Normen
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
FrPolG 2005 §52
FrPolG 2005 §55
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210065.L00
Spruch:
Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerber sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und gehören der tschetschenischen Volksgruppe an. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern der minderjährigen drittbis achtrevisionswerbenden Parteien.
2 Der Siebentrevisionswerber und die Achtrevisionswerberin wurden bereits in Österreich (am 23. Dezember 2011 bzw. am 8. Jänner 2014) geboren, ihre Eltern und ihre Geschwister waren davor am 14. September 2011 (Viertrevisionswerber mit einem Onkel) bzw. am 4. Dezember 2011 (die verbleibenden Revisionswerber) in das Bundesgebiet eingereist.
3 Nach der Einreise bzw. der Geburt gestellte Anträge auf internationalen Schutz der erst- bis siebentrevisionswerbenden Parteien wies das Bundesasylamt mit Bescheiden je vom 21. Juni 2012 - in Verbindung mit Ausweisungen in die Russische Föderation - vollinhaltlich ab. Den dagegen erhobenen Beschwerden gab der Asylgerichtshof mit Erkenntnissen je vom 18. Oktober 2012 keine Folge, einen Wiederaufnahmeantrag des Erstrevisionswerbers wies der Asylgerichtshof mit Entscheidung vom 7. März 2013 ab. 4 2014 stellten alle Revisionswerber - nunmehr auch die mittlerweile geborene Achtrevisionswerberin - (neuerlich) Anträge auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diese Anträge mit Bescheiden je vom 23. Februar 2018 vollinhaltlich ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass die Abschiebung der Revisionswerber in die Russische Föderation zulässig sei; eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht eingeräumt und Beschwerden gegen diese Bescheide die aufschiebende Wirkung aberkannt.
5 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die gegen diese Bescheide erhobene gemeinsame Beschwerde in Bezug auf jeden Revisionswerber gesondert mit Erkenntnissen je vom 9. April 2018 zur Gänze als unbegründet ab. Den dagegen erhobenen Revisionen gab der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis VwGH 15.11.2018, Ra 2018/19/0285-0292, in Bezug auf die gegen die Revisionswerber ergangenen Rückkehrentscheidungen samt Nebenaussprüchen Folge. Insoweit behob er im Hinblick auf das Unterbleiben der beantragten Beschwerdeverhandlung die Entscheidungen des BVwG vom 9. April 2018 wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, wies aber im Übrigen die Revisionen (insbesondere betreffend die Entscheidungen über die Anträge auf internationalen Schutz) zurück.
6 Mit den nunmehr angefochtenen Erkenntnissen vom 8. Februar 2019 bestätigte das BVwG erneut die mit Bescheiden des BFA vom 23. Februar 2018 erlassenen Rückkehrentscheidungen samt Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung der Revisionswerber in die Russische Föderation. Gemäß § 55 FPG setzte es aber nunmehr die Frist für eine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest. Außerdem sprach es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass Revisionen gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig seien.
7 Gegen diese Erkenntnisse richten sich die gegenständlichen, wegen ihres persönlichen und sachlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Beschlussfassung verbundenen außerordentlichen Revisionen, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden, erwogen hat:
8 Die Revisionen sind zulässig und berechtigt.
9 Das gilt zunächst und in erster Linie für die Revision der Drittrevisionswerberin. Die im Zusammenhang mit der gegen sie ergangenen Rückkehrentscheidung vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG erweist sich nämlich, wie in den Zulässigkeitsausführungen der Revision letztlich zutreffend geltend gemacht wird, in mehrfacher Hinsicht als mangelhaft. 10 Das beginnt damit, dass insoweit bezüglich der im Entscheidungszeitpunkt 17-jährigen Drittrevisionswerberin - von der es an anderer Stelle des Erkenntnisses (gleichfalls verfehlt) heißt, sie sei "nunmehr volljährig" - einleitend angeführt wird, sie halte sich "seit ihrer Geburt - sohin seit etwa vier Jahren - in Österreich" auf.
