen, dass bereits im Zuge der Gesetzwerdung des AGesVG kritische Stellungnahmen eingebracht wurden, die (auch) eine Grundrechtskonformität der gegenständlichen Norm in Zweifel gezogen haben. § 2 AGesVG entspricht jedoch weitgehend einer gesetzlichen Vorschrift im französischen Recht, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem Urteil vom 1. Juli 2014, Nr. 43835/11, S.A.S. gegen Frankreich, insbesondere auch mit Blick auf Art. 8 und 10 EMRK überprüft und im Ergebnis nicht beanstandet wurde (vgl. auch die ‑ auszugsweisen ‑ deutschen Übersetzungen des Urteils in EuGRZ 2015, 16; NJW 2014, 2925; http://www.menschenrechte.ac.at/docs/14_4/14_4_09.pdf ).
24 Der EGMR betonte in seinem Urteil unter anderem, es habe für seine Beurteilung der Norm gewisse bzw. große Bedeutung (engl.: „some significance“; franz.: „grande importance“) gehabt, dass das Verbot der Gesichtsverhüllung nicht ausdrücklich auf der religiösen Konnotation der umstrittenen Kleidung beruhe, sondern nur auf der Tatsache, dass sie das Gesicht verhülle (Rn. 151). Eben diesen (neutralen) Ansatz verfolgt auch § 2 AGesVG, indem die Verhüllung bzw. das Verbergen der Gesichtszüge in der Öffentlichkeit allgemein und nicht bloß in religiösem Zusammenhang untersagt und Ausnahmen für bestimmte näher definierte Bereiche gemacht werden.
25 Dass das Verbot mit strafrechtlichen Sanktionen einhergehe, so der EGMR im entschiedenen Fall weiter (Rn. 152), verstärke ohne Zweifel seine Auswirkung auf die Betroffenen. Es müsse aber berücksichtigt werden, dass die mit der (französischen) Norm eingeführten Sanktionen zu den mildesten zählten, die vorgesehen werden könnten (das französische Gesetz sah eine Geldstrafe in der Höhe von maximal € 150,‑ ‑ vor und bot die Möglichkeit, alternativ oder neben der Geldbuße den Besuch eines Staatsbürgerschaftskurses vorzuschreiben). Die österreichische Rechtslage ist mit der vom EGMR beurteilten insofern vergleichbar, als in § 2 Abs. 1 AGesVG nur Geldstrafen bis zu maximal € 150,‑ ‑ vorgesehen werden (im vorliegenden Fall wurde im Übrigen eine Geldstrafe von lediglich € 70,‑ ‑ verhängt).
26 Der EGMR akzeptierte die von der französischen Regierung zur Rechtfertigung der Norm vorgebrachten Ziele der Wahrung der öffentlichen Sicherheit und des „Respekt des Mindestbestandes von Werten für eine offene und demokratische Gesellschaft“. Er gestand dem französischen Staat zu, einen Grundsatz der zwischenmenschlichen Kommunikation schützen zu wollen, der seiner Ansicht nach essentiell für den Ausdruck nicht nur des Pluralismus sei, sondern auch der Toleranz und der geistigen Großzügigkeit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gebe. Unter solchen Umständen habe der EGMR die Pflicht, bei seiner Überprüfung der Vereinbarkeit mit der EMRK einen Grad der Zurückhaltung zu üben, da er dabei eine Abwägung beurteile, die mit den Mitteln eines demokratischen Prozesses in der fraglichen Gesellschaft getroffen worden sei. Der Rolle des innerstaatlichen Gesetzgebers werde in Angelegenheiten der allgemeinen Politik, über die in einer demokratischen Gesellschaft die Meinungen weit auseinandergehen könnten, nach der Rechtsprechung des EGMR besonderes Gewicht gegeben. Insbesondere angesichts der Weite des dem belangten Staat in diesem Fall zukommenden Ermessensspielraums befand der EGMR, dass das beurteilte Verhüllungsverbot als verhältnismäßig zum verfolgten Ziel angesehen werden könne, nämlich der Bewahrung der Bedingungen für ein Zusammenleben als ein Element des „Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“. Die umstrittene Einschränkung könne daher als „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ angesehen werden (vgl. inbesondere Rn. 153 bis 159).
27 Diesem Urteil folgend sah der EGMR auch in seinem Urteil vom 11. Juli 2017, Bsw 37.798/13, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, in Bezug auf ein den französischen Vorschriften nahekommendes belgisches Gesetz zum Verbot des Tragens von das Gesicht vollständig oder hauptsächlich verdeckende Kleidungsstücken keine Verletzung von Art. 8 bzw. Art. 9 EMRK.
Fallbezogene Beurteilung
28 Auf dieser Grundlage ist für den vorliegenden Fall Folgendes festzuhalten: Es ist unstrittig, dass der Mitbeteiligte seine Gesichtszüge mit einer Sturmhaube verhüllte und damit nicht erkennbar machte, um im Zuge einer körperlichen Auseinandersetzung mit Anhängern eines anderen Fußballclubs nicht identifiziert werden zu können. Die vom Verwaltungsgericht gewählte Formulierung einer „körperlichen Auseinandersetzung“ lässt hinreichend erkennen, dass die gemeinte Auseinandersetzung mit den Anhängern eines anderen Fußballclubs nicht bloß mit friedlichen Mitteln intendiert war, und dass es dem Mitbeteiligten gerade in diesem Zusammenhang darum ging, seine Identität zu verbergen. Dass es ein legitimes öffentliches Interesse gibt, gerade diese Vorgehensweise des Mitbeteiligten durch das gegenständliche Verhüllungsverbot zu verhindern und sich die Bestrafung insoweit als verhältnismäßig erweist, steht für den Verwaltungsgerichtshof außer Frage. Es ist daher auch nicht verständlich, wenn der Mitbeteiligte es als unsachlich und gleichheitswidrig ansieht, dass für seinen Fall in § 2 Abs. 2 AGesVG kein Ausnahmetatbestand vom allgemeinen Verhüllungsverbot geschaffen worden sei. Auf die Frage, wie die Ausnahmetatbestände des § 2 Abs. 2 AGesVG ‑ abseits des gegenständlichen Falles ‑ interpretiert werden müssen, um das allgemeine Verhüllungsverbot des § 2 Abs. 1 AGesVG im Lichte der verfassungsgesetzlich gewährleisteten (Grund)Rechte als notwendig und verhältnismäßig anzusehen, braucht bei diesem Ergebnis nicht näher eingegangen zu werden.
29 Ausgehend vom Wortlaut des § 2 Abs. 1 AGesVG und der Systematik des Gesetzes erfüllt der vorliegende Sachverhalt des Verhüllens bzw. Verbergens der Gesichtszüge an einem öffentlichen Ort zwecks Verhinderung der Identitätsfeststellung den Tatbestand des Verstoßes gegen das Verhüllungsverbot nach dem AGesVG.
Ergebnis
30 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 18. Juni 2020
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