Normen
AlVG 1977 §10 Abs1 Z1;
MRK Art6 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2015080144.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis sprach das Verwaltungsgericht - in Bestätigung der entsprechenden Beschwerdevorentscheidung der belangten Behörde (im Folgenden: AMS) - aus, dass die Revisionswerberin den Anspruch auf Arbeitslosengeld gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG für den Zeitraum vom 17. Juli bis zum 27. August 2014 verloren habe, weil sie die Annahme einer ihr vom AMS zugewiesenen zumutbaren Beschäftigung vereitelt habe.
1.2. Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass die Revisionswerberin beim potenziellen Dienstgeber zum vereinbarten Vorstellungstermin nicht erschienen sei, sondern unangemeldet erst am nächsten Tag vorgesprochen habe, sich dabei nicht vorgestellt habe, ungeachtet einer soeben im Betrieb des Dienstgebers stattfindenden Besprechung verlangt habe, sofort dranzukommen, und - als ihr angeboten worden sei, fünf Minuten zu warten - den Betriebsinhaber beschimpft und weiter darauf bestanden habe, sofort behandelt zu werden.
Das Verwaltungsgericht gründete die getroffenen Feststellungen im Wesentlichen auf die - als schlüssig und plausibel erachteten - Aussagen des Betriebsinhabers und zweier weiterer Zeugen im Verfahren vor dem AMS. Indessen erachtete es die gegenteilige Darstellung der Revisionswerberin, dass das Vorstellungsgespräch erst für den nächsten Tag vereinbart gewesen sei, die Revisionswerberin bloß vorsorglich bereits am Vortag in den Betrieb des Dienstgebers gekommen sei, um sich über die Richtigkeit der Anschrift zu vergewissern bzw. das pünktliche Erscheinen am Folgetag sicherzustellen, dabei vom Betriebsinhaber im lauten Ton und auf aggressive Art gefragt bzw. angeschrien worden sei, was sie hier suche und wolle, und nach diesbezüglicher Erläuterung darauf hingewiesen worden sei, dass sie zum Bewerbungsgespräch nicht mehr zu kommen brauche, und zum Gehen aufgefordert worden sei und im Hinblick darauf eine (weitere) Bewerbung unterblieben sei, als nicht glaubwürdig.
Von der Durchführung einer - von der Revisionswerberin sowohl in der Beschwerde als auch im Vorlageantrag ausdrücklich beantragten - mündlichen Verhandlung sah das Verwaltungsgericht ab, weil der maßgebliche Sachverhalt geklärt und eine Erörterung mit den Parteien nicht notwendig sei.
1.3. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
2. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch das AMS - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen hat:
3. Die Revisionswerberin macht als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG - unter anderem (auf die sonstigen aufgeworfenen Rechtsfragen braucht nicht mehr eingegangen zu werden) - geltend, das Verwaltungsgericht habe in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen.
Die Revision ist aus dem genannten Grund zulässig und berechtigt.
4.1. Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 Grundrechtecharta entgegenstehen.
Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt (vgl. jüngst 12.1.2018, Ra 2017/08/0109; 13.12.2017, Ra 2017/08/0107; 19.1.2017, Ra 2016/08/0173), gehört es gerade im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer - bei der Geltendmachung von "civil rights" (zu denen auch Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zählen) in der Regel von Amts wegen durchzuführenden - mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen.
4.2. Gegenständlich liegen zu den Gründen, aus denen das vereinbarte Vorstellungsgespräch der Revisionswerberin beim potenziellen Dienstgeber letztlich nicht stattgefunden hat, widersprechende Darstellungen vor (vgl. näher Punkt 1.2.). Diese gegensätzlichen Darstellungen sind prozessrelevant, hängt doch davon ab, ob der Revisionswerberin die (vorsätzliche) Vereitelung der Annahme einer zumutbaren Beschäftigung im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG vorzuwerfen ist (vgl. dazu etwa VwGH 20.10.2010, 2008/08/0244; 15.3.2005, 2003/08/0059; 25.5.2005, 2005/08/0052). Im Hinblick darauf hätte aber das Verwaltungsgericht eine - von der Revisionswerberin auch ausdrücklich beantragte - mündliche Verhandlung durchführen müssen, um durch eine unmittelbare Beweisaufnahme (insbesondere Vernehmung der Revisionswerberin und der Zeugen) eine zuverlässige Klärung herbeizuführen, welche der widersprechenden Versionen als wahr zu erachten ist. Indem das Verwaltungsgericht die Durchführung der gebotenen mündlichen Verhandlung unterlassen hat, hat es seine Entscheidung daher mit einem schwerwiegenden Verfahrensmangel belastet.
4.3. Auf die Relevanz des Verfahrensmangels, der in der Unterlassung der Durchführung einer nach Art. 6 EMRK gebotenen mündlichen Verhandlung liegt, kommt es nicht an (vgl. etwa VwGH 17.11.2017, Ra 2017/08/0111).
5. Da die Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf einer Verkennung der Vorgaben des § 24 VwGVG beruhte, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 24. Juli 2018
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