11 Auch die weitere Überlegung, die Drittrevisionswerberin werde von ihren Eltern "betreut", entspricht offenkundig nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Richtig ist nur, dass die Drittrevisionswerberin mit ihren Eltern und ihren Geschwistern im gemeinsamen Haushalt lebt. Ebenso können die weiteren Ausführungen, die Drittrevisionswerberin lebe in keiner Beziehung, habe sich aber in Österreich einen Freundeskreis aufgebaut, sie spreche die deutsche Sprache, jedoch mit ihrer Familie und tschetschenischen Freundinnen auch Tschetschenisch, mit den Angaben der Drittrevisionswerberin in der Beschwerdeverhandlung - dabei wurde die Drittrevisionswerberin auf Deutsch vernommen - in Einklang gebracht werden. Auch die daran anschließenden Bemerkungen, die Drittrevisionswerberin sei in Österreich nie legal erwerbstätig gewesen und beziehe Grundversorgung, sie habe keine gemeinnützige Arbeit geleistet und sei auch keiner "freiwilligen Tätigkeit" nachgegangen, sind dem Grunde nach zutreffend. Dabei wird aber außer Acht gelassen - und das findet im Rahmen der Interessenabwägung überhaupt keinen Niederschlag -, dass sich die Drittrevisionswerberin nach ihren Angaben in der Beschwerdeverhandlung "jetzt im 11. Schuljahr" befindet, womit sie erkennbar einen Berufsvorbereitungslehrgang, den sie "jeden Tag" besuche und in dessen Rahmen sie als Köchin ausgebildet werde, angesprochen hat. Dass das BVwG diese Angaben nicht in Zweifel zog, ergibt sich daraus, dass es - ohne weitere Präzisierung - feststellte, die Drittrevisionswerberin besuche einen Berufsvorbereitungslehrgang, habe derzeit keine Lehrstelle und habe bisher ein unentgeltliches Praktikum in der Dauer von fünf Tagen absolviert. Im Rahmen der Abwägung findet das aber, wie eben erwähnt, keine Berücksichtigung; so wird auch ausgeblendet, dass ein Schulbesuch bzw. der tägliche Besuch eines Lehrgangs von vornherein wenig Raum für eine Erwerbstätigkeit lässt. 12 In seinen weiteren Erwägungen gibt das BVwG dann zutreffend die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wieder, wonach bei einer Rückkehrentscheidung, von der Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, im Rahmen der Abwägung nach § 9 BFA-VG "die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder", insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen sind; maßgebliche Bedeutung komme dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. aus jüngerer Zeit VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251, Rn. 13, mwN). Was das für den Fall der Drittrevisionswerberin, die nach ihren vom BVwG nicht in Zweifel gezogenen Angaben nicht Russisch beherrscht, konkret bedeutet (zu Fremden in vergleichbaren Situationen siehe in diesem Zusammenhang etwa VwGH 26.1.2017, Ra 2016/21/0305 bis 0310, Rn. 20, oder VfGH 7.10.2014, U 2459/2012 u.a., Punkt 3. der Entscheidungsgründe), hat das BVwG aber nicht näher erörtert. 13 Zwar hielt es fest, "die Rückkehr zu einem Leben im Herkunftsstaat" sei für die Drittrevisionswerberin "nicht mit unzumutbaren Härten verbunden, zumal sie mit den kulturellen und sprachlichen Gegebenheiten in Tschetschenien vertraut" sei, schon der daran anknüpfende Hinweis darauf, sie habe in Österreich außer ihren Eltern und Geschwistern keine nahen Verwandten, steht aber mit der Aktenlage in Widerspruch. Demnach befinden sich nämlich der väterliche Großvater und ein väterlicher Onkel - letzterer als anerkannter Flüchtling - rechtmäßig im Bundesgebiet. Vor allem aber werden in Bezug auf die Schullaufbahn der Drittrevisionswerberin und die von ihr offenbar noch nicht abgeschlossene Ausbildung keine näheren Feststellungen getroffen, obwohl im sie betreffenden Erkenntnis auch - ebenfalls ohne nähere Prüfung - davon ausgegangen wird, sie könne sich "mit ihrer Schulbildung und Arbeitsfähigkeit" in Tschetschenien "den
notwendigen Lebenunterhalt ... erwirtschaften".
14 Unter Bezugnahme auf das an einer Aufenthaltsbeendigung der Drittrevisionswerberin bestehende öffentliche Interesse ist ergänzend anzumerken, dass der mit zehn Jahren mit ihren Eltern eingereisten Drittrevisionswerberin ein fremdenrechtliches Fehlverhalten (Erzwingung eines längerfristigen Aufenthalts durch Stellung unbegründeter Anträge auf internationalen Schutz) nicht in dem Maß angelastet werden kann wie ihren Eltern (siehe nochmals VfGH 7.10.2014, U 2459/2012 u.a., Punkt 3. der Entscheidungsgründe). Auch dem Umstand des Entstehens des schützenswerten Privatlebens während unsicheren Aufenthalts (§ 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG) kommt bei Minderjährigen, die ihre Eltern nach Österreich begleitet haben, nicht der gleiche Stellenwert zu wie bei den Eltern (VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251, Rn. 16, mwN). 15 Auch das hat das BVwG - das sich überdies unter dem Blickwinkel des § 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG nicht damit beschäftigte, weshalb die Erledigung der (wiederholten) Anträge auf interantionalen Schutz aus dem Jahr 2014 durch das BFA nahezu vier Jahre dauerte - bei seiner Interessenabwägung nicht gebührend berücksichtigt. Von daher kann das die Drittrevisionswerberin betreffende Erkenntnis aber keinen Bestand haben, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine die aufgezeigten Fehler vermeidende und die maßgeblichen Gesichtspunkte vollständig berücksichtigende Interessenabwägung zu einem anderen Ergebnis (Feststellung der vorübergehenden oder dauernden Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung) hätte führen müssen.
16 Die aufgezeigte Rechtswidrigkeit des Erkenntnisses betreffend die Drittrevisionswerberin schlägt auf die anderen hier gegenständlichen Erkenntnisse durch. Das BVwG ging nämlich in diesen Erkenntnissen davon aus, dass mit den Entscheidungen kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens erfolge, weil hinsichtlich aller Mitglieder der Kernfamilie eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen werde. Diese Prämisse trifft angesichts des Vorgesagten nicht mehr zu, sodass es hinsichtlich der weiteren revisionswerbenden Parteien nunmehr der Prüfung der Zulässigkeit des mit einer gegen sie ergangenen Rückkehrentscheidung verbundenen Eingriffs in ihr Familienleben bedarf (siehe nochmals VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251, nunmehr Rn. 22).
17 Mithin war allen Revisionen Folge zu geben und waren alle angefochtenen Erkenntnisse gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. August 2019
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)