VwGH Ra 2018/22/0190

VwGHRa 2018/22/019025.7.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das am 24. Jänner 2018 mündlich verkündete und mit 6. Juni 2018 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien, VGW-151/011/8839/2017-19 und VGW- 151/011/8842/2017, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Parteien: 1. G G, und 2. G G, beide vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §13 Abs3
MRK Art8
NAG 2005 §21a Abs5
NAG 2005 §21a Abs5 Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018220190.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Ein Kostenersatz findet nicht statt.

Begründung

1 Die Erstmitbeteiligte ist die Mutter der Zweitmitbeteiligten. Beide sind kosovarische Staatsangehörige. Sie stellten am 16. Februar 2017 bei der österreichischen Botschaft in Skopje Erstanträge auf Erteilung des Aufenthaltstitels "Familienangehörige" gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Dabei beriefen sie sich auf die Ehe der Erstmitbeteiligten mit einem österreichischen Staatsbürger, der auch Vater der minderjährigen Zweitmitbeteiligten ist. Mit Zusatzantrag vom 5. Mai 2017 beantragte die Erstmitbeteiligte die Nachsicht vom Nachweis ausreichender Deutschkenntnisse, weil sie Analphabetin sei.

2 Mit Bescheiden des Landeshauptmannes von Wien (Behörde und nunmehriger Revisionswerber) jeweils vom 19. Mai 2017 wurden die Anträge der Mitbeteiligten abgewiesen. Hinsichtlich der Erstmitbeteiligten führte die Behörde aus, dass die erforderlichen Nachweise von Kenntnissen der deutschen Sprache gemäß § 21a Abs. 1 NAG nicht erbracht worden seien. Betreffend die Zweitmitbeteiligte wurde der Antrag gemäß § 23 Abs. 4 NAG in der damals geltenden Fassung BGBl. I Nr. 70/2015 abgewiesen, weil ihre Mutter über keinen Aufenthaltstitel in Österreich verfüge. 3 Den dagegen erhobenen Beschwerden gab das Verwaltungsgericht Wien mit dem angefochtenen Erkenntnis statt und erteilte für beide Mitbeteiligte Aufenthaltstitel gemäß § 47 Abs. 2 NAG für die Dauer jeweils eines Jahres. Gleichzeitig verfügte das Verwaltungsgericht gemäß "§ 14a Abs. 2 NAG", dass die Erstmitbeteiligte "einen Aufschub von zwei Jahren für den Nachweis des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung bewilligt" erhalte und für die Zweitmitbeteiligte "§ 14a Abs. 5 NAG" gelte. Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei. 4 In der Begründung stellte das Verwaltungsgericht fest, dass der zusammenführende Ehemann der Erstmitbeteiligten (und Vater der Zweitmitbeteiligten) seit fünfundzwanzig Jahren im Bundesgebiet lebe und seit fünfzehn Jahren mit der Erstmitbeteiligten verheiratet sei. Die Zweitmitbeteiligte habe sich "wechselweise bei ihm bzw. bei den Verwandten im Kosovo" aufgehalten. Da jedoch die kosovarischen Verwandten verstorben seien, werde der alleinige Lebensmittelpunkt nunmehr in Österreich angestrebt. Die Erstmitbeteiligte habe "auch diverse Deutschkurse probiert, jedoch aufgrund fehlender Schulbildung keine Chance" gehabt. Der Ehemann habe "auf den Vertrauensarzt der Botschaft" verwiesen, der festgestellt habe, dass die Erstmitbeteiligte keine "reelle Möglichkeit einer Nachholung der schulischen Ausbildung" hätte. Die Zweitmitbeteiligte "mache in Deutsch Fortschritte". Weiters führte das Verwaltungsgericht aus, dass alle allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung des Aufenthaltstitels vorlägen. 5 In seiner rechtlichen Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, dass "in Bewilligung der Nachfrist von 2 Jahren für die Erbringung des Integrationsmoduls Nummer 1 die vom Landeshauptmann relevierten Erteilungshindernisse gegenwärtig nicht mehr (bestünden)". Weiters sei der minderjährigen Zweitrevisionswerberin im Bundesgebiet an der Seite ihrer Eltern eine kindes- und familienadäquate Entwicklung gemäß § 11 Abs. 3 NAG zu ermöglichen.

6 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. In der Begründung zur Zulässigkeit führte der Revisionswerber aus, dass zunächst unklar bleibe, weshalb das Verwaltungsgericht eine Verfügung gemäß § 14a Abs. 2 NAG getroffen habe, zumal im gegenständlichen Fall ein Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt worden und die Erstmitbeteiligte nicht rechtmäßig in Österreich aufhältig gewesen sei, sodass sie zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung noch gar nicht verpflichtet gewesen wäre. Darüber hinaus sei die angeführte Bestimmung mit Ablauf des 30. September 2017 außer Kraft getreten. 7 Weiters habe die Erstmitbeteiligte eine Stellungnahme des Vertrauensarztes der österreichischen Botschaft im Kosovo vorgelegt, in welcher dargelegt werde, dass die Mitbeteiligte Deutschkenntnisse auf Niveau A 1 nicht erbringen werde können, weil sie nicht lesen oder schreiben könne. Im angefochtenen Erkenntnis seien allerdings keinerlei Feststellungen darüber enthalten, ob das vorgelegte Gutachten auf Schlüssigkeit überprüft worden sei. Das Vorliegen einer Ausnahme im Sinn des § 21a Abs. 4 Z 2 NAG sei nicht als nachgewiesen festgestellt worden. Im Falle des Nichtvorliegens des Nachweises sei nicht ein Aufschub zu gewähren, sondern der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels abzuweisen.

