VwGH Ra 2019/22/0194

VwGHRa 2019/22/019426.11.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des K G in W, vertreten durch Mag. Dr. Astrid Wagner, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Himmelpfortgasse 10, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 1. Februar 2019, Zl. VGW‑151/007/14559/2018‑28, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien),

Normen

ARB1/80 Art13
EURallg
FrG 1997 §47
FrG 1997 §47 Abs2
FrG 1997 §47 Abs3
FrG 1997 §49
FrG 1997 §49 Abs1
NAG 2005 §11
NAG 2005 §11 Abs2 Z4
NAG 2005 §11 Abs5
NAG 2005 §47 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019220194.L00

 

Spruch:

1. zu Recht erkannt:

Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

2. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

3. Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, beantragte mit Eingabe vom 3. April 2018 ‑ gestützt auf seine Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin ‑ die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG).

2 Mit Bescheid vom 3. Oktober 2018 wies der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) diesen Antrag gestützt auf § 11 Abs. 1 Z 4 NAG ab, weil die Ehe lediglich zum Zweck der Erlangung eines Aufenthaltstitels eingegangen worden sei.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 1. Februar 2019 wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass als Rechtsgrundlage § 11 Abs. 2 Z 4 in Verbindung mit Abs. 5 NAG herangezogen wurde (Spruchpunkt I.). Dem Revisionswerber wurde der Ersatz näher bezeichneter Barauslagen für den beigezogenen Dolmetsch auferlegt (Spruchpunkte II. und III.). Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG wurde für unzulässig erklärt (Spruchpunkt IV.).

Das Verwaltungsgericht stellte ‑ soweit für das vorliegende Revisionsverfahren von Relevanz ‑ fest, dass der Revisionswerber, der sich auf eine Erwerbsabsicht berufe, 2008 erstmals einen Aufenthaltstitel erhalten habe und seit 2013 durchgehend im Bundesgebiet aufhältig sei. Die Zweifel am Bestehen eines Familienlebens mit seiner Ehefrau erachtete das Verwaltungsgericht als beseitigt. Allerdings hegte das Verwaltungsgericht Zweifel an der Echtheit bzw. Realisierbarkeit der vorgelegten Einstellungszusage.

In seinen rechtlichen Erwägungen hielt das Verwaltungsgericht zunächst fest, dass der Revisionswerber mit seiner Ehefrau ein tatsächliches Ehe‑ und Familienleben führe. Als türkischer Staatsangehöriger habe er nach der Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) das Recht, den vorliegenden Antrag im Inland zu stellen und die Entscheidung hier abzuwarten. Das Erfordernis des Nachweises von Deutschkenntnissen nach § 21a NAG entfalle ebenfalls auf Grund der Stillhalteklausel. Das Vorliegen von Erteilungshindernissen nach § 11 Abs. 1 NAG könne nicht festgestellt werden; die Voraussetzungen nach § 11 Abs. 2 Z 2 und 3 NAG seien erfüllt. Allerdings ging das Verwaltungsgericht mit näherer Begründung davon aus, dass der Unterhalt des Revisionswerbers nicht gesichert sei und sein Aufenthalt daher zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 4 in Verbindung mit Abs. 5 NAG führen könne. Abschließend führte das Verwaltungsgericht eine Interessenabwägung durch, bei der es ‑ mit näherer Begründung ‑ zum Ergebnis gelangte, dass die öffentlichen Interessen überwiegen würden.

4 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 12. Juni 2019, E 1041/2019, ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der Folge erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision.

5 Die belangte Behörde nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.

Zu 1. (Aufhebung):

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision ‑ soweit sie sich gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses richtet ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit seiner Revision ua. vor, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen der Erteilung eines Aufenthaltstitels an einen türkischen Staatsangehörigen mit Erwerbsabsicht, der Ehemann einer österreichischen Staatsbürgerin sei, abgewichen (Verweis ‑ u.a. ‑ auf VwGH 15.12.2011, 2007/18/0430). Insbesondere habe das Verwaltungsgericht die Stillhalteklausel nach Art. 13 ARB 1/80 missachtet.

Die Revision erweist sich auf Grund dieses Vorbringens als zulässig.

7 Nach Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung (auch) zu Art. 13 ARB 1/80 festgehalten, dass die Absicht vorhanden sein muss, sich in den Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaates zu integrieren; Art. 13 ARB 1/80 sei nicht anzuwenden, wenn türkische Staatsangehörige nicht die Absicht hätten, sich in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates zu integrieren (vgl. VwGH 18.4.2018, Ra 2018/22/0004, Rn. 10, mwN).

9 Vorliegend hat das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung eine Erwerbsabsicht des Revisionswerbers sowie seine aufrechte Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin zugrunde gelegt. Feststellungen betreffend eine aufenthaltsbeendende Maßnahme enthält das angefochtene Erkenntnis nicht, weshalb nicht aus diesem Grund vom Fehlen der Ordnungsmäßigkeit des Aufenthaltes des Revisionswerbers auszugehen war (vgl. VwGH 31.5.2017, Ra 2016/22/0089, Rn. 16 f, mwN).

