VwGH Ra 2016/08/0010

VwGHRa 2016/08/001017.10.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofräte Dr. Strohmayer und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des M S in S, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2‑4/23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Dezember 2015, W198 2103745‑1/5E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Tulln), zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §6
AVG §37
AVG §45 Abs2
MRK Art6
MRK Art6 Abs1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §24 Abs4
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2016080010.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen

Begründung

1.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis sprach das Verwaltungsgericht in Bestätigung der Beschwerdevorentscheidung der belangten Behörde (im Folgenden: AMS) vom 24. Februar 2015, mit der wiederum der Ausgangsbescheid vom 11. November 2014 bestätigt worden war, aus, dass der Revisionswerber den Anspruch auf Notstandshilfe gemäß § 38 iVm. § 10 Abs. 1 Z 4 AlVG für den Zeitraum vom 10. November bis zum 21. Dezember 2014 verloren habe.

1.2. Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung ‑ soweit hier von Bedeutung ‑ die Feststellungen zugrunde, in den Betreuungsvereinbarungen zwischen dem Revisionswerber und dem AMS (so auch in jener vom 20. August 2014) sei festgehalten worden, dass der Revisionswerber nicht nur Bewerbungen auf die vom AMS übermittelten Stellenangebote, sondern auch selbständige Aktivitäten (zB Aktivbewerbungen) durchführen werde. Am 20. August 2014 sei dem Revisionswerber zudem aufgetragen worden, fünf bis zehn selbständige Bewerbungen bei berufsspezifischen Stellen in einem Zeitraum von drei Wochen vorzunehmen und schriftliche Bestätigungen der betreffenden Firmen beizubringen. Der Revisionswerber sei auch über die Rechtsfolgen des § 10 AlVG im Fall der Nichterfüllung der Vorgaben belehrt worden.

Am 10. September 2014 habe der Revisionswerber dem AMS mitgeteilt, dass er sich bei drei Firmen ohne eine vorangehende schriftliche Bewerbung (eine solche sei ihm wegen mangelnder Internetkenntnisse bzw. wegen seines krankheitsbedingten Zitterns nicht möglich gewesen) spontan beworben habe, dabei jedoch keine schriftlichen Bestätigungen erhalten habe und auch die Namen der betreffenden Firmen nicht (mehr) nennen könne.

Davon ausgehend sei jedoch der Revisionswerber dem ihm erteilten Auftrag, fünf bis zehn Bewerbungen in einem Zeitraum von drei Wochen zu tätigen, nicht nachgekommen. Er habe nur eine Bewerbung (am 28. Oktober 2014) eigeninitiativ unternommen und sich ferner auf drei Vermittlungsvorschläge des AMS beworben.

1.3. In der Beweiswürdigung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die Feststellungen gründeten sich auf den Akteninhalt.

Demnach habe der Revisionswerber vom 20. August 2014 bis zur Bescheiderlassung nur eine einzige Bewerbung eigeninitiativ getätigt und sich ferner auf drei Vermittlungsvorschläge des AMS beworben. Weitere Anstrengungen habe er nicht glaubhaft machen können. In einer (am 21. Oktober 2014 vorgelegten) „Bewerbungsliste“ habe er zwar vier Firmen genannt, bei denen er sich angeblich beworben habe, die Bewerbungen hätten jedoch vom AMS nicht verifiziert werden können. Soweit der Revisionswerber vorgebracht habe, er könne die Firmen zeigen bzw. „via Internet rekonstruieren“, habe ihm das AMS angeboten, die Angaben gemeinsam zu verifizieren. Der Revisionswerber bzw. sein Rechtsanwalt hätten davon jedoch keinen Gebrauch gemacht und auf die Schreiben des AMS vom 3. und 17. Februar 2015 nicht reagiert. Auch einem nochmaligen Ersuchen durch das Verwaltungsgericht vom 18. September 2015 um Stellungnahme habe der Revisionswerber nicht entsprochen.

Der Revisionswerber habe daher nicht glaubhaft machen können, dass er ausreichende Anstrengungen zur Erlangung einer Beschäftigung unternommen habe. Auch sein weiteres Vorbringen, dass er an einem Tag fünf oder sechs Firmen aufgesucht habe, dabei aber nicht zu den Verantwortlichen vorgedrungen sei, weise darauf hin, dass er keine ernsthaften Anstrengungen unternommen habe. Die Behauptung stehe zudem im Widerspruch zu den vor dem AMS gemachten Angaben und zur vorgelegten „Bewerbungsliste“, wonach der Revisionswerber lediglich vier Bewerbungen getätigt habe.

1.4. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht ‑ soweit hier von Bedeutung ‑, das AMS habe mit dem Revisionswerber vereinbart, dass dieser fünf bis zehn selbständige Bewerbungen in einem Zeitraum von drei Wochen zu tätigen habe. Der Revisionswerber habe diesem Auftrag nicht entsprochen, sondern im maßgeblichen Zeitraum (bis zur Erlassung des Ausgangsbescheids) lediglich eine Bewerbung in Eigeninitiative vorgenommen und sich ferner auf drei Vermittlungsvorschläge des AMS beworben. Ein darüber hinausgehendes ernsthaftes auf die Erlangung eines Arbeitsplatzes ausgerichtetes Handeln habe er nicht entfaltet. Er habe daher nicht die erforderlichen und zumutbaren Anstrengungen zur Erlangung einer Beschäftigung unternommen, weshalb er gemäß § 38 iVm. § 10 Abs. 1 Z 4 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe (für den oben genannten Zeitraum) verloren habe.

1.5. Von der Durchführung einer vom Revisionswerber in der Beschwerde ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung sei ‑ so das Verwaltungsgericht weiter ‑ abzusehen, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine bzw. die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse. Dem Entfall einer Verhandlung stünden auch Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 Grundrechtecharta (GRC) nicht entgegen.