8 Weiters fehlten Feststellungen dazu, ob die Zweitmitbeteiligte die Erteilungsvoraussetzungen erfülle. Es werde auch nicht angeführt, ob und nach welcher Bestimmung die Zweitmitbeteiligte vom Nachweis der Deutschkenntnisse befreit sei. 9 Das Verwaltungsgericht habe erforderliche Sachverhaltsfeststellungen unterlassen. Das Erkenntnis werde den Anforderungen des § 17 VwGVG nicht gerecht, wonach in der Begründung die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die für die Beweiswürdigung maßgeblichen Erwägungen sowie die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen seien.

 

10 Hierüber hat der Verwaltungsgerichtshof - nach Durchführung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch die Mitbeteiligten - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision ist im Hinblick auf das Vorbringen in der Zulässigkeitsbegründung der Revision zulässig und auch berechtigt. 12 Nach § 21a Abs. 1 erster Satz NAG hat ein Drittstaatsangehöriger mit der Stellung eines Erstantrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß (u.a.) § 8 Abs. 1 Z 8 NAG ("Familienangehöriger") Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen.

13 Gemäß § 21a Abs. 5 NAG kann die Behörde auf begründeten Antrag eines Drittstaatsangehörigen von einem Nachweis nach Abs. 1 absehen, im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§ 2 Abs. 1 Z 17) zur Wahrung des Kindeswohls, oder zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3). Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt. 14 Die Regelung des § 21a Abs. 5 NAG 2005 dient dazu, dem Antragsteller die Möglichkeit einzuräumen, die seiner Ansicht nach für die Begründetheit des Antrages sprechenden Umstände - z.B. die sein Privat- und Familienleben im Sinn der Z 2 des § 21a Abs. 5 NAG 2005 betreffenden Aspekte - ins Treffen zu führen (vgl. VwGH 27.7.2017, Ra 2017/22/0107, Rn. 8).

15 Im vorliegenden Fall hat die Erstmitbeteiligte - die Zweitmitbeteiligte ist gemäß § 21a Abs. 4 Z 1 NAG nicht verpflichtet, Deutschkenntnisse nachzuweisen - bei der Behörde einen Antrag gemäß § 21a Abs. 5 NAG gestellt.

16 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 23.5.2018, Ra 2018/22/0027, Rn. 9, unter Hinweis auf 21.10.2014, Ro 2014/03/0076).

17 Wie die Revision zutreffend ausführt, enthält das angefochtene Erkenntnis keine Feststellungen und keine Beweiswürdigung im Sinn der angeführten Rechtsprechung. Es lässt sich weder dem kursorisch dargestellten Verfahrensgang noch den rechtlichen Erwägungen entnehmen, dass sich das Verwaltungsgericht mit den entscheidungsrelevanten Umständen auseinandergesetzt hätte.

18 Zunächst finden sich keine Feststellungen und keine Beurteilung zur Frage, ob im Hinblick auf den von der Erstmitbeteiligten vorgebrachten Analphabetismus die Erbringung des Nachweises von Deutschkenntnissen als zumutbar gewertet werde und daher der Ausnahmefall des § 21a Abs. 4 Z 2 NAG nicht gegeben sei. Lediglich aus dem Umstand, dass das Verwaltungsgericht gemäß der Spruchformulierung "einen Aufschub von zwei Jahren für den Nachweis des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung bewilligt" hat, lässt sich ableiten, dass es nicht von einer Unzumutbarkeit gemäß § 21a Abs. 4 NAG ausgegangen ist.

19 Vor diesem Hintergrund ist zu bemängeln, dass das Erkenntnis keine Feststellungen im Hinblick auf das Privat- und Familienleben der Mitbeteiligten enthält, die eine Beurteilung, ob gemäß § 21a Abs. 5 Z 2 NAG (§ 11 Abs. 3) vom Erfordernis des Nachweises von Deutschkenntnissen abzusehen wäre, ermöglichen. Das Verwaltungsgericht führt lediglich im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung aus, dass dem "Kind" (Zweitmitbeteiligte) "an der Seite seiner Eltern im Bundesgebiet eine Kindes- u. Familien adäquate Entwicklung (...) zu ermöglichen" sei. Damit ist es dem Verwaltungsgerichtshof nicht möglich, die angefochtene Entscheidung in der vom Gesetz geforderten Weise einer nachprüfenden Kontrolle zu unterziehen (vgl. u.a. VwGH 5.12.2018, Ra 2018/20/0371, Rn. 21; 19.10.2017, Ra 2017/18/0278, Rn. 10, 11). 20 Darüber hinaus lässt sich weder dem kursorisch dargestellten Verfahrensgang noch den rechtlichen Erwägungen entnehmen, dass sich das Verwaltungsgericht mit den übrigen entscheidungsrelevanten Umständen - insbesondere dem Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen - auseinandergesetzt hätte, sodass sich auch die (fälschlicherweise als Sachverhaltsfeststellung bezeichnete) rechtliche Schlussfolgerung, wonach die allgemeinen Voraussetzungen des 1. Teiles des NAG erfüllt seien, einer nachprüfenden Kontrolle entzieht (vgl. nochmals VwGH 23.5.2018, Ra 2018/22/0027, Rn. 10). 21 Schon aus diesen Erwägungen war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

22 Bei diesem Ergebnis kommt ein Kostenzuspruch an die Mitbeteiligten nicht in Betracht.

Wien, am 25. Juli 2019

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