10 Nach dem vor dem 1. Jänner 2006 geltenden § 49 Abs. 1 Fremdengesetz 1997 (FrG) genossen Angehörige von Österreichern gemäß § 47 Abs. 3 FrG (zu denen nach Z 1 Ehegatten zählten), die Staatsangehörige eines Drittstaates sind, Niederlassungsfreiheit. Angehörige von Österreichern ‑ gleich welcher Staatsangehörigkeit ‑ durften den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland stellen und die Entscheidung im Inland abwarten. Ihnen war nach § 49 Abs. 1 in Verbindung mit § 47 Abs. 2 FrG eine Niederlassungsbewilligung auszustellen, wenn ihr Aufenthalt nicht die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdete (vgl. erneut VwGH Ra 2016/22/0089, Rn. 15, mwN; sowie 13.12.2011, 2008/22/0180).

11 Weitergehende Voraussetzungen, wie sie § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG (bezugnehmend auf Unterhaltsmittel) festlegt, waren nach den genannten Bestimmungen des FrG nicht angeordnet. Vielmehr war selbst bei geringen Unterhaltsmitteln zu beurteilen, ob eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die es rechtfertigt, die Erteilung der Niederlassungsbewilligung zu versagen (vgl. zu allem VwGH 19.1.2012, 2011/22/0313; sowie ‑ im Zusammenhang mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ‑ VwGH 15.12.2011, 2007/18/0430).

12 Der Anwendungsbereich des § 49 FrG erfasste (nicht nur, aber) auch jene Angehörigen von Österreichern, die türkische Staatsangehörige waren. Mit der am 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen Änderung der Rechtslage (Außerkrafttreten des FrG und Inkrafttreten des NAG) wurde die Rechtsposition aller drittstaatszugehörigen Angehörigen von Österreichern umgestaltet. Von den ab diesem Zeitpunkt geltenden strengeren Voraussetzungen waren aus innerstaatlichem Blickwinkel auch jene Angehörigen von Österreichern betroffen, die türkische Staatsangehörige sind (vgl. erneut VwGH Ra 2016/22/0089, Rn. 15, mwN).

13 Die hier relevante Rechtslage des NAG erweist sich somit gegenüber der früheren Rechtslage der in Betracht zu ziehenden Bestimmungen des FrG als verschärft. Diese Verschärfung stellt für eine Konstellation wie die hier vorliegende eine neue Beschränkung der Möglichkeit der Aufenthaltsnahme und sohin auch der Möglichkeit, eine Erwerbstätigkeit in Österreich aufzunehmen, dar (vgl. erneut VwGH 2011/22/0313).

14 Das Verwaltungsgericht hätte daher die Voraussetzungen für die Erteilung des Aufenthaltstitels insoweit nicht anhand des § 11 NAG, sondern anhand der für den Revisionswerber günstigeren Bestimmungen der §§ 47 und 49 FrG beurteilen müssen. Feststellungen betreffend das Vorliegen einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit, die eine Versagung der Erteilung der Niederlassungsbewilligung nach diesen günstigeren Bestimmungen hätte rechtfertigen können, enthält das angefochtene Erkenntnis nicht.

15 Ausgehend davon hat das Verwaltungsgericht Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb dieser Spruchpunkt gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Zu 2. (Zurückweisung):

16 Der Revisionswerber beantragt in der vorliegenden Revision, das angefochtene Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes „zur Gänze“ ‑ somit ohne jede Einschränkung ‑ aufzuheben. Das Zulässigkeitsvorbringen enthält allerdings keine Ausführungen zum Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung betreffend die ‑ als trennbar anzusehenden ‑ Spruchpunkte II. und III. (vgl. zur getrennten Prüfung der Zulässigkeit einer Revision bei trennbaren Spruchpunkten VwGH 17.12.2019, Ra 2018/04/0199, Rn. 9, mwN). Von einer Aufhebung des Spruchpunktes IV. (Erklärung der ordentlichen Revision für unzulässig) war abzusehen, weil dieser Spruchpunkt fallbezogen im Hinblick auf die nicht aufgehobenen Spruchpunkte II. und III. weiterhin Bestand haben kann (vgl. erneut VwGH Ra 2018/04/0199, Rn. 32, mwN).

17 Ausgehend davon war die Revision, soweit sie nicht gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses gerichtet ist, wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

Zu 3. (Aufwandersatz):

18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 50 VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf Ersatz der Umsatzsteuer gerichtete Mehrbegehren des Revisionswerbers war abzuweisen, weil in dem in der genannten Verordnung vorgesehenen Pauschalbetrag die Umsatzsteuer bereits mitenthalten ist (vgl. VwGH 8.10.2019, Ra 2018/22/0260, Rn. 14, mwN).

Wien, am 26. November 2020

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