Das Verwaltungsgericht habe den Revisionswerber im Rahmen des Parteiengehörs mit Schreiben vom 18. September 2015 nochmals zur Stellungnahme (im Sinn der Schreiben des AMS vom 3. und 17. Februar 2015) aufgefordert, dieser sei jedoch der Aufforderung nicht nachgekommen. Da der Revisionswerber seiner Mitwirkungspflicht nicht entsprochen habe, sei es nicht möglich gewesen, weitere Ermittlungen durchzuführen, um die angeblichen Bewerbungsversuche zu verifizieren.

1.6. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

2.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung im Wesentlichen geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht habe in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs unter Verletzung des § 24 Abs. 1 VwGVG sowie der Art. 6 Abs. 1 EMRK und 47 GRC die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen.

2.2. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

3. Der Verwaltungsgerichtshof hat ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat ‑ erwogen:

Die Revision ist aus dem vom Revisionswerber geltend gemachten Grund zulässig und auch berechtigt.

4.1. Rechtsfragen des Verfahrensrechts sind dann von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechts auf dem Spiel stehen bzw. wenn die in der angefochtenen Entscheidung getroffene Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt ist und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Ergebnis geführt hat (vgl. VwGH 27.3.2019, Ra 2018/08/0254).

Eine solche Rechtswidrigkeit ist dem Verwaltungsgericht hier unterlaufen, weil es die fallbezogen gebotene Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen hat.

4.2. Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung dann absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

Die Akten lassen dann im Sinn des § 24 Abs. 4 VwGVG erkennen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, wenn von vornherein absehbar ist, dass die mündliche Erörterung nichts zur Ermittlung der materiellen Wahrheit beitragen kann. Dies ist der Fall, wenn in der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet wurde und auch keine Rechtsfragen aufgeworfen werden, deren Erörterung in einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erforderlich wäre. Ein bloß unsubstanziiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhalts kann außer Betracht bleiben.

Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 47 GRC stehen einem Entfall der Verhandlung nicht entgegen, wenn es ausschließlich um rechtliche oder sehr technische Fragen geht oder wenn das Vorbringen des Revisionswerbers angesichts der Beweislage und angesichts der Beschränktheit der zu entscheidenden Fragen nicht geeignet ist, irgendeine Tatsachen‑ oder Rechtsfrage aufzuwerfen, die eine mündliche Verhandlung erforderlich macht. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung kann auch in Fällen gerechtfertigt sein, in welchen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen werden (vgl. VwGH 26.6.2019, Ra 2019/08/0099; 9.7.2019, Ra 2019/08/0101; jeweils mwN).

Hingegen gehört es gerade im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer ‑ bei der Geltendmachung von „civil rights“, zu denen auch Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zählen (vgl. VwGH 31.1.2019, Ra 2017/08/0015), in der Regel von Amts wegen durchzuführenden ‑ mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. VwGH 24.7.2018, Ra 2015/08/0144; 20.6.2018, Ra 2015/08/0149).

4.3. Gegenständlich liegen zur Frage, ob der Revisionswerber die gebotenen und zumutbaren Anstrengungen zur Erlangung einer Beschäftigung unternommen hat und den diesbezüglichen Vorgaben des AMS entsprochen hat, gegensätzliche Darstellungen vor, indem der Revisionswerber vorbrachte, er habe die ihm aufgetragenen zumutbaren Bewerbungen eigeninitiativ vorgenommen, das AMS und ihm folgend das Verwaltungsgericht die Darstellung jedoch als nicht glaubwürdig erachtete. Die widersprechenden Positionen sind prozessrelevant, hängt doch davon ab, ob dem Revisionswerber vorzuwerfen ist, er habe nicht von sich aus die erforderlichen und zumutbaren Anstrengungen zur Erlangung einer Beschäftigung glaubhaft gemacht und deshalb den Anspruch auf Notstandshilfe für den betreffenden Zeitraum verloren (vgl. zu den Kriterien für die vorzunehmende Beurteilung etwa VwGH 24.4.2014, 2013/08/0070; 7.9.2011, 2008/08/0137; 20.12.2006, 2005/08/0041; 8.9.1998, 96/08/0241).

4.4. Im Hinblick darauf hätte aber das Verwaltungsgericht eine ‑ vom Revisionswerber ausdrücklich beantragte ‑ mündliche Verhandlung durchführen müssen, um durch die unmittelbare Beweisaufnahme (förmliche Parteienvernehmung) eine zuverlässige Klärung herbeizuführen, inwiefern die Darstellung des Revisionswerbers als glaubwürdig zu erachten ist oder nicht. Die bloße Einräumung von Parteiengehör war ungenügend, ist doch zwischen dem Vorbringen einer Partei und dem Beweis durch Vernehmung der Partei zu unterscheiden und ersetzt die Gewährung des rechtlichen Gehörs in strittigen Fällen ‑ wie hier ‑ nicht die beantragte Parteienvernehmung als Beweismittel (vgl. VwGH 21.1.2015, Ro 2014/12/0029).

4.5. Indem das Verwaltungsgericht die Durchführung der gebotenen mündlichen Verhandlung unterließ, belastete es daher seine Entscheidung mit einem erheblichen Verfahrensmangel. Auf die Relevanz eines Mangels, der in der Unterlassung der Durchführung einer nach Art. 6 EMRK gebotenen mündlichen Verhandlung liegt, kommt es nicht an (vgl. VwGH 17.11.2017, Ra 2017/08/0111; 27.5.2015, Ra 2014/12/0021; u.v.a.).

5. Folglich war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

Von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

6. Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 17. Oktober 2